Intransparente, unkontrollierbare „Deals“ sind im Strafprozess wegen der mit ihnen verbundenen Gefährdung des Schuldprinzips, der darin verankerten Wahrheitserforschungspflicht und des Prinzips des fairen Verfahrens bereits von Verfassungswegen untersagt.
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Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, 2 BvR 1464/11, Rn 22ff) stellte am 5.3.2012 eine Grundrechtverletzung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG fest.
Rn 23 a) Als ein unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens gewährleistet das Recht auf ein faires Verfahren dem Beschuldigten, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde wahrnehmen und Übergriffe der staatlichen Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können (vgl. BVerfGE 38, 105 <111>; 122, 248 <271 f.="">). Soweit sie verfassungsrechtlich nicht bereits anderweitig erfasst werden, stellt das Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren zudem Mindestanforderungen für eine zuverlässige Sachverhaltsaufklärung auf (vgl. BVerfGE 57, 250 <274 f.="">; 70, 297 <308>; 122, 248 <270>).
Rn 24 b) Diesen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 19. April 2011 nicht gerecht. Der Beschluss weicht in einer Weise von den obergerichtlichen Anforderungen an die richterliche Sachaufklärung ab, die verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar ist.
Das Oberlandesgericht hätte nicht von einer weiteren Sachaufklärung absehen und verbleibende Zweifel nicht im Ergebnis zulasten des Beschwerdeführers werten dürfen.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, 2 BvR 2954/09) stellte am 4.12.2012 eine Grundrechtverletzung aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 und 2 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben.
Rn 35) 3. Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts beruht auf der Grundrechtsverletzung. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Verwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 12. Februar 2009 auf und verweist die Sache an das Verwaltungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück. Auf das Vorliegen der weiter gerügten Grundrechtsverletzungen kommt es nicht an.
Bundesverfassungsgericht zum Schuldgrundsatz und Anwendungsvorrang...
Beschluss vom 15. Dezember 2015 (2 BvR 2735/14)
37) 1 Als Rechtsgemeinschaft von derzeit 28 Mitgliedstaaten könnte sie nicht bestehen, wenn die einheitliche Geltung und Wirksamkeit ihres Rechts nicht gewährleistet wäre (vgl. grundlegend EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Costa/ENEL, 6/64, Slg. 1964, S. 1251 <1269 f.="">). Art. 23 Abs. 1 GG enthält insoweit auch ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen für das unionale Recht (vgl. BVerfGE 126, 286 <302>).
43 bb) Um zu verhindern, dass sich deutsche Behörden und Gerichte ohne weiteres über den Geltungsanspruch des Unionsrechts hinwegsetzen, verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Art. 79 Abs. 3 GG zum Schutz der Funktionsfähigkeit der unionalen Rechtsordnung und bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aber, dass die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleibt (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>). Dies wird auch durch die Regelung des Art. 100 Abs. 2 GG unterstrichen, nach der bei Zweifeln, ob eine allgemeine Regel des Völkerrechts Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt, das Bundesverfassungsgericht angerufen werden muss (vgl. BVerfGE 37, 271 <285>). Mit der Identitätskontrolle kann das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) befasst werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <354 f.="">).
55 bb) Der Schuldgrundsatz ist somit zugleich ein zwingendes Erfordernis des Rechtsstaatsprinzips. Das Rechtsstaatsprinzip ist eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes (BVerfGE 20, 323 <331>; 133, 168 <198 55="" rn.="">). Es sichert den Gebrauch der Freiheitsrechte, indem es Rechtssicherheit gewährt, die Staatsgewalt an das Gesetz bindet und Vertrauen schützt (BVerfGE 95, 96 <130>).
57 aa) Die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt, ist zentrales Anliegen des Strafprozesses (vgl. BVerfGE 57, 250 <275>; 118, 212 <231>; 122, 248 <270>; 130, 1 <26>; 133, 168 <199 56="" rn.="">).
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Bundesverfassungsgericht - Weitere Entscheidungen zur Sachverhaltsaufklärung
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16.12.2014, 1 BvR 2142/11
zur unterlassenen Richtervorlage
BGH verletzte Garantie des gesetzlichen Richters
Indem der BGH eine Bestimmung des Planungsschadensrechts im BauGB, welche er für verfassungswidrig hielt, in "unvertretbarer Weise" verfassungskonform ausgelegt und deshalb nicht dem BVerfG vorgelegt hat, hat er nach Ansicht des BVerfG gegen die grundgesetzliche Garantie des gesetzlichen Richters verstoßen. Dies geht aus einem am Dienstag bekannt gegebenen Beschluss aus Dezember vergangenen Jahres hervor.
Unterlassen einer Richtervorlage aufgrund unvertretbarer verfassungskonformer Gesetzesauslegung verletzt die Garantie des gesetzlichen Richters
Bundesverfassungsgericht, Beschluss v. 27.04.2005
Az.: 1 BvR 223/05
Gegenstand des Beschlusses ist die Verletzung der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) durch die Außerachtlassung gemeinschaftsrechtlich begründeter subjektiver Rechte der Veranstalter und Vermittler von Sportwetten im Rahmen von verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren.
Nachweis konkreter Gefahren für das Gemeinwohl erforderlich
Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit von Untersagungsbescheiden ist nur zulässig, wenn im Einzelfall konkrete Gefahren für das Gemeinwohl gegeben sind. Allgemeine Behauptungen zu Gefahren des unerlaubten Glücksspiels begründen kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Untersagungsverfügung. Nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 27.04.2005 reichen die abstrakten Gefahren des Glücksspiels gerade nicht aus, um die Anordnung der sofortigen Vollziehung zu rechtfertigen.
Quelle: Rechtsgutachten Prof. Widmaier, S. 40ff199>26>270>231>275>130>198>331>354>285>354>302>1269>270>308>274>271>111>
BUNDESFINANZHOF, Beschluss vom 4.6.2012, VI B 10/12
Verfahrensmangel wegen unvollständiger Sachverhaltsaufklärung
Zum Vorliegen eines Verfahrensmangels wegen unvollständiger Sachverhaltsaufklärung
Dabei hat es den entscheidungserheblichen Sachverhalt so vollständig wie möglich und bis zur Grenze des Zumutbaren, d.h. unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel, aufzuklären.
BUNDESFINANZHOF, Urteil vom 24.10.2013, V R 17/13
Es ist alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften "auszuschalten", die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden (EuGH-Urteil vom 26. Februar 2013 C-617/10, Fransson, Neue Juristische Wochenschrift 2013, 1415, Rdnr. 45 f).
Bundesgerichtshof, Urteil des VIII. Zivilsenats vom 18.2.2015 - VIII ZR 186/14 –
Zur Kündigung wegen Zigarettengeruchs im Treppenhaus
Im Streitfall war dem Bundesgerichtshof allerdings eine Beurteilung, ob eine die fristlose Kündigung gemäß § 569 Abs. 2 BGB* rechtfertigende "nachhaltige Störung des Hausfriedens" oder auch nur eine die ordentliche Kündigung nach § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB** rechtfertigende "schuldhafte nicht unerhebliche Verletzung vertraglicher Pflichten des Mieters" vorlag, nicht möglich, weil die vom Berufungsgericht vorgenommene Würdigung auf einer lückenhaften und unter Verletzung prozessualer Vorschriften erfolgten Tatsachenfeststellung beruhte.
Bundesgerichtshof, 11.11.2014 - VI ZR 76/13 - Leitsatzentscheidung
Widersprüche in Gutachten im Arzthaftungsprozess müssen durch Tatrichter aufgeklärt werden
Tatrichter darf ohne nachvollziehbare Begründung keinem Gutachten den Vorzug geben
Widersprechen sich in einem Arzthaftungsprozess mehrere Gutachten, so muss der Tatrichter die Widersprüche aufklären, selbst wenn es sich um Privatgutachten handelt. Ohne eine nachvollziehbare Begründung darf der Tatrichter keinem Gutachten den Vorzug geben.
In dem zugrunde liegenden Fall wiesen sowohl das Landgericht Heidelberg als auch das Oberlandesgericht Karlsruhe eine Schadenersatzklage im Rahmen eines Arzthaftungsprozesses ab. Das Oberlandesgericht stützt sich dabei auf ein gerichtliches Sachverständigengutachten. Ohne nähere Begründung ließ das Gericht die entgegenstehenden Ausführungen eines Privatgutachters unberücksichtigt. Es kam daher zur Einlegung der Revision.
Widersprüche in Gutachten müssen aufgeklärt werden
Der Bundesgerichtshof führte zum Fall aus, dass in Arzthaftungsprozessen der Tatrichter verpflichtet sei, Widersprüchen zwischen Äußerungen mehrerer Sachverständiger von Amts wegen nachzugehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Dies gelte auch dann, wenn es sich um Privatgutachten handelt. Steht ein medizinisches Gutachten einer Partei im Gegensatz zu den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständigen, so dürfe der Tatrichter den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt. Diese Grundsätze habe das Oberlandesgericht nicht beachtet.
Fehlende Dokumentation von aufzeichnungspflichtigen Maßnahmen spricht für Unterbleiben der Maßnahmen
Zudem verwies der Bundesgerichtshof darauf, dass das Fehlen der Dokumentation einer aufzeichnungspflichtigen Maßnahme dafür spricht, dass die Maßnahme unterblieben ist. Diese Vermutung entfällt nicht deshalb, weil in der Praxis mitunter der Pflicht zur Dokumentation nicht nachgekommen wird oder die Dokumentation insgesamt lückenhaft ist.
Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückweisung des Falls zur Neuverhandlung
Der Bundesgerichtshof hob das Urteil des Oberlandesgerichts auf und wies den Fall zur Neuverhandlung zurück.
Bundesgerichtshof, 21.03.2013 zu Az. V ZR 204/12
Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung
In seiner Entscheidung vom 21.03.2013 zu Az. V ZR 204/12 sah der Bundesgerichtshof in der fehlenden Beschäftigung mit den Feststellungen des Privatgutachtens eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), weil die durch das Gutachten aufgeworfenen Fragen nicht aufgeklärt wurden.
Bei relevanten Widersprüchen zwischen einem Gerichtsgutachten und einem Privatgutachten muss sich das zur Entscheidung berufene Gericht von Amts wegen mit dem Privatgutachten auseinander setzen und die durch dieses vorgetragenen Tatsachen berücksichtigen.
5 Das angefochtene Urteil ist nach § 544 Abs. 7 ZPO aufzuheben, weil das Berufungsgericht den Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat, indem es die Ausführungen des vom ihm vorgelegten Privatgutachtens nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt und es rechtsfehlerhaft unterlassen hat, die darin aufgeworfenen Fragen aufzuklären. Dies hat seine Ursache in einer unzulässigen Beweisantizipation, da das Berufungsgericht diesen Fragen im Hinblick auf seine bereits gewonnene Entscheidung kein Gewicht mehr beigemessen hat (vgl. BVerfG, NJW-RR 2001, 1006, 1007).
6 1. Der Bundesgerichtshof hat wiederholt ausgesprochen, dass der Tatrichter allen Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen von Amts wegen nachzugehen hat; insbesondere hat er Einwendungen einer Partei gegen das Gutachten eines gerichtlichen Sachverständigen zu berücksichtigen und ist verpflichtet, sich mit von der Partei vorgelegten Privatgutachten auseinander zu setzen und auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken, wenn sich ein Widerspruch zum Gerichtsgutachten ergibt (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2009 – IV ZR 57/08, NJW-RR 2009, 1192, 1193 Rn. 7; Beschluss vom 12. Januar 2011 – IV ZR 190/08, NJW-RR 2011, 609 Rn. 5 jeweils mwN). Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht nicht beachtet.
7 1. Der Bundesgerichtshof hat wiederholt ausgesprochen, dass der Tatrichter allen Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen von Amts wegen nachzugehen hat; insbesondere hat er Einwendungen einer Partei gegen das Gutachten eines gerichtlichen Sachverständigen zu berücksichtigen und ist verpflichtet, sich mit von der Partei vorgelegten Privatgutachten auseinander zu setzen und auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken, wenn sich ein Widerspruch zum Gerichtsgutachten ergibt (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2009 – IV ZR 57/08, NJW-RR 2009, 1192, 1193 Rn. 7; Beschluss vom 12. Januar 2011 – IV ZR 190/08, NJW-RR 2011, 609 Rn. 5 jeweils mwN). Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht nicht beachtet.
LAG Niedersachen (Beschluss vom 14.10.2014 – 5 Ta 373/14)
Die Anordnung des persönlichen Erscheinens gemäß §§ 51 Abs. 1 S. 1 ArbGG, 141 Abs. 1 ZPO ergänzt regelmäßig die Verpflichtung des Gerichtes zur materiellen Prozessleitung gemäß § 139 ZPO und zur Sachverhaltsaufklärung unter besonderer Berücksichtigung des § 138 ZPO, nämlich der Verpflichtung der Parteien, über tatsächliche Umstände wahrheitsgemäß und vollständig Erklärungen abzugeben (§ 138 Abs. 1 ZPO).
Zum Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) führte das BUNDESVERWALTUNGSGERICHT mit dem BESCHLUSS noch am 27. September 2012, wie folgt aus:
BVerwG: 8 B 65.12
2 Dieser Anspruch verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, soweit sie entscheidungserheblich sind (BVerfG, Beschluss vom 17. November 1992 - 1 BvR 168/89 u.a. - BVerfGE 87, 363 <392 f.=""> m.w.N.; BVerwG, Urteile vom 29. November 1985 - BVerwG 9 C 49.85 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 177 m.w.N. und vom 20. November 1995 - BVerwG 4 C 10.95 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 367).
Eine Verletzung des Anspruchs ist allerdings nur dargetan, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (BVerfG, Beschluss vom 10. Juni 1975 - 2 BvR 1086/74 - BVerfGE 40, 104 <104 f.="">). Dazu muss das Gericht nicht auf sämtliches Tatsachenvorbringen und alle Rechtsauffassungen eingehen, die im Verfahren von der einen oder anderen Seite zur Sprache gebracht worden sind (BVerfG, Beschluss vom 5. Oktober 1976 - 2 BvR 558/75 - BVerfGE 42, 364 <373>). Nur der wesentliche Kern des Tatsachenvorbringens einer Partei, der nach der materiellrechtlichen Auffassung des Gerichts von zentraler Bedeutung für den Ausgang des Verfahrens ist, muss in den Gründen der Entscheidung behandelt werden (Urteil vom 20. November 1995 a.a.O.). Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG ist dann festzustellen und gegeben, wenn auf den Einzelfall bezogene Umstände deutlich ergeben, dass das Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (BVerfG, Beschlüsse vom 1. Februar 1978 - 1 BvR 426/77 - BVerfGE 47, 182 <187 f.=""> und vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <146>). Solche Umstände sind vorliegend nicht erkennbar.146>187>373>104>392>
EuGH zur Reichweite der EU-Grundrechte-Charta
Anmerkungen zu den Schlussanträgen in der Rs. Gauweiler (C-62/14)
Mit den Schlussanträgen in der Rs. Gauweiler (C-62/14) geht der Generalanwalt Villalón über die Urteile Fransson und Pfleger hinaus, und macht in seinen Ausführungen klar, dass die Beurteilung ein und derselben Sachfrage gerade nicht mit zweierlei Maßstab, einmal dem nationalen Recht und einmal den europäischen Verträgen gemessen werden kann. Im Hinblick auf den Wandel der Union von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Wertegemeinschaft betont er:
Die Aufgabe der „Wahrung dieser Union“ sei unerfüllbar, „wenn man sie in Gestalt einer als „Verfassungsidentität“ bezeichneten Kategorie einem absoluten Vorbehalt unterstellen will“.Europa, so sein Fazit, könne nicht ins Ermessen eines Mitgliedstaates gestellt werden.
Villalón verweist entsprechend auf das vom EuGH erarbeitete Institut der „gemeinsamen Verfassungstraditionen“ und ersetzt nationale Vorbehalte somit durch die Grundrechte der Union als verfassungsstiftende Werte.
Hinsichtlich des Schicksals der Antworten des EuGH verweist der Generalanwalt vorsorglich auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und verschließt Karlsruhe mithin auch den Weg, die Antworten aus Luxemburg als nicht entscheidungserheblich anzusehen.
Dabei führt er aus, dass er darauf vertraue,
„dass das nationale Gericht in Anbetracht und unter Berücksichtigung der Antwort, die es vom Gerichtshof auf seine Vorlagefrage erhalten hat, unbeschadet der Wahrnehmung seiner eigenen Verantwortung diese Antwort als für im Ausgangsverfahren maßgeblich erachten werde“.Analyse der Schlussanträge Rs. Gauweiler u.a. C-62/14
Nach Art. 4 Abs, 3 S. 3 EUV sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, das Unionsrecht, inbegriffen die Grundfreiheiten, zu wahren. Um die einheitliche und volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu sichern, sind unionsrechtswidrige mitgliedstaatliche Regelungen nicht nur unmittelbar zu beseitigen, sondern dürfen aufgrund des Anwendungsvorrangs auch nicht weiter angewendet werden.
(vgl. u.a. EuGH, Rs. C-409/06, Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015, Rn. 53-69)
Der EuGH führt in seinem Urteil (C-409/06) vom 8. September 2010 unter der Rn 58 weiter aus:
„Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nach ständiger Rechtsprechung ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt, in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist und auch in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bekräftigt worden ist, und dass die Gerichte der Mitgliedstaaten insoweit in Anwendung des in Art. 10 EG niedergelegten Grundsatzes der Zusammenarbeit den Schutz der Rechte zu gewährleisten haben, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsen (Urteil vom 13. März 2007, Unibet, C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Randnrn. 37 und 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).“
Anmerkungen zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 30. April 2014 (EuGH C-390/12 - Pfleger)
Aufsätze:
Ein weiterer Schritt zum unitarischen Grundrechtsschutz?
Das Pfleger-Urteil des EuGH
Mi 7. Mai 2014 Christopher Unseld
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zeigt sich unbeeindruckt von der Kritik an seiner expansiven Rechtsprechung zum Anwendungsbereich der Grundrechte in Åkerberg Fransson. Stattdessen hat sich die dritte Kammer des EuGH in der Rechtsache Pfleger weiter vom engen Wortlaut der EU-Grundrechtecharta emanzipiert. Die Charta sieht in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 vor, dass sie für die Mitgliedsstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt. Im Urteil vom 30. April 2014 versteht der EuGH hierunter auch Konstellationen, bei denen ein Mitgliedsstaat von den Grundfreiheiten abweichen will.
Damit hält sich der Gerichtshof eine weitere Möglichkeit offen, nur entfernt mit dem Unionsrecht verbundene Sachverhalte seinem Grundrechtsschutz zu unterstellen.
Nimmt ein Mitgliedsstaat Ausnahmen des Unionsrechts in Anspruch, um Beschränkungen der Grundfreiheiten zu rechtfertigen, so ist dies als "Durchführung des Rechts der Union" im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen. (vgl. Schlußanträge der Generalanwältin vom 14. Nov. 2013, Rs. C-390/12, Rn. 34 ff)
Die Ausnahmeregelung fällt selbst in den Geltungsbereich des Unionsrechts.
Die Klagebefugnis der Betreiber von Glücksspielautomaten, die sich in einem Gerichtsverfahren gegen nationale Beschränkungen ihrer unionsrechtlichen Grundfreiheiten zur Wehr setzen wird durch den vorliegenden Spruch der Kammer dogmatisch neu definiert.
Mit dem Urteil werden dem Glücksspielunternehmer subjektive Rechte unmittelbar aus den Grundrechten eingeräumt. Schutzobjekt ist nicht mehr ausschließlich die Freiheit des Marktes für Glücksspiele, sondern das Individualinteresse in Form von grundrechtlichen Abwehrrechten.
(vgl. Hakenberg, Europarecht, 6 Aufl. 2012)
Der Glücksspielunternehmer ist nicht mehr darauf beschränkt, sich zum Schutz seiner Interessen auf die besonderen Marktfreiheiten des Unionsrechts als drittschützende Normen berufen zu müsssen,
(vgl. 15 Schmidt, Die Stellung des Konkurrenten im Verwaltungsprozess, Jus 1999, 1107 (1118); EuGH, EuZW 1995, 635 (636)) ihm steht nunmehr auch eine originäre Rechtsposition aus den Grundrechten zur Verfügung.
Das Urteil steht im Kontext des Wandels der EU von einer Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einer Wertegemeinschaft.
Quelle: Norbert Krewer, Saarburg-Kahren, ZfWG 6.14
Anmerkungen zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 26. Februar 2013 (EuGH C-617/10 - Fransson)
Aufsätze:
HRRS 2013 Nr. 335
Wer hat das letzte Wort?
„Rechtspluralismus in der Europäischen Rechtsgemeinschaft“
Grundrechte im Mehrebenensystem
Die vom BVerfG angestrebte exakte Aufteilung in eine rein nationale sowie eine unionsrechtliche Grundrechtsebene scheint angesichts der aktuellen Rechtsprechung des EuGH und den europäischen Bemühungen, einen einheitlichen Grundrechtsstandard in allen Mitgliedsstaaten zu schaffen, in dieser Deutlichkeit nicht länger haltbar.
Die Frage, inwieweit die durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, wurde durch das EuGH Urteil Pfleger (C-390/12) vom 30. April 2014 abschließend beantwortet, indem festgestellt wurde, dass das Urteil Fransson (C-617/10) grundsätzliche Aussagen zur Einhaltung der Grundrechtecharta enthalte und sich somit nicht auf das Umsatzsteuerrecht beschränkt.(vgl. BVerfG 1 BvR 1215/07; s.a. Kampfansagen gegen den EuGH)Dazu führt der EuGH im Urteil Pfleger (C-390/12) wie folgt aus:
31 Insoweit ist daran zu erinnern, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in Art. 51 Abs. 1 der Charta definiert ist. Danach gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Urteil Åkerberg Fransson, C-617/10, EU:C:2013:105, Rn. 17).weiterlesen
32 Diese Bestimmung der Charta bestätigt also die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der Frage, inwieweit das Handeln der Mitgliedstaaten den Anforderungen genügen muss, die sich aus den in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechten ergeben (Urteil Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rn. 18).
33 Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich im Wesentlichen, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass er eine nationale Rechtsvorschrift nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen kann, wenn sie nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Sobald dagegen eine solche Vorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, hat der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene Gerichtshof dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert (Urteil Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rn. 19).
34 Da folglich die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte (Urteil Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rn. 21).
Damit kann man fast jedes Verhalten zumindest potentiell als relevant für die Grundfreiheiten bezeichnen, da es unmöglich wird, einen von EU-Grundrechten mit Sicherheit unantastbaren Bereich zu bestimmen.
Zur Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gehört die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. (BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04, PM)
Art. 20 Abs. 3 GG
Zu diesem dort genannten Recht gehört auch das Völkerrecht nach Art. 25 GG*, das nach dieser Bestimmung sogar dem Bundesrecht im Rang vorgeht.
Danach ist das Völkerrecht Bestandteil des deutschen Bundesrechts.
Art. 23 GG
(1) 1Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. 2Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. 3Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3.
(s.u.)
Art. 25 GG
Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.
Im Hinblick auf Art. 6 der [europäischen] Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), wonach jedermann Anspruch darauf hat, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht;
im Hinblick auf die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im November 1985 gebilligten Grundsätze über die Unabhängigkeit der Richter;
mit Bezug auf die Empfehlung Nr. R (94)12 des Ministerrats über die Unabhängigkeit und Wirksamkeit und die Rolle der Richter;
im Bestreben, die für die Vorherrschaft des Rechts und den Schutz der Menschenrechte im demokratischen Rechtsstaat nötige Unabhängigkeit der Richter und Richterinnen zu stärken;
im Bewußtsein der Notwendigkeit, allen europäischen Staaten ein Instrument an die Hand zu geben, durch welches die besten Garantien für die Kompetenz, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richterinnen und Richter präzisiert werden;
in der Hoffnung, daß die Richterstatute der verschiedenen Staaten diese Regelungen beherzigen, um das höchstmögliche Niveau an Garantien zu gewährleisten,
haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der vom Europarat organisierten internationalen Versammlung in Straßburg vom 8. bis 10. Juli 1998 diese Europäische Charta über das Richterstatut beschlossen.
Charta der Grundrechte der Europäischen Union
wikipedia
Amtsblatt der Europäschen Union C 83 vom 30. März 2010
Art. 47 GRCh Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und unparteiisches Gericht
Art. 48 GRCh Unschuldsvermutung Beweis der Schuld
Art. 49 GRCh Grundsätze der Gesetzmäßigkeit - keine Verurteilung für Taten die nach nationalem oder internationalem Recht nicht strafbar war
Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Art. 47 Abs. 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union. mehr
Europäische Menschenrechtskonvention
wikipedia
vgl. u.a.:
Art. 6 EMRK Recht auf ein faires Verfahren
Art. 7 EMRK Keine Strafe ohne Gesetz
Art. 13 EMRK einer wirksamen Beschwerde
UN – Resolution 217 a vom 10.12.1948
Artikel 8
Jeder hat Anspruch auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei den zuständigen innerstaatlichen Gerichten gegen Handlungen, durch die seine ihm nach der Verfassung oder nach dem Gesetz zustehenden Grundrechte verletzt werden.
Artikel 10
Jeder hat bei der Feststellung seiner Rechte und Pflichten sowie bei einer gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Beschuldigung in voller Gleichheit Anspruch auf ein gerechtes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht.
Artikel 11
1. Jeder, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, hat das Recht, als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.
2. Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine schwerere Strafe als die zum Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.
Art. 47 GRC, 19 I 2 EUV/6 und 13 EMRK (teilweise): Recht auf effektiven Rechtsschutz und
faires, vor allem auch zügiges Gerichtsverfahren
Grundrechte in der Europäischen Union
Charta der Grundrechte und Allgemeine Rechtsgrundsätze
Von Professor Dr. Hans-Werner Rengeling
und Dr. Peter Szczekalla (pdf-download)
Die EU-Grundrechtecharta: Anwendbarkeit und Auslegung (pdf-download)
GRC Artikel 47 Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht
Philipp Voet van Vormizeele Schwarze, EU-Kommentar
Jürgen Meyer (Hrsg.): Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union. (pdf-download)
§ 839 BGB Haftung bei Amtspflichtverletzung(1) Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Fällt dem Beamten nur Fahrlässigkeit zur Last, so kann er nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der Verletzte nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag.
(2) Verletzt ein Beamter bei dem Urteil in einer Rechtssache seine Amtspflicht, so ist er für den daraus entstehenden Schaden nur dann verantwortlich, wenn die Pflichtverletzung in einer Straftat besteht. Auf eine pflichtwidrige Verweigerung oder Verzögerung der Ausübung des Amts findet diese Vorschrift keine Anwendung.
(3) Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Verletzte vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden.
OLG Koblenz (Urteil – 1 U 1588/01) vom 17.07.2002
Aus den Entscheidungsgründen:
Für die Beurteilung des Verschuldens im Sinne des § 839 BGB gilt ein objektivabstrakter Sorgfaltsmaßstab. Danach kommt es auf die Kenntnisse und Einsichten an, die für die Führung des übernommenen Amtes im Durchschnitt erforderlich sind, nicht aber auf die Fähigkeiten, über die der Beamte tatsächlich verfügt.
Dabei muss jeder Beamte die zur Führung seines Amts notwendigen Rechts- und Verwaltungskenntnisse besitzen oder sich diese verschaffen.(Tremml/Karger, Der Amtshaftungsprozess, Rn. 162, 165, 169; Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht, Rn. 182; BGH, VersR 1989, 184, BGH, NJW-RR 1992, 919).
Ein besonders strenger Sorgfaltsmaßstab gilt für Behörden, die wie die Finanzämter durch den Erlass von Bescheiden selbst vollstreckbare Titel schaffen.
Eine objektiv unrichtige Gesetzesauslegung oder Rechtsanwendung ist schuldhaft, wenn sie gegen den klaren und eindeutigen Wortlaut der Norm verstößt oder wenn aufgetretene Zweifelsfragen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung, sei es auch nur in einer einzigen Entscheidung, geklärt sind.
Staatshaftung in Europa: Nationales und Unionsrecht
Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Haftung der Mitgliedstaaten wegen Verstoßes gegen das EU-Recht
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Wie der Europäische Gerichtshof in der Rs Naderhirn (C-581/14) ausdrücklich vorgibt, hat jedes Organ eines Mitgliedsstaates, wie z.B.: Staatsanwaltschaften, Polizei und Verwaltung, einschl. der Gerichtsbarkeit dieser Verpflichtung nachzukommen (Rn 31) und für die volle Wirksamkeit der Normen zu sorgen. (Rn 32, 33)
Quelle: http://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?td=ALL&language=de&jur=C,T,F&num=C-581/14
Gemäß dem Solange II-Beschluss des BVerfG (Az: 2 BvR 197/83) obliegt die Überprüfung der Freiheitsgrundrechte dem EuGH, der daher auch für den Grundrechtsschutz der Bürger der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Akten der deutschen öffentlichen Gewalt, die aufgrund von Sekundärrecht ergehen, zuständig ist. (BVerfGE 89, 155; 175; 102, 147; 163)
Der Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts beruht laut BVerfG auf einer ungeschriebenen Norm des primären Unionsrechts.
Durch das Zustimmungsgesetz(2) zu den Unionsverträgen und Art. Art. 23,1 GG (s.o) sei dieser ungeschriebenen Norm in zulässiger Weise der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden.
Dieser Rechtsanwendungsbefehl bewirkt erst konstitutiv den Anwendungsvorrang des Unionsrechts. (1)
Durch das Zustimmungsgesetz(2) zum Vertrag von Lissabon stimmte die Bundesrepublik auch der Erklärung Nr. 17 zum Vorrang des Unionsrechts zu. (3)
Hiermit verpflichtet sich die Bundesrepublik nun durch eine einseitige völkerrechtlich verbindliche Erklärung, dem Unionsrecht Vorrang vor nationalem Recht zu gewähren.
Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, der “Verfassungsurkunde der Gemeinschaft” zum 1. Dezember 2009 wurde die neue Europäische Union geschaffen und die EU-Grundrechtecharta rechtsverbindlich.
Alle Organe der Union und der Mitgliedstaaten haben in Anwendung des Unionsrechts die sich daraus ergebenden Grundrechte einzuhalten.
http://de.wikipedia.org/wiki/Grundrechte_(EU)
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten enthält einen Katalog von Grundrechten und Menschenrechten (Konvention Nr. 005 des Europarats). Über ihre Umsetzung wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
http://de.wikipedia.org/wiki/Europäische_Menschenrechtskonvention
Zur Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gehört die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. (BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04).
___________________________________
1) BVerfGE 75, 223, 244 (“Kloppenburg”) (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 4), S. 339).s.u.
2) BGBl. II 2008 S. 1038
1038 Bundesgesetzblatt Jahrgang 2008 Teil II Nr. 27, ausgegeben zu Bonn am 14. Oktober 2008
https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl208s1038.pdf%27%5D__1501698535517
https://dejure.org/BGBl/2008/BGBl._II_S._1038
BVerfG, 123, 267 (“Lissabon”) (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 4), S. 67).
http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2009/bvg09-072.html
http://www.jura.uni-augsburg.de/de/lehrende/professoren/rensmann/lehre/SS-2014/Fallbesprechungen-zum-Europarecht/Downloads/Fall-5/Fall-5-Loesung.pdf
der Erklärung Nr. 17 zum Vorrang des Unionsrechts s. S. 331
http://europedirect-lueneburg.eu/images/PDF/lissabon.pdf
3) Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. 2012, S. 86.
17. Erklärung zum Vorrang
Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben.
Darüber hinaus hat die Konferenz beschlossen, dass das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates zum Vorrang in der Fassung des Dokuments 11197/07 (JUR 260) dieser Schlussakte beigefügt wird:
"Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates vom 22. Juni 2007
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Vorrang des EG-Rechts einer der Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts. Dem Gerichtshof zufolge ergibt sich dieser Grundsatz aus der Besonderheit der Europäischen Gemeinschaft. Zum Zeitpunkt des ersten Urteils im Rahmen dieser ständigen Rechtsprechung (Rechtssache 6/64, Costa gegen ENEL, 15. Juli 1964 1) war dieser Vorrang im Vertrag nicht erwähnt. Dies ist auch heute noch der Fall. Die Tatsache, dass der Grundsatz dieses Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, ändert nichts an seiner Existenz und an der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs."
Fußnote: "Aus (...) folgt, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll."
http://www.flegel-g.de/Erklaerung.html
BVerfGE 75, 223 - Kloppenburg-Beschluß
Bundesverfassungsgericht
Beschluß
8. April 1987
Zur Bindungswirkung von Vorabentscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
Beschluß
des Zweiten Senats vom 8. April 1987
– 2 BvR 687/85 –
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau K... ...
Das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 25. April 1985 - V R 123/ 84 - verstößt gegen Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an den Bundesfinanzhof zurückverwiesen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
A. – I.
1. Die Beschwerdeführerin betreibt eine Kredit- und Hypothekenagentur. Für die von ihr im ersten Halbjahr 1978 aus Kreditvermittlungsgeschäften erzielten Umsätze stellte sie als Kleinunternehmerin ihren Kunden Umsatzsteuer nicht gesondert in Rechnung. In ihrer Umsatzsteuererklärung nahm sie für diese Umsätze Steuerfreiheit in Anspruch. Sie berief sich hierfür auf § 4 Nr. 8 Buchst. A des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1980 i.V.m. Art. 1 und Art. 13 Teil B Buchst. d Nr. 1 der Sechsten Richtlinie des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG), veröffentlicht am 13. Juni 1977 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (Abl. EG) Nr. L 145/1 (im folgenden: Sechste Umsatzsteuerrichtlinie).
Art. 13 Teil B Buchst. d der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie hat folgenden Wortlaut:
"Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten ... von der Steuer:
...
d) die folgenden Umsätze:
1. die Gewährung und Vermittlung von Krediten und die Verwaltung von Krediten durch Kreditgeber,
2. - 6. ..."
Die Bundesrepublik Deutschland war der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie mit Erlaß des § 4 Nr. 8 Buchst. a UStG 1980 vom 26. November 1979 (BGBl. I S. 1953) erst mit Wirkung ab 1. Januar 1980 nachgekommen, obwohl sie gemäß Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie verpflichtet war, dies schon bis zum 1. Januar 1978, nach einer
späteren Änderung gemäß Art. 1 der Neunten Umsatzsteuerrichtlinie vom 26. Juni 1978 (78/583/EWG) (ABl. EG Nr. L 194/16 vom 19. Juli 1978) jedenfalls bis zum 1. Januar 1979 zu bewirken. Wegen der verzögerten Durchführung
der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie hatte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 169 EWGV ein Vertragsverletzungsverfahren
eingeleitet, das später zurückgenommen wurde (vgl. Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 1-1980, Ziff. 2.3.27 am Ende).
Das zuständige Finanzamt verneinte die Steuerfreiheit der in Rede stehenden Umsätze; es unterwarf sie durch Bescheid vom 3. Juli 1980 der Umsatzsteuer nach Maßgabe des Umsatzsteuergesetzes 1967/1973 (BGBl.
1973 I S. 1682) zum allgemeinen Steuersatz.
2. Mit Sprungklage verfolgte die Beschwerdeführerin ihr Begehren auf Steuerfreiheit für Kreditvermittlungsumsätze des ersten Halbjahres 1978 weiter. Sie stützte sich dabei in erster Linie auf die zu ähnlichen
Fällen ergangenen Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Januar 1982 (Rechtssache [RS] 8/81, Sammlung [Slg.] 1982, S. 53) und vom 10. Juni 1982 (RS 255/81, Slg. 1982, S. 2301). Sie hatten für Recht erkannt, daß
sich ein Kreditvermittler ab 1. Januar 1979 auf die Bestimmung über die Steuerfreiheit der Umsätze aus Kreditvermittlung in Art. 13 Teil B Buchst. d Nr. 1 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie bei deren nicht fristgerechter
Durchführung berufen konnte, sofern er diese Steuer nicht auf seine Leistungsempfänger abgewälzt hatte; der betroffenen Staat könne nicht entgegenhalten, daß die Richtlinie nicht durchgeführt worden sei.
Das Finanzgericht hat mit Beschluß vom 3. März 1983 (RIW/ AWD 1983, S. 524) dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 177 Abs. 2 EWGV folgende Frage vorgelegt:
"Konnte sich ein Kreditvermittler in der Zeit vom 1. Januar 1978 bis zum 30. Juni 1978 auf die Bestimmung über die Umsatzsteuerfreiheit der Umsätze aus der Kreditvermittlung
in Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 1 der Sechsten Richtlinie 77/388 des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem:
einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage - bei nicht erfolgter Durchführung der Richtlinie berufen, wenn er diese Steuer nicht auf seine Leistungsempfänger abgewälzt hatte, obwohl durch Artikel 1 der Neunten
Richtlinie 78/583 des Rates vom 26. Juni 1978 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern die dort genannten Mitgliedstaaten ermächtigt worden sind, die Richtlinie 77/388 spätestens
am 1. Januar 1979 zur Anwendung zu bringen?"
Unter Hinweis auf seine erwähnten Urteile entschied der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 22. Februar 1984 (RS 70/83, Slg. 1984, S: 1075 [1087]):
"Solange die Sechste Richtlinie 77/388 des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche
steuerpflichtige Bemessungsgrundlage - nicht durchgeführt war, konnte ein Kreditvermittler sich für Umsätze zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 1978 auf die Bestimmung über die Steuerbefreiung gemäß Artikel 13 Teil
B Buchstabe d Nummer 1 dieser Richtlinie berufen, wenn er diese Steuer nicht auf seine Leistungsempfänger abgewälzt hatte."
Das Finanzgericht hat daraufhin mit Urteil vom 11. Mai 1984 dem Begehren der Beschwerdeführerin entsprochen und die Umsatzsteuer für 1978 herabgesetzt; es hielt sich an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
für gebunden.
3. Auf die Revision des Finanzamts hob der Bundesfinanzhof mit Urteil vom 25. April 1985 die Entscheidung des Finanzgerichts wegen Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 3 und 24 Abs. 1 GG auf und wies die Klage ab.
a) Der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sei für das Umsatzsteuerrecht nicht das Hoheitsrecht übertragen worden, Recht mit unmittelbarer Wirkung im Inland im Rahmen der Rechtsangleichung gemäß Art. 99, 100, 189 EWGV zu setzen. Deshalb sei gemäß Art. 20 Abs. 3 GG das Umsatzsteuergesetz 1967/1973 für das Jahr
1978 anzuwenden gewesen; dem habe die Bindung an das genannte Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 22. Februar 1984 nicht entgegengestanden.
aa) Nach Art. 24 Abs. 1 GG könne die Bundesrepublik Deutschland "durch Gesetz" Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. Dem Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag müsse das Ausmaß
der Hoheitsrechtsübertragung entnommen werden. Diese Prüfung falle in die Zuständigkeit des Prozeßgerichts, dem es obliege, das anzuwendende Recht zu ermitteln und auszulegen.
Das Prozeßgericht habe im Rahmen der Auslegung dieses Gesetzes zu entscheiden, ob Rechtsakte der Organe der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im staatlichen Bereich wirkten; dies gelte insbesondere für
die Frage, ob Richtlinien "ähnliche Wirkungen" wie Verordnungen entfalteten und ob Rechtsbürger der Gemeinschaft sich auf dafür geeignete Bestimmungen von Richtlinien berufen könnten. Aus Art. 177 EWGV ergebe
sich nichts Gegenteiliges, da durch Vorabentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs allein der Inhalt des Gemeinschaftsrechts festgestellt werde.
bb) Die gemäß Art. 20 Abs. 3 GG bestehende Bindung der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt an Gesetz und Recht der Bundesrepublik Deutschland umfasse auch die Bindung an Rechtsnormen, die von der
Europäischen Gemeinschaft zu unmittelbarer Geltung innerhalb der Mitgliedstaaten bestimmt seien, wenn und soweit der Gemeinschaft gemäß Art. 24 Abs. 1 GG durch Gesetz das Hoheitsrecht übertragen worden sei, Recht mit unmittelbarer
Geltung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu setzen.
Da die Öffnung des innerstaatlichen Bereiches für das autonome Gemeinschaftsrecht zugleich eine materielle Verfassungsänderung bedeute, sei der Gesetzesvorbehalt des Art. 24 Abs. 1 GG strikt zu verstehen:
Nach der Hoheitsrechtsübertragung eintretende Rechtsentwicklungen in der zwischenstaatlichen Einrichtung seien durch das deutsche Zustimmungsgesetz nur gedeckt, soweit dieses auch dafür bereits
Hoheitsrechte übertragen habe, also künftige Entwicklungen hinreichend bestimmbar normiert seien; nur dann sei ein neuerliches Zustimmungsgesetz entbehrlich.
cc) Das deutsche Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag habe der Europäischen Gemeinschaft für die Umsatzsteuer nicht das Hoheitsrecht übertragen, Recht mit unmittelbarer Geltung im Inland zu setzen; dies ergebe
sich aus dem EWG-Vertrag, wie er Bestandteil dieses Gesetzes geworden sei.
Zu den Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft gehöre gemäß Art. 99 EWGV die Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Umsatzsteuerrechts; sie habe gemäß Art. 99, 100 EWGV durch den Erlaß von Richtlinien zu
erfolgen. Richtlinien dienten einer zweistufigen Rechtsetzung: Auf der ersten Stufe werde der Inhalt des zu harmonisierenden Rechts und die Frist zur Umsetzung durch die Mitgliedstaaten festgelegt; auf der zweiten Stufe hätten
die Mitgliedstaaten die an sie gerichteten Richtlinien innerhalb der ihnen gesetzten Frist in staatliches Recht umzusetzen. Mit der Zustimmung zu diesem Weg der Rechtsangleichung auf dem Gebiet des Umsatzsteuerrechts und zu
Art. 189 Abs. 3 EWGV habe demnach nicht die Kompetenz übertragen werden sollen, Richtlinien - auch nicht im Wege der Rechtsfortbildung - "ähnliche Wirkungen" beizulegen wie Verordnungen. Von diesem Verständnis
des Art. 189 EWGV seien die vertragschließenden Parteien im Jahre 1957 ausgegangen. Auf dieser Auffassung beruhe auch Art. 2 Satz 2 des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag, der zwischen Beschlüssen des Rates unterscheide,
durch die innerstaatliche Gesetze erforderlich würden, und solchen, durch die unmittelbar geltendes Recht geschaffen werde. Dies werde auch aus den Erläuterungen der Bundesregierung bei der Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes
zum EWG-Vertrag deutlich; in der Bundestagsdrucksache 3440 vom 4. Mai 1957 heiße es in Anlage C zu Art. 189 EWGV: "Richtlinien sind für den einzelnen nicht unmittelbar verbindlich. Sie werden es erst durch die von den Mitgliedstaaten zur Ausführung dieser Richtlinien erlassenen Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsmaßnahmen ...". Auch der französische Staatsrat sei in seiner Entscheidung vom 22.
Dezember 1978 (= EuR 1979, S. 292 ff.) zu einem entsprechenden Verständnis des Art. 189 Abs. 3 EWGV gelangt.
dd) Art. 20 Abs. 3 GG gestatte auch nicht, das Umsatzsteuergesetz 1967/1973 bei der Rechtsschutzgewährung durch Anerkennung eines subjektiven materiellen oder prozessualen Rechts des Einzelnen außer Anwendung
zu lassen. Entsprechende Auffassungen beruhten auf der Annahme, der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem staatlichen Recht greife unabhängig von Art und Inhalt der jeweiligen Norm stets ein, und der Rechtsbürger
der Gemeinschaft könne sich zu seinen Gunsten auf einen Vertragsverstoß eines Mitgliedstaats diesem gegenüber berufen.
Einen solchen Anspruch, den auch das Gemeinschaftsrecht nicht begründe, gewähre das deutsche Recht nicht; Art. 20 Abs. 3 GG gebiete, die von den gesetzgebenden Körperschaften kompetenzgemäß und materiell
verfassungsgemäß erlassenen deutschen Gesetze anzuwenden. Dem Einzelnen stünden keine Ansprüche gegen den Staat zu, wenn dieser seiner Verpflichtung gegenüber einer zwischenstaatlichen Einrichtung und anderen Staaten
zur Schaffung einer bestimmten Gesetzeslage nicht oder nicht fristgerecht nachkomme. Auch bestehe kein konkretes Rechtsverhältnis, kraft dessen es nach Treu und Glauben erlaubt oder geboten sein könnte, einzelne Rechtsfolgen
abweichend von der gesetzlichen Anordnung eintreten zu lassen. Insbesondere gebiete die in Art. 5 EWGV niedergelegte Pflicht zur Gemeinschaftstreue nicht, die Berufung des Einzelnen auf ihm günstige Richtlinienbestimmungen
entgegen dem Gesetz zuzulassen, da für das Ziel des EWG-Vertrags, der Schaffung eines gemeinsamen Marktes, im Bereich der Harmonisierung des Umsatzsteuerrechts in Art. 99, 100, 189 Abs. 3 EWGV ein besonderes Verfahren vorgesehen
sei.
ee) Der Aufhebung des Urteils des Finanzgerichts stehe auch die Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 22. Februar 1984 nicht entgegen.
Die Bindungswirkung von Vorabentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs gemäß Art. 177 EWGV für das jeweilige Ausgangsverfahren beziehe sich sachlich auf den Inhalt des
Gemeinschaftsrechts, das der Gerichtshof verbindlich auslege; sie lasse die Kompetenz des Prozeßgerichts zur Entscheidung über das anzuwendende Recht unberührt. Der Europäische Gerichtshof nehme auch nicht in Anspruch,
im Einzelfall über den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem staatlichen Recht entscheiden zu können.
Durch die Ausübung des Rechts auf Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 177 EWGV könne der Gemeinschaft nicht die Rechtsetzungskompetenz auf einem Gebiet zuwachsen,
für das sie nur Richtlinien erlassen dürfe. Diese Beurteilung ändere sich auch nicht dadurch, daß die Bundesrepublik Deutschland die für sie geltende Frist zur Durchführung der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie nicht eingehalten
habe; der hierin liegende Verstoß gegen den EWGVertrag könne weder die fehlende Hoheitsrechtsübertragung "durch Gesetz" gemäß Art. 24 Abs. 1 GG noch die erforderliche Umsetzung in innerstaatliches Recht ersetzen.
Daher erstrecke sich die Bindung des Bundesfinanzhofs als Prozeßgericht an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 22. Februar 1984 nicht darauf, Art. 13 Teil B Buchst. d Nr. 1 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie
anwenden zu müssen.
b) Den Anträgen der Beschwerdeführerin, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 GG sowie des Europäischen Gerichtshofs gemäß Art. 177 EWGV herbeizuführen,
habe nicht entsprochen werden können. Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht wäre nicht zulässig gewesen, da der erkennende Senat des Bundesfinanzhofs das deutsche Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag nicht für verfassungswidrig
halte; eine allgemeine Regel des Völkerrechts stehe nicht in Frage. Einer Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie habe es nicht bedurft, da bereits mehrere Vorabentscheidungen
vorgelegen hätten und es im entscheidungserheblichen Punkt auf das Recht der Bundesrepublik Deutschland und nicht auf das der Europäischen Gemeinschaft ankomme.
II.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde beantragt die Beschwerdeführerin, das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 25. April 1985 - notfalls nach Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften
- aufzuheben. Sie rügt eine Verletzung ihres Grundrechts auf den gesetzlichen Richter, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, und ihrer von Art. 2 Abs. 1 GG umfaßten wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit.
1. Der Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird darin gesehen, daß der Bundesfinanzhof die auf Vorlage des Finanzgerichts im selben Verfahren ergangene Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom
22. Februar 1984 (RS 70/83, Slg. 1984, S. 1075) unberücksichtigt gelassen habe und dabei weder den Europäischen Gerichtshof mit den für maßgeblich gehaltenen Fragestellungen im Rahmen eines neuerlichen Vorabentscheidungsersuchens
gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV befaßt noch dem Bundesverfassungsgericht die Frage nach Anwendbarkeit der einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie gemäß Art. 100 Abs. 1 GG vorgelegt habe. Die Entscheidung
des Bundesfinanzhofs beruhe darauf, daß er nicht dasjenige Gericht habe zu Wort kommen lassen, dem die verbindliche Entscheidung dieser Frage zustehe. Die Befugnis, das "anzuwendende Recht zu ermitteln und auszulegen"
und über "das anzuwendende Recht" zu entscheiden, komme dem Prozeßgericht jedenfalls nicht in der Form zu, daß es das Gemeinschaftsrecht vor dem Hintergrund der deutschen Verfassung verwerfen dürfe. Da sich der
Bundesfinanzhof ein Verwerfungsrecht bezüglich der einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie nicht habe selbst zumessen dürfen, hätte er, wenn er das von ihm angestrebte Ergebnis unter Umgehung des
Europäischen Gerichtshofs habe erreichen wollen, allenfalls den Weg einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG wählen können und müssen.
Angesichts der umfangreichen wissenschaftlichen Kritik an seiner im Prinzip gleichlautenden Entscheidung vom 16. Juli 1981 könne der Bundesfinanzhof sich hinsichtlich seiner
Vorlagepflicht nicht auf einen Rechtsirrtum berufen; vielmehr habe er sich ersichtlich bewußt zum Richter in einer Sache aufgeschwungen, in der ihm eine Entscheidung nicht zugestanden habe. Dieses Verhalten müsse als Willkür
angesehen werden.
2. Indem der Bundesfinanzhof sein angegriffenes Urteil auf die deutsche umsatzsteuerrechtliche Vorschrift gestützt und entgegen der bindenden Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs der steuerbefreienden
Vorschrift der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie nicht den Anwendungsvorrang eingeräumt hat, habe er die Beschwerdeführerin in einer der verfassungsmäßigen Ordnung nicht entsprechenden Weise in ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit
eingeschränkt.
3. Hinsichtlich der Frage der innerstaatlichen Anwendbarkeit von EG-Richtlinien, namentlich der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie, macht sich die Beschwerdeführerin ausdrücklich die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs zu eigen.
Unzutreffend sei insbesondere die Auslegung des deutschen Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag durch den Bundesfinanzhof. Insbesondere sei nicht richtig, daß die Bundestagsdrucksache II/3440 die Erläuterungen
der Bundesregierung bei der Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes wiedergebe; der Entwurf des Zustimmungsgesetzes habe erst auf der Grundlage der Bundestagsdrucksache II/3615 und vor allem II/3660 (Schriftlicher Bericht des
3. Sonderausschusses - Gemeinsamer Markt/Euratom - über den Entwurf des Zustimmungsgesetzes) seine endgültige Fassung erlangt. Entgegen der Auffassung des Bundesfinanzhofs unterscheide Art. 2 Satz 2 des Zustimmungsgesetzes
nicht zwischen Richtlinien und Verordnungen des Rates, sondern führe beide praktisch gleichrangig nebeneinander auf; dies ergebe sich schon aus der unterschiedslosen Rechtsfolge, daß nämlich bei beiden Akten die Unterrichtung
von Bundestag und Bundesrat durch die Bundesregierung vor der Beschlußfassung durch den Rat erfolgen solle. In der vom Bundesfinanzhof allein zitierten Bundestagsdrucksache II/3440 finde sich noch kein Entwurf für Art. 2 Satz 2 des Zustimmungsgesetzes; erst die Bundestagsdrucksache II/3660 enthalte auf ihrer Seite 13 den Hinweis auf die Forderung
des Bundesrates, Weisungen der Bundesregierung an ihre Vertreter im Ministerrat zuvor mit dem zuständigen Gremium des Bundesrats zu beraten, was Grundlage für die endgültige Fassung des Art. 2 Satz 2 Zustimmungsgesetz geworden
sei. Aus der Bundestagsdrucksache II/3440 in Anlage C zu Art. 189 EWGV sei in Wirklichkeit nichts anderes als eine Umschreibung des Regelungsgehaltes von Art. 189 EWGV abzulesen.
Die vom Bundesfinanzhof abgelehnte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Anwendbarkeit nicht fristgerecht in das innerstaatliche Recht umgesetzter Richtlinien entspreche nur der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Gebots- oder Verbotsvorschriften des EWG-Vertrags, die, wie etwa Art. 95, nach ihrem Wortlaut lediglich an die Mitgliedstaaten gerichtet sind. Unter Berücksichtigung
dieser Rechtsprechung habe das Bundesverfassungsgericht Art. 95 EWGV dahin gewertet, daß dieser auch individuellen Rechtsschutz gegen einen überhöhten Steuersatz und subjektive Rechte gewähre (BVerfGE 31, 145 [167]). Danach
habe der Bundesfinanzhof Art. 95 EWGV in dieser Auslegung als unmittelbar anwendbare Norm qualifiziert, indem er entgegenstehendes deutsches Recht unangewendet ließ; das sei vom Bundesverfassungsgericht im genannten Beschluß
vom 9. Juni 1971 (BVerfGE 31, 145) als verfassungskonform bestätigt worden. Dieses Ergebnis müsse auch für das hier entscheidungserhebliche Problem gelten.
III.
Die Bundesregierung hat keine Stellungnahme abgegeben.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das angegriffene Urteil des Bundesfinanzhofs verstößt gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und war deshalb aufzuheben.
1. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339 [366 ff.]).
2. Die Rechtswirkung der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie war für den Bundesfinanzhof eine entscheidungserhebliche Frage im Sinne des Art. 177 Abs. 3 EWGV. Diese Frage war nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts
zu beurteilen. Da der EWG-Vertrag integraler Bestandteil des deutschen Zustimmungsgesetzes ist, handelte es sich hierbei um Vertragsauslegung und nicht lediglich um die Auslegung und Anwendung von Recht aus deutscher Rechtsquelle.
Wollte der Bundesfinanzhof unter Verneinung der Bindungswirkung der im selben Ausgangsverfahren über die nämliche Frage ergangenen Vorabentscheidung des Gerichtshofs dessen Rechtsauffassung nicht folgen, so war er verpflichtet,
diese Frage dem Gerichtshof neuerlich gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV vorzulegen. Dieser Vorlagepflicht ist der Bundesfinanzhof in objektiv willkürlicher Weise nicht nachgekommen (vgl. BVerfGE 19, 38 [43]; st. Rspr.).
a) Art. 177 EWGV spricht dem Gerichtshof im Verhältnis zu den Gerichten der Mitgliedstaaten die abschließende Entscheidungsbefugnis über die Auslegung des Vertrages sowie über die Gültigkeit und die Auslegung
der dort genannten abgeleiteten gemeinschaftlichen Akte zu; die nach Maßgabe des Art. 177 EWGV ergangenen Urteile des Gerichtshofs sind für alle mit demselben Ausgangsverfahren befaßten mitgliedstaatlichen Gerichte bindend
(BVerfGE 45, 142 [162]; 52, 187 [200 f.]; 73, 339 [370]). Diese Kompetenzzuweisung ist auf ein Zusammenwirken zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gerichtet; sie dient
im Interesse des Vertragszieles der Integration, der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch alle Gerichte im Geltungsbereich
des EWG-Vertrags. Die Begründung dieser Kompetenz der Gemeinschaft, die vom Gerichtshof wahrgenommen wird, ist im Hinblick auf Art. 24 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie schließt eine konkurrierende
Kompetenz der deutschen Gerichte aus.
b) Die durch Art. 177 EWGV übertragene Kompetenz ist nicht schrankenlos. Die ihr durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen unterliegen letztlich der Gerichtsbarkeit des Bundesverfassungsgerichts
(vgl. auch G. Ress, Wichtige Vorlagen deutscher Verwaltungsgerichte an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, in: Die Verwaltung, Bd. 20, 1987, S. 177 [178 f.]).
c) Der Bundesfinanzhof sieht diese verfassungsrechtlichen Grenzen durch die rechtliche Qualifizierung, die der Gerichtshof im vorliegenden Fall der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie beigelegt hat, als überschritten
an. Diese Qualifizierung sei nicht mehr vom deutschen Zustimmungsgesetz zu den Römischen Verträgen gedeckt; der Gerichtshof der Gemeinschaften ermangele der Befugnis, Richtlinien im Wege der Rechtsfortbildung den Verordnungen
im Sinne des Art. 189 EWGV gleichzustellen. Der Bundesfinanzhof sei angesichts dessen von Verfassungs wegen gehalten, im vorliegenden Fall das deutsche Umsatzsteuergesetz anzuwenden. Der Sache nach verneint der Bundesfinanzhof
die Bindungswirkung von Vorabentscheidungen des Gerichtshofs der Gemeinschaften nach Art. 177 EWGV, sofern sie die Grenzen der der Gemeinschaft im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG übertragenen Hoheitsrechte überschritten.
Von Verfassungs wegen kann der Auffassung des Bundesfinanzhofs für die in Rede stehende Frage der rechtlichen Qualifizierung bestimmter Arten von Richtlinien der Gemeinschaft nicht gefolgt werden.
aa) In den Anfangsjahren der Europäischen Gemeinschaft ging man davon aus, daß Richtlinien im Sinne des Art. 189 EWGV sich nur an die Mitgliedstaaten richten und vor ihrer Vollziehung im innerstaatlichen Recht
keine Rechtswirkung für den privaten Einzelnen entfalteten (vgl. Fuß, DVBl. 1965, S. 378 ff. und Everling in: Festschrift für Karl Carstens, Bd. 1, 1984, S. 95 ff. [97] m.w.N.). In einem grundlegenden Urteil vom 5. Februar
1963 (RS 26/62, Slg. 1963, S. 5) entschied der Gerichtshof, daß der seinem Wortlaut nach (nur) an die Mitgliedsstaaten gerichtete Art. 12 EWGV - also eine Vertragsvorschrift - unmittelbare Wirkungen erzeuge und individuelle
Rechte der privaten Einzelnen begründen könne. Dies warf die Frage auf, ob Vergleichbares auch für an Mitgliedsstaaten gerichtete abgeleitete Gemeinschaftsakte gelte, jedenfalls soweit
sie sich nach ihrem Inhalt dazu eigneten. Für einen solchen Schluß konnten die beiden zentralen Begründungselemente des genannten Urteils sprechen: die - bezogen auf die Vertragsziele - auf die größtmögliche Wirksamkeit
der rechtlichen Bestimmungen gerichtete Auslegung der Vertragsnormen sowie die Einbeziehung des Marktbürgers in das Gemeinschaftsrecht im Interesse eines wirkungsvollen Rechtsschutzes, der nicht nur über Vertragsverletzungsklagen
gemäß Art. 169 EWGV gesichert werden sollte. Auf der Grundlage dieser Diskussion (vgl. statt aller Everling, a.a.O., S. 97 f. m.w.N.) kam es zu den Urteilen vom 6. und 21. Oktober 1970 (RS 9/70, 20/70, 23/70, Grad u. a.
(Leber-Pfennig), Slg. 1970, S. 825, 861, 881) und vom 17. Dezember 1970 (RS 33/70, SACE (Abgaben gleicher Wirkung), Slg. 1970, S. 1213); die Urteile zum "Leber- Pfennig" betrafen eine "Entscheidung", nicht
eine Richtlinie im Sinne des Art. 189 EWGV. Doch waren ihre Begründungen auf Richtlinien übertragbar. Dies galt insbesondere für das Argument, mit dem der Gerichtshof dem Hinweis auf den bloßen Wortlaut des Art. 189 EWGV
und der dort vorgesehenen Unterscheidung zwischen Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen begegnete: Aus der unmittelbaren Geltung von Verordnungen folge nicht zwangsläufig, daß andere Rechtsakte niemals unmittelbare,
direkte Wirkung entfalten könnten. Eine (an einen Mitgliedstaat gerichtete) Entscheidung könne praktische Wirksamkeit nur entfalten, wenn der private Einzelne sich vor Gericht auf die dem Mitgliedstaat durch diesen Akt auferlegte
Verpflichtung berufen könne; dadurch würde die Entscheidung noch nicht der Verordnung gleichgestellt. Dabei stellte der Gerichtshof darauf ab, ob die jeweilige Verpflichtung hinreichend klar und unbedingt ist.
bb) Begleitet von einer durchaus gegensätzlichen und lebhaften wissenschaftlichen Diskussion (vgl. die Angaben bei Everling, a.a.O., S. 99 [Anm. 20]) hat der Gerichtshof den eingeschlagenen Weg weiterverfolgt.
Er hat dabei Richtlinien zwar nicht den Verordnungen förmlich gleichgestellt, wohl aber dem privaten Einzelnen die Möglichkeit zuerkannt, sich auf die Bestimmungen von Richtlinien gegenüber
dem Mitgliedstaat, an den sie gerichtet sind - nicht auch gegenüber Dritten -, in gewissem Umfang zu seinen Gunsten zu "berufen". Er hat ferner ausgesprochen, daß Richtlinien zur Auslegung des ihrer Durchführung
dienenden nationalen Rechts heranzuziehen seien (vgl. etwa Urteil vom 4. Dezember 1974, RS 41/74 (Aufenthalts-Richtlinie), Slg. 1974, S. 1337; Urteil vom 26. Februar 1975, RS 67/74 (Aufenthalts-Richtlinie), Slg. 1975, S. 297;
Urteil vom 1. Februar 1977, RS 51/76 (2. Umsatzsteuerrichtlinie), Slg. 1977, S. 113 und Urteil vom 5. April 1979, RS 148/78 (Richtlinie gefährliche Stoffe), Slg. 1979, S. 1629).
cc) Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. insbesondere Urteil vom 19. Januar 1982, RS 8/81, Slg. 1982, S. 53 und die diese Entscheidung zur Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie bestätigenden
Urteile vom 10. Juni 1982, RS 255/81, Slg. 1982, S. 2301 und vom 22. Februar 1984, RS 70/83, Slg. 1984, S. 1075; für weitere Nachweise zur im Ergebnis gleichen Rechtsprechung zu anderen Richtlinien siehe Everling, a.a.O.,
S. 100 [Anm. 27]) ergibt sich mittlerweile folgendes Bild: Da die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, ihr innerstaatliches Recht den Richtlinien anzupassen, treffen im Regelfall die Wirkungen der Richtlinie den "Marktbürger"
erst auf dem Wege der von dem jeweiligen Mitgliedstaat ergriffenen Vollzugsmaßnahmen; dabei ist die Richtlinie für die Auslegung der mitgliedstaatlichen Durchführungsregelung insoweit von Bedeutung, als die Gerichte entsprechend
der aus Art. 5 EWGV folgenden Verpflichtung zur Gemeinschaftstreue diejenige Auslegung des nationalen Rechts zu wählen haben, die dem Inhalt der Richtlinie in der ihr vom Gerichtshof gemäß Art. 177 EWGV gegebenen Auslegung
entspricht.
Nur für den Fall einer nicht ordnungsgemäß, zumal nicht fristgerecht erfolgten Vollziehung einer Richtlinie durch einen Mitgliedstaat hat der Gerichtshof dem privaten Einzelnen das Recht zuerkannt, sich vor
den mitgliedstaatlichen Gerichten gegenüber entgegenstehendem nationalen Recht auf durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtungen zu berufen, sofern diese klar und unbedingt sind und zu ihrer
Anwendung insoweit keines Ausführungsakts mehr bedürfen.
In seinem hierfür grundlegenden Urteil vom 19. Januar 1982, RS 8/81, Slg. 1982, S. 53 ff. wird ausgeführt (Rdnrn. 17 ff.):
"Nach Artikel 189 Absatz 3 EWG-Vertrag ist "die Richtlinie ... für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überläßt jedoch den
innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel". Nach dieser Bestimmung begründet die Richtlinie für die Staaten, an die sie gerichtet ist, eine Verpflichtung zur Erreichung eines bestimmten Ziels, die
bei Ablauf der durch die Richtlinie selbst festgesetzten Frist erfüllt sein muß. Daraus folgt, daß immer dann, wenn eine Richtlinie ordnungsgemäß durchgeführt wird, ihre Wirkungen den einzelnen auf dem Wege über die
von dem jeweiligen Mitgliedstaat ergriffenen Durchführungsmaßnahmen treffen .... Besondere Probleme ergeben sich dagegen, wenn ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht ordnungsgemäß durchgeführt hat, insbesondere wenn
die Bestimmungen einer Richtlinie bei Ablauf der für ihre Durchführung gesetzten Frist noch nicht durchgeführt worden sind. Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes - zuletzt in dem Urteil vom 5. April 1979 (Rechtssache
148/78, Ratti, Slg., S. 1629) - ergibt sich, daß zwar nach Artikel 189 (EWGV) Verordnungen unmittelbar gelten und infolgedessen schon wegen ihrer Rechtsnatur unmittelbare Wirkungen erzeugen können, daß hieraus indessen
nicht folgt, daß andere in diesem Artikel genannte Kategorien von Rechtsakten niemals ähnliche Wirkungen erzeugen könnten. Mit der den Richtlinien durch Artikel 189 (EWGV) zuerkannten verbindlichen Wirkung wäre es folglich
unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, daß sich betroffene Personen auf die durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen können. Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die Gemeinschaftsbehörden die
Mitgliedstaaten durch Richtlinie zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die praktische Wirksamkeit einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die staatlichen
Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten. Daher kann ein Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen hat, den
einzelnen nicht entgegenhalten, daß er die aus dieser Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfüllt hat. Demnach können sich die einzelnen in Ermangelung von fristgemäß erlassenen Durchführungsmaßnahmen auf
Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen; einzelne
können sich auf diese Bestimmungen auch berufen, soweit diese Rechte festlegen, die dem Staat gegenüber geltend gemacht werden können."
Auf die Rechtsauffassung in diesem Urteil, die er in der Entscheidung vom 10. Juni 1982 (RS 255/81, Slg. 1982, S. 2301) bestätigte, hat sich der Gerichtshof in seiner Vorabentscheidung vom 22. Februar 1984,
die dem Ausgangsverfahren hier zugrunde liegt, ausdrücklich bezogen.
dd) Diese Rechtsprechung des Gerichtshofs fand im deutschsprachigen Schrifttum weitgehend Zustimmung (vgl. die Nachweise bei Everling, a.a.O., S. 103 ff. auch zur Diskussion im englischsprachigen und romanischen
Rechtskreis, sowie Oldenbourg, Die unmittelbare Wirkung von EG-Richtlinien im innerstaatlichen Bereich (1984), S. 215 f.). Allerdings beschränkte sich diese wissenschaftliche Auseinandersetzung fast ausschließlich auf die
gemeinschaftsrechtlichen und erörterte nicht allfällige verfassungsrechtliche Fragen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung lebte im Anschluß an den Beschluß des Fünften Senats des Bundesfinanzhofs vom 16. Juli 1981
(EuR 1981, S. 442 m. Anm. Millarg) wieder auf, als dieser im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unter Berufung auf die Entscheidung des französischen Staatsrats vom 22. Dezember 1978 (EuR 1979, S. 292 m. Anm. Bieber
und EuGRZ 1979, S. 251 m. Anm. Tomuschat) der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht folgte; dieser Beschluß wurde im Schrifttum, darunter auch von Richtern des Bundesfinanzhofs, wiederum fast ausschließlich unter gemeinschaftsrechtlichen
Gesichtspunkten erörtert und weithin abgelehnt (vgl. Autexier, Revue Trimestrielle de Droit Europ en 1981, S. 780 (784); Dänzer- Vanotti, BB 1982, S. 1106, (1109); G. Meier, BB 1981, S. 1883 (1884); Millarg, EuR 1981, S.
454 und Scheuing, EuR 1985, S. 229 [264 ff.]); verteidigt wurde er von Sigloch (BB 1982, S. 791) und Weiß (UStR 1981, S. 197). Verfassungsrechtliche Gesichtspunkte wurden von Herrmann (RIW/AWD 1982, S. 566 ff.) und Voß (RIW/AWD
1982, S. 570) erörtert; beide gelangten im Ergebnis zu der Auffassung, daß der Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 16. Juli 1981 gemeinschaftsrechtlich fehlerhaft und die Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs zur sogenannten unmittelbaren Anwendbarkeit bestimmter Richtlinien verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei (vgl. ferner die Kritik von Bleckmann, RIW/AWD 1984, S. 774 (777); Pescatore, European
Law Review 1983, S. 155 (170) und Seidel, NJW 1985, S. 517 ff.). Die Auffassung des Bundesfinanzhofs in seinem mit der vorliegenden Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil wurde im Schrifttum sowohl aus gemeinschafts- wie
aus verfassungsrechtlicher Sicht nachdrücklich kritisiert (vgl. Tomuschat, EuR 1985, S. 346 ff.; Duhnkrack, RIW/AWD 1986, S. 40 ff. und Magiera, DÖV 1985, S. 937 ff.); Zustimmung fand sie bei Mößlang (Internationale Wirtschafts-Briefe
Nr. 16 vom 26. August 1985, S. 529 ff.).
d) Sowohl die kompetenz- und materiellrechtliche Rechtsauffassung des Gerichtshofs der Gemeinschaften zur Rechtsnatur von Richtlinien der in Rede stehenden Art als auch die Methode, mit der er diese Rechtsauffassung
entwickelt hat, halten sich im Rahmen des durch das Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag abgesteckten Integrationsprogramms; ebensowenig überschreitet das Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag, das dieses Ergebnis wie die Methode
der Rechtsfindung des Gerichtshofs deckt, die rechtsstaatlichen Grenzen, die einer Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 Abs. 1 GG von Verfassungs wegen gesetzt sind (vgl. BVerfGE 37, 271 [280 ff.]; 73, 339 [375 ff.]).
aa) Der Gerichtshof stützt sich zum einen auf das Gefüge der Handlungsformen des Art. 189 EWGV (Verordnung, Richtlinie, Entscheidung), zum anderen auf das Ziel des Vertrags, gerade auch dem Marktbürger, um
dessentwillen die Gemeinschaft letztlich errichtet sei und wirksam funktionieren solle, zureichenden Rechtsschutz zu verschaffen. Es ist kein unvertretbarer Schluß, wenn der Gerichtshof aus der Bestimmung des Art. 189 EWGV,
daß die Verordnung "unmittelbar" gilt, folgert, daß damit nicht schon eine "unmittelbare" Rechtswirkung der anderen Rechtsakte (Entscheidung, Richtlinie) ausgeschlossen sei. Es ist ferner methodisch nicht
unvertretbar, wenn der Gerichtshof dann im Hinblick auf das Ziel, dem Marktbürger möglichst weitreichenden Rechtsschutz zu verschaffen und der unstreitigen Verpflichtung der Mitgliedstaaten,
Richtlinien zu befolgen, Nachdruck zu verleihen, zu dem Schluß gelangt, der Marktbürger könne sich in bestimmten begrenzten Fällen gegenüber dem Mitgliedstaat in einem Rechtsstreit auf die Richtlinie "berufen"
und der Mitgliedstaat könne ihm die Nichterfüllung der Richtlinie nicht entgegenhalten. Auch das Bundesverfassungsgericht hat die unmittelbare Rechtswirkung von Akten der Gemeinschaft im Zusammenhang mit dem Rechtsschutz
subjektiver Rechte der Bürger gesehen (vgl. BVerfGE 31, 145 (173 ff.) bezüglich Art. 95 EWGV).
Der Gerichtshof nimmt hierdurch nicht, wie der Bundesfinanzhof meint, für die Gemeinschaft eine Rechtsetzungsgewalt nach Art gleichsam einer Verordnungskompetenz auf einem Gebiet (Umsatzsteuerrecht) in Anspruch,
auf dem sie nur eine Richtlinienkompetenz besitze. Vielmehr beschränkt er sich darauf, die Rechtswirkungen einer bestehenden Kompetenz näher auszugestalten. Zwar kommt die Möglichkeit des privaten Einzelnen, sich auf die
Richtlinie zu "berufen", einer normativen Wirkung - jedenfalls im bilateralen Verhältnis zum angesprochenen Mitgliedstaat - praktisch gleich; sie bedeutet aber nicht eine Erweiterung der Rechtsetzungskompetenz der
Gemeinschaft. Der eigentliche Sinn dieser Möglichkeit des Sich-Berufen-Könnens liegt nicht darin, die Rechtsetzungskompetenz der Gemeinschaft zu erweitern, sondern die durch die Richtlinie begründete Verpflichtung des Mitgliedstaates
wirkungsvoll und zumal in rechtsstaatlicher Weise zu sanktionieren: unabhängige Gerichte sollen sie feststellen und ihre Nichterfüllung durch Richterspruch im Einzelfall sanktionieren.
Darin liegt gewiß ein Stück Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof (vgl. Börner, Festschrift für Gerhard Kegel [1987], S. 57 ff.) und nicht lediglich Konkretisierung eines schon durch den Vertrag allgemein
vorgegebenen Sanktionsgefüges im Einzelfall: Die Sanktionierung der Nichterfüllung von Richtlinien nicht allein durch eine Verletzungsklage der Gemeinschaft gegen den Mitgliedstaat, sondern auch durch "Berufung auf
die Richtlinie" im Rechtsstreit des privaten Einzelnen gegen den Mitgliedstaat zu ermöglichen, schafft eine neue Sanktionskategorie. Sie fügt sich indes nach ihrer Leitidee in die rechtsstaatliche
Struktur der Gemeinschaft ein, ist vom Gerichtshof gerade an dieser rechtsstaatlichen Grundstruktur ausgerichtet und von dort her ausgestaltet worden.
bb) Es ist mit Art. 24 Abs. 1 GG vereinbar, dem Gerichtshof, einer zwischenstaatlichen Einrichtung, eine derartige Befugnis zur Rechtsfortbildung im Bereich des Kompetenzrechts dieser Einrichtung zu übertragen.
Zwar ist es auch verfassungsrechtlich erheblich, ob eine zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG sich in den Grenzen der ihr übertragenen Hoheitsrechte hält oder aus ihnen ausbricht (vgl. BVerfGE 37,
271 [279 f.]; 58, 1 [30 f.]; 73, 339 [375 f.]). Der Gemeinschaft ist durch den EWG-Vertrag nicht eine Rechtsprechungsgewalt zur unbegrenzten Kompetenzerweiterung übertragen worden. Die Gemeinschaft ist kein souveräner Staat
im Sinne des Völkerrechts (vgl. Eric Stein, Towards a European Foreign Policy? The European Foreign Affairs System from the Perspective of the United States Constitution, in: Integration Through Law, Vol. 1, bk. 3 [1986],
S. 3 [19]), dem eine Kompetenzkompetenz über innere Angelegenheiten zukäme. Auf sie ist weder die territoriale Souveränität noch die Gebiets- und Personalhoheit der Mitgliedstaaten übertragen worden; ihre auswärtigen
Befugnisse betreffen begrenzte Bereiche, mögen sie im einzelnen hierbei auch nicht, wie im Bereich anderer Vertragsziele, durch den Grundsatz der Spezialermächtigung beschränkt sein. Nach wie vor sind derzeit die Mitgliedstaaten
im Rahmen des allgemeinen Völkervertragsrechts die Herren der Gemeinschaftsverträge, wie nicht zuletzt die Einheitliche Europäische Akte vom 17. und 28. Februar 1986 (Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Suppl. 2
[1986]) belegt.
Zulässig und von den Auslegungsregeln für die Gemeinschaftsverträge her nachgerade geboten ist es indessen, vorhandene Kompetenzen der Gemeinschaft im Lichte und im Einklang mit den Vertragszielen auszulegen
und zu konkretisieren. Wo insoweit generelle Grenzen der Reichweite der Gemeinschaftsgewalt verlaufen, kann hier dahinstehen. Die vorliegende Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Möglichkeit
des Marktbürgers, sich auf Richtlinien bestimmter Art unmittelbar zu berufen, bleibt weit davon entfernt, diese Grenzen zu überschreiten. Das Ergebnis dieser Rechtsprechung hält sich im Gefüge der vertraglich begründeten
Handlungsformen der Gemeinschaftsgewalt; sie werden nicht erweitert oder durch neuartige Handlungsformen ergänzt; die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten (zur Richtlinienerfüllung) werden weder erhöht noch verschärft -
erhöht wird die Wirkungskraft einer bestimmten Art von Richtlinien mit dem Ziel, ihre Beachtung durch die Mitgliedstaaten besser zu gewährleisten. Angesichts des nicht unerheblichen Gefälles zwischen den Mitgliedstaaten
beim Vollzug von Richtlinien dient dies zumal der Herstellung der Rechtsanwendungsgleichheit zwischen den Marktbürgern und stellt keine Überschreitung der Grenzen der Hoheitsbefugnisse dar, die für die Gemeinschaft durch
den Abschluß des EWG-Vertrages begründet worden sind.
cc) Auch gegen die Methode richterlicher Rechtsfortbildung, deren sich der Gerichtshof bedient hat, ist weder unter dem Maßstab des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag noch dem des Art. 24 Abs. 1 GG etwas zu
bewenden. Zwar ist dem Gerichtshof keine Befugnis übertragen worden, auf diesem Wege Gemeinschaftskompetenzen beliebig zu erweitern; ebensowenig aber können Zweifel daran bestehen, daß die Mitgliedstaaten die Gemeinschaft
mit einem Gericht ausstatten wollten, dem Rechtsfindungswege offenstehen sollten, wie sie in jahrhundertelanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt worden sind. Der Richter war in Europa niemals
lediglich "la bouche qui prononce les paroles de la loi"; das römische Recht, das englische common law, das Gemeine Recht waren weithin richterliche Rechtsschöpfungen ebenso wie in jüngerer Zeit etwa in Frankreich
die Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts durch den Staatsrat oder in Deutschland das allgemeine Verwaltungsrecht, weite Teile des Arbeitsrechts oder die Sicherungsrechte im privatrechtlichen Geschäftsverkehr. Die Gemeinschaftsverträge sind auch im Lichte gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur zu verstehen. Zu meinen, dem Gerichtshof der Gemeinschaften wäre die
Methode der Rechtsfortbildung verwehrt, ist angesichts dessen verfehlt. Das Bundesverfassungsgericht ist auch bislang schon ohne Aufhebens davon ausgegangen, daß der Gerichtshof subjektive Rechte des privaten Einzelnen aus
allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickeln darf (BVerfGE 37, 271; 73, 339). Wie behutsam der Gerichtshof dabei im vorliegenden Zusammenhang verfahren ist, zeigt sich daran, daß er nicht Richtlinien schlechthin "berufungsfähig"
gemacht hat, sondern dafür bestimmte, oben aufgezeigte Kriterien erstellt hat, die - jedenfalls in der bisherigen Richtlinienpraxis, die Hunderte von Richtlinien allein zur Rechtsangleichung aufweist, - nur selten erfüllt
sind.
3. Der Bundesfinanzhof war mithin an die vom Finanzgericht eingeholte Vorabentscheidung des Gerichtshofs gebunden. Da es für seine Entscheidung auf die Frage, ob die Beschwerdeführerin sich auf die Sechste
Umsatzsteuerrichtlinie berufen könne, ankam, hatte er die Vorabentscheidung des Gerichtshofs seiner eigenen Beurteilung zugrunde zu legen. Dem stand nicht entgegen, daß die Rechtswirkung der Berufung auf die Richtlinie von
der Rechtsfolgenanordnung des deutschen Umsatzsteuergesetzes 1967/1973 abwich. Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts kommt für den Fall eines Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht auch vor deutschen Gerichten der Anwendungsvorrang
zu. Dieser Anwendungsvorrang gegenüber späterem wie früherem nationalem Gesetzesrecht beruht auf einer ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts, der durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen
in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 GG der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist (vgl. BVerfGE 31, 145 [173 ff.]; Scheuner, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft und Verfassungsrechtsprechung,
AöR 100 [1975], S. 30 [40 f.]). Art. 24 Abs. 1 GG enthält die verfassungsrechtliche Ermächtigung für die Billigung dieser Vorrangregel durch den Gesetzgeber und ihre Anwendung durch die rechtsprechende Gewalt im Einzelfall
(BVerfGE 73, 339 [375]; Scheuner, a.a.O., S. 44; Tomuschat in: Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Art. 24 [Zweitbearb.], Rdnr. 76 mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
Wollte der Bundesfinanzhof der Rechtsauffassung des Gerichtshofs gleichwohl nicht folgen, so wäre er, da die Auslegung der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie des Rates für ihn entscheidungserheblich war, gemäß
Art. 177 Abs. 3 EWGV zu einer neuerlichen Vorlage an den Gerichtshof verpflichtet gewesen. In seinem Vorlagebeschluß hätte er seine Bedenken gegen die Rechtsauffassung des Gerichtshofs zur Anrufbarkeit nicht fristgerecht
in innerstaatliches Recht umgesetzter Richtlinien und zumal in bezug auf die nach seiner Auffassung fehlende Kompetenz des Gerichtshofs zur Rechtsfortbildung des Vertragsrechts dartun müssen.
4. Dieser Verpflichtung zur neuerlichen Vorlage an den Gerichtshof gemäß Art. 177 Abs. 3 EWGV hat sich der Bundesfinanzhof in objektiv willkürlicher Weise entzogen: Verweigert sich ein letztinstanzliches Gericht
dieser Vorlagepflicht bezüglich derjenigen Rechtsfragen, die bereits Entscheidungsgegenstand einer im selben Verfahren ergangenen Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs waren, so ist das eine Verletzung des Art.
101 Abs. 1 Satz 2 GG, wie immer im übrigen der Maßstab der Willkür im Hinblick auf Verstöße gegen die Vorlagepflicht aus Art. 177 EWGV zu fassen sein mag.
5. Eine Aufhebung der angegriffenen Entscheidung wegen Unterlassens einer Vorlage des Zustimmungsgesetzes zum EWG- Vertrag gemäß Art. 100 Abs. 1 GG kommt nicht in Betracht. Der Bundesfinanzhof hält das Zustimmungsgesetz
für verfassungsgemäß. Voraussetzung der Zulässigkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ist, daß das Fachgericht von der Grundgesetzwidrigkeit des in Rede stehenden Gesetzes überzeugt ist.
6. Da das Urteil des Bundesfinanzhofs bereits wegen des Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aufzuheben war, kann dahinstehen, ob es gegen weitere von der Beschwerdeführerin benannte Grundrechte verstößt.
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Zeidler, Niebler, Steinberger, Träger, Mahrenholz, Böckenförde, Klein, Graßhof