Samstag, 29. November 2014

EuGH zum Umsatzsteuersatz für Hörbücher und E-Books

Urteil vom 11. September 2014, Rechtssache C-219/13

Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nur auf gedruckte Bücher – Geltung des normalen Mehrwertsteuersatzes für Bücher auf anderen physischen Trägern – Steuerliche Neutralität
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
PAOLO MENGOZZI
vom 14. Mai 2014 s.u.

Einheitlicher Steuersatz für Bücher und E-Books ist keine Verpflichtung
Wenn EU-Länder gedruckte und digitale Bücher bei der Umsatzsteuer unterschiedlich behandeln, dann verstoßen sie mit dieser Regelung nicht gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität. Zu diesem Ergebnis kommt der Europäische Gerichtshof in einem lange erwarteten Urteil − das aus Sicht des Börsenvereins allerdings wenig überraschend ausfällt.
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Europäische Kommission  - Pressemitteilung
Brüssel, den 3. Juli 2012 (Auszug)

Die Europäische Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich und Luxemburg eingeleitet, da diese Länder für digitale Bücher ermäßigte Mehrwertsteuersätze anwenden, die unter Umständen nicht mit dem EU-Recht vereinbar sind.

Nach den Rechtsvorschriften der EU können die Mitgliedstaaten ermäßigte Mehrwertsteuersätze für eine begrenzte Anzahl von Gegenständen und Dienstleistungen anwenden, die in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie  aufgelistet sind. Das Herunterladen digitaler Bücher gilt als eine auf elektronischem Wege erbrachte Dienstleistung, die in dieser Liste nicht aufgeführt ist und daher auch nicht zum ermäßigten Satz besteuert werden kann.

In ihrer Mitteilung zur Zukunft der Mehrwertsteuer vom Dezember 2011 hat die Kommission die Möglichkeit erwogen, die Mehrwertsteuersätze für traditionelle und für digitale Bücher aneinander anzupassen. Die Kommission wird dazu bis Ende 2013 Vorschläge vorlegen. Eine Anpassung in Richtung der derzeit für traditionelle Bücher geltenden ermäßigten Steuersätze ist jedoch ohne eine Änderung der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht möglich.

Hintergrund

Für Pressemitteilungen zu Vertragsverletzungsverfahren in den Bereichen Steuern und Zoll siehe: http://ec.europa.eu/taxation_customs/common/infringements/infringement_cases/index_de.htm.

Für aktuelle allgemeine Informationen über Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten siehe: http://ec.europa.eu/eu_law/infringements/infringements_de.htm.

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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Steuerwesen – Mehrwertsteuer – Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes – Lieferung von digitalen und elektronischen Büchern“

 5. März 2015       C-479/13
 5. März 2015       C-502/13


URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

11. September 2014(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 98 Abs. 2 – Anhang III Nr. 6 – Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nur auf gedruckte Bücher – Geltung des normalen Mehrwertsteuersatzes für Bücher auf anderen physischen Trägern – Steuerliche Neutralität“

In der Rechtssache C-219/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Finnland) mit Entscheidung vom 22. April 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 25. April 2013, in dem auf Antrag der

K Oy

eingeleiteten Verfahren

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund (Berichterstatter) und A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader sowie des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. März 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte,

–        der estnischen Regierung, vertreten durch K. Kraavi-Käerdi und N. Grünberg als Bevollmächtigte,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch I. Bakopoulos als Bevollmächtigten,

–        der irischen Regierung, vertreten durch A. Joyce als Bevollmächtigten und C. Toland, BL, beauftragt von L. Williams, Solicitor,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Soulay und I. Koskinen als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Mai 2014

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 und von Anhang III Nr. 6 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2009/47/EG des Rates vom 5. Mai 2009 (ABl. L 116, S. 18) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2        Es ergeht im Rahmen eines von der K Oy (im Folgenden: K) eingeleiteten Verfahrens gegen die Entscheidung des Keskusverolautakunta (Zentraler Steuerausschuss), wonach der für die Lieferung gedruckter Bücher geltende ermäßigte Mehrwertsteuersatz nicht auf die Lieferung von auf anderen physischen Trägern als Papier gespeicherten Büchern angewandt werden kann.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 96 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten wenden einen Mehrwertsteuer-Normalsatz an, den jeder Mitgliedstaat als Prozentsatz der Bemessungsgrundlage festsetzt und der für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist.“

4        Art. 98 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten können einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden.

(2) Die ermäßigten Steuersätze sind nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien anwendbar.

Die ermäßigten Steuersätze sind nicht anwendbar auf elektronisch erbrachte Dienstleistungen.“

5        Vor der Änderung des Anhangs III der Mehrwertsteuerrichtlinie durch die Richtlinie 2009/47 waren in Nr. 6 dieses Anhangs, der das Verzeichnis der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen enthält, auf die ermäßigte Mehrwertsteuersätze gemäß Art. 98 dieser Richtlinie angewandt werden können, aufgeführt:

„Lieferung von Büchern, einschließlich des Verleihs durch Büchereien (einschließlich Broschüren, Prospekte und ähnliche Drucksachen, Bilder-, Zeichen- oder Malbücher für Kinder, Notenhefte oder -manuskripte, Landkarten und hydrografische oder sonstige Karten), Zeitungen und Zeitschriften, mit Ausnahme von Druckerzeugnissen, die vollständig oder im Wesentlichen Werbezwecken dienen“.

6        Der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/47 lautet:

„Die [Mehrwertsteuerrichtlinie] sollte ferner geändert werden, um die Anwendung ermäßigter Mehrwertsteuersätze oder aber Steuerbefreiungen in einer begrenzten Zahl bestimmter Fälle aus sozial- oder gesundheitspolitischen Gründen zu ermöglichen und um die Bezugnahme auf Bücher in Anhang III klarer zu fassen und dem technischen Fortschritt Rechnung zu tragen.“

7        Seit dem 1. Juni 2009 hat Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie folgenden Wortlaut:

„Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern, einschließlich des Verleihs durch Büchereien (einschließlich Broschüren, Prospekte und ähnliche Drucksachen, Bilder-, Zeichen- oder Malbücher für Kinder, Notenhefte oder Manuskripte, Landkarten und hydrografische oder sonstige Karten), Zeitungen und Zeitschriften, mit Ausnahme von Druckerzeugnissen, die vollständig oder im Wesentlichen Werbezwecken dienen“.

 Finnisches Recht

8        § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes 1501/1993 vom 30. Dezember 1993 über die Mehrwertsteuer (Arvonlisäverolaki [1501/1993]) in seiner für die Steuerjahre 2011 und 2012 geltenden Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) sieht vor:

„An den Staat ist gemäß den Regelungen dieses Gesetzes Mehrwertsteuer zu entrichten

1. für den Verkauf von Gegenständen und die Erbringung von Dienstleistungen in Finnland im Rahmen einer geschäftlichen Tätigkeit“.

9        § 84 des Mehrwertsteuergesetzes bestimmt:

„Die zu entrichtende Steuer beträgt 23 % der Steuerbemessungsgrundlage, soweit in den §§ 85 oder 85a nichts anderes bestimmt ist.“

10      In § 85a dieses Gesetzes heißt es:

„Die Steuer, die auf die Erbringung folgender Dienstleistungen und auf den Verkauf, den innergemeinschaftlichen Erwerb, die Entnahme aus dem Zolllager und die Einfuhr folgender Gegenstände zu entrichten ist, beträgt 9 % der Bemessungsgrundlage:



7. Bücher,



Nicht als Buch im Sinne von Abs. 1 Nr. 7 gelten:

1.      auf andere Weise als durch Druck oder vergleichbare Weise hergestellte Veröffentlichungen,

2.      periodisch erscheinende Veröffentlichungen oder

3.      Veröffentlichungen, die im Wesentlichen Werbung enthalten.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11      K ist eine Gesellschaft, die im Verlagswesen tätig ist. Sie verlegt Bücher der allgemeinen Literatur und Lehrbücher sowie Hör- und E-Bücher.

12      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass die von K verlegten Hör- und E-Bücher als elektronische Dateien verfügbar sind, die auf einem physischen Träger wie einer CD, einer CD-ROM, einem USB-Stick oder einem entsprechenden Träger gespeichert sind und Bücher wiedergeben, die ursprünglich in gedruckter Form erschienen sind. In einem Hörbuch, das zum Anhören bestimmt ist, wird der Inhalt des geschriebenen Textes eines gedruckten Buchs, der vorgelesen wird, auf einem physischen Träger wie einer CD oder einer CD-ROM wiedergegeben. Ein E-Buch gibt im Wesentlichen den Inhalt eines ursprünglich in gedruckter Form vorliegenden Buchs, dem es in der äußeren Gestaltung und Struktur überwiegend gleicht, auf einem physischen Träger wie einer CD oder einem USB-Stick wieder und kann auf einen Computer oder ein geeignetes Lesegerät geladen werden. Die elektronischen Versionen können jedoch in ihrem Inhalt und ihrer Struktur von gedruckten Büchern abweichen.

13      K beantragte beim Keskusverolautakunta einen Vorbescheid, um zu klären, ob auf anderen physischen Trägern als Papier gespeicherte Bücher, die den geschriebenen Text eines gedruckten Buchs wiedergeben, als „Bücher“ im Sinne von § 85a Abs. 1 Nr. 7 des Mehrwertsteuergesetzes angesehen werden können, deren Verkauf einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegt.

14      Mit Vorbescheid vom 25. Mai 2011 stellte der Keskusverolautakunta fest, dass nur gedruckte oder in vergleichbarer Weise hergestellte Veröffentlichungen als Bücher gälten, so dass auf einem physischen Träger wie einer CD, einer CD-ROM oder einem USB-Stick gespeicherte Hör- und E-Bücher nicht als „Bücher“ im Sinne von § 85a Abs. 1 Nr. 7 des Mehrwertsteuergesetzes angesehen werden könnten.

15      Der Keskusverolautakunta führte zudem aus, dass Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 in Verbindung mit Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der steuerlichen Neutralität es nicht verböten, auf den Verkauf von auf einem anderen physischen Träger als Papier gespeicherten Büchern den normalen Mehrwertsteuersatz statt den für gedruckte Bücher geltenden ermäßigten Steuersatz anzuwenden.

16      K reichte Beschwerde beim Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht) ein mit dem Antrag, den Vorbescheid des Keskusverolautakunta aufzuheben und in einem neuen Vorbescheid festzustellen, dass Bücher, die auf anderen physischen Trägern als Papier, etwa einer CD, einer CD-ROM, einem USB-Stick oder anderen ähnlichen Trägern gespeichert sind, als „Bücher“ im Sinne von § 85a Abs. 1 Nr. 7 des Mehrwertsteuergesetzes anzusehen sind, deren Verkauf einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegt.

17      Nach Ansicht der K verstößt es gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass ein Mitgliedstaat einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz nur auf gedruckte Bücher anwende, nicht aber auf Bücher, die auf anderen physischen Trägern gespeichert seien.

18      Das Korkein hallinto-oikeus holte eine Stellungnahme des Valtiovarainministeriö (Finanzministerium) ein. Dieses stellte fest, dass die steuerliche Behandlung von auf einem anderen physischen Träger als Papier gespeicherten Büchern in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterschiedlich sei. Die Mitgliedstaaten könnten den ermäßigten Mehrwertsteuersatz selektiv auf die in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgeführten Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen anwenden. Sie verfügten in dieser Hinsicht über ein weites Ermessen. In diesem Zusammenhang seien sie berechtigt, den ermäßigten Steuersatz auf gedruckte Bücher und den Normalsatz auf Bücher, die auf einem anderen physischen Datenträger gespeichert seien, anzuwenden.

19      Unter diesen Umständen hat das Korkein hallinto-oikeus beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Stehen Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 und Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie unter Berücksichtigung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität einer nationalen Regelung entgegen, nach der auf gedruckte Bücher ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewandt wird, auf Bücher, die auf anderen physischen Trägern wie einer CD oder CD-ROM oder USB-Sticks gespeichert sind, jedoch der normale Steuersatz?

2.      Spielt es für die Beantwortung der vorstehenden Frage eine Rolle,

–        ob ein Buch zum Lesen oder zum Anhören (Hörbuch) bestimmt ist,

–        ob es von dem auf einer CD oder CD-ROM, einem USB-Stick oder einem entsprechenden anderen physischen Träger gespeicherten Buch oder Hörbuch ein gedrucktes Buch gleichen Inhalts gibt,

–        ob bei einem auf einem anderen physischen Träger als Papier gespeicherten Buch technische Eigenschaften dieses Trägers, wie etwa Suchfunktionen, benutzt werden können?

 Zu den Vorlagefragen

20      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 und Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach für gedruckte Bücher ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz gilt, während Bücher, die auf anderen physischen Trägern wie einer CD, einer CD-ROM oder USB-Sticks gespeichert sind, dem normalen Mehrwertsteuersatz unterliegen, und ob für die Beantwortung dieser Frage die Art des verwendeten physischen Trägers, der Inhalt des betreffenden Buchs oder die technischen Eigenschaften des betreffenden physischen Trägers eine Rolle spielen.

21      Nach Art. 96 der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt der gleiche Mehrwertsteuersatz, der Normalsatz, für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen.

22      Abweichend von diesem Grundsatz räumt Art. 98 Abs. 1 dieser Richtlinie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anzuwenden. Nach Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 sind die ermäßigten Steuersätze nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten Kategorien anwendbar.

23      Hinsichtlich der Anwendung von ermäßigten Mehrwertsteuersätzen auf diese Kategorien ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, sofern der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegende Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird, genauer zu bestimmen, auf welche der in den Kategorien des Anhangs III der Mehrwertsteuerrichtlinie enthaltenen Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der ermäßigte Steuersatz Anwendung findet (vgl. in diesem Sinne Urteile Zweckverband zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung Torgau-Westelbien C-442/05, EU:C:2008:184, Rn. 42 und 43, und Pro Med Logistik, C-454/12 und C-455/12, EU:C:2014:111, Rn. 44).

24      Was den Grundsatz der steuerlichen Neutralität betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass dieser es nicht zulässt, gleichartige Gegenstände oder Dienstleistungen, die miteinander in Wettbewerb stehen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (vgl. Urteile Kommission/Frankreich, C-384/01, EU:C:2003:264, Rn. 25, und The Rank Group, C-259/10 und C-260/10, EU:C:2011:719, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Bei der Beantwortung der Frage, ob Gegenstände oder Dienstleistungen gleichartig sind, ist in erster Linie auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen. Gegenstände oder Dienstleistungen sind gleichartig, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen und wenn die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers zwischen diesen Gegenständen oder Dienstleistungen nicht erheblich beeinflussen (vgl. in diesem Sinne Urteil The Rank Group, EU:C:2011:719, Rn. 43 und 44).

26      Vor der durch die Richtlinie 2009/47 eingeführten Änderung war in Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie die „Lieferung von Büchern“ aufgeführt. Durch die Richtlinie 2009/47 wurde der Wortlaut von Anhang III Nr. 6 dahin geändert, dass nunmehr die „Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern“ im Verzeichnis der Gegenstände und Dienstleistungen, auf die ermäßigte Mehrwertsteuersätze angewandt werden können, enthalten ist.

27      Daher stellt sich die Frage, ob ein Mitgliedstaat, der sich dafür entschieden hat, auf gedruckte Bücher einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, wegen dieser Änderung verpflichtet ist, die Anwendung dieses ermäßigten Satzes auch auf die Lieferung von Büchern auf jeglichen anderen physischen Trägern als Papier auszuweiten.

28      Wie auch die Europäische Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, ergibt sich insoweit weder aus dem Wortlaut der Richtlinie 2009/47 noch aus den Vorarbeiten zu ihr, dass der Unionsgesetzgeber mit der Änderung von Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten verpflichten wollte, auf alle Bücher, unabhängig davon, auf welchem physischen Träger sie gespeichert sind, einen identischen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden.

29      Jedenfalls ist es im Licht der in Rn. 23 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs, da in Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie lediglich die Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern genannt ist, Sache der Mitgliedstaaten, unter Beachtung des dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegenden Grundsatzes der steuerlichen Neutralität die physischen Träger zu bestimmen, auf die der ermäßigte Mehrwertsteuersatz angewandt wird.

30      In diesem Zusammenhang ist, wie die irische Regierung vorgetragen und der Generalanwalt in Nr. 54 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens auf den Durchschnittsverbraucher des jeweiligen Mitgliedstaats abzustellen, da die Beurteilung des Durchschnittsverbrauchers davon abhängig sein kann, in welchem Ausmaß die neuen Technologien sich im jeweiligen nationalen Markt durchgesetzt haben und die technischen Vorrichtungen verfügbar sind, die es ihm ermöglichen, auf Bücher zuzugreifen, die auf anderen physischen Trägern als Papier gespeichert sind.

31      Unter diesen Umständen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob, wie in Rn. 25 des vorliegenden Urteils ausgeführt, gedruckte Bücher und auf anderen physischen Trägern gespeicherte Bücher Erzeugnisse sind, die vom Durchschnittsverbraucher als gleichartig angesehen werden können. Zu diesem Zweck hat es zu bewerten, ob diese Bücher ähnliche Eigenschaften haben und nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen, um zu ermitteln, ob die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, das eine oder das andere dieser Bücher zu wählen, erheblich oder spürbar beeinflussen.

32      Für die Beantwortung dieser Frage spielen die Art des verwendeten physischen Trägers, der Inhalt des betreffenden Buchs oder die technischen Eigenschaften des betreffenden physischen Trägers keine Rolle, da es sich neben anderen um die Umstände handelt, die das vorlegende Gericht bei der Beurteilung zu berücksichtigen hat, ob gedruckte Bücher und auf anderen physischen Trägern gespeicherte Bücher Erzeugnisse sind, die vom Durchschnittsverbraucher als gleichartig angesehen werden können.

33      Wie der Generalanwalt in Nr. 62 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist es, wenn diese Umstände aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers des betreffenden Mitgliedstaats entscheidend sind, gerechtfertigt, dass die nationale Regelung für die Lieferung von Büchern auf anderen Trägern als Papier nicht den für die Lieferung gedruckter Bücher geltenden ermäßigten Mehrwertsteuersatz gewährt. Kommt es dem Verbraucher dagegen vor allem auf den gleichartigen Inhalt all dieser Bücher unabhängig von ihrem Trägermaterial oder ihren Eigenschaften an, ist die selektive Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nicht gerechtfertigt.

34      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 und Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie, sofern der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegende Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird, was zu prüfen Aufgabe des vorlegenden Gerichts ist, einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, wonach für gedruckte Bücher ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz gilt, während Bücher, die auf anderen physischen Trägern wie einer CD oder CD-ROM oder USB-Sticks gespeichert sind, dem normalen Mehrwertsteuersatz unterliegen.

 Kosten

35      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 und Anhang III Nr. 6 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2009/47/EG des Rates vom 5. Mai 2009 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie, sofern der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegende Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird, was zu prüfen Aufgabe des vorlegenden Gerichts ist, einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegenstehen, wonach für gedruckte Bücher ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz gilt, während Bücher, die auf anderen physischen Trägern wie einer CD oder CD-ROM oder USB-Sticks gespeichert sind, dem normalen Mehrwertsteuersatz unterliegen.

Unterschriften

* Verfahrenssprache: Finnisch.


SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
PAOLO MENGOZZI

vom 14. Mai 2014(1)
Rechtssache C-219/13

K Oy
(Vorabentscheidungsersuchen des Korkein hallinto-oikeus [Finnland])
„Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Richtlinie 2009/47/EG – Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nur auf gedruckte Bücher unter Ausschluss von Büchern auf anderen physischen Informationsträgern (CD, CD-ROM, USB-Stick) – Konkrete und spezifische Aspekte – Steuerliche Neutralität“





I –    Einleitung

1.        Stehen die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(2) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und der Grundsatz der steuerlichen Neutralität einer nationalen Regelung entgegen, nach der nur gedruckte Bücher, nicht aber Bücher auf anderen physischen Trägern wie CDs, CD-ROM oder USB-Sticks einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen?

2.        So lautet im Wesentlichen die Frage, die der Korkein hallinto-oikeus (Finnland) dem Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gesellschaft K Oy (im Folgenden: K) und dem Veronsaajien oikeudenvalvontayksikkö, der finnischen Finanzverwaltung, vorgelegt hat, nachdem der Keskusverolautakunta (Zentraler Steuerausschuss) den Antrag von K zurückgewiesen hatte, für die Steuerjahre 2011 und 2012 festzustellen, dass der für gedruckte Bücher geltende ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 9 % auch auf die von dieser Gesellschaft verlegten Hörbücher und E-Bücher auf physischen Informationsträgern anzuwenden sei, die den schriftlichen Text eines gedruckten Buches wiedergeben.

3.        Der Zentrale Steuerausschuss vertrat erstens die Auffassung, allein gedruckte oder auf ähnliche Weise hergestellte Veröffentlichungen seien als Bücher im Sinne des § 85a Abs. 1 Nr. 7 und Abs. 3 des Gesetzes Nr. 1265/1997 über die Mehrwertsteuer (arvonlisäverolaki 1265/1997) anzusehen.

4.        Zweitens entschied dieser Ausschuss, weder Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie und deren Anhang III Nr. 6 in der Fassung der Richtlinie 2009/47/EG des Rates vom 5. Mai 2009 in Bezug auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz(3) noch der Grundsatz der steuerlichen Neutralität stünden der Anwendung des Normalsatzes – nämlich im vorliegenden Fall 23 % der Bemessungsgrundlage, anstelle des für gedruckte Bücher geltenden ermäßigten Satzes von 9 % – auf den Verkauf von Büchern entgegen, die auf einem anderen physischen Träger als Papier gespeichert sind. Auf einem anderen physischen Träger als Papier gespeicherte Hörbücher und E-Bücher seien nämlich aufgrund ihrer Art, ihrer Eigenschaften und ihrer Verwendung entsprechenden in elektronischer Form verfügbaren Büchern gleichzustellen, auf die der ermäßigte Steuersatz nach Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht anzuwenden sei.

5.        Gegen diese Entscheidung des Zentralen Steuerausschusses legte K Rechtsmittel zum Korkein hallinto-oikeus mit dem Antrag ein, diese Entscheidung aufzuheben und festzustellen, dass die von ihr verlegten, auf physischen Trägern wie CDs, CD-ROM oder USB-Sticks und sonstige entsprechende Erzeugnisse im Sinne des Antrags gespeicherten Hörbücher und E-Bücher wie gedruckte Bücher zu behandeln seien, deren Verkauf einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliege.

6.        Nach Einholung der Stellungnahme des Valtiovarainministeriö (Finanzministerium), das sich im Wesentlichen dem Standpunkt des Zentralen Steuerausschusses anschloss, hat das Korkein hallinto-oikeus das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stehen Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie und deren Anhang III Nr. 6, Letztere in der durch die Richtlinie 2009/47 geänderten Fassung, unter Berücksichtigung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität einer nationalen Regelung entgegen, nach der auf gedruckte Bücher ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewandt wird, auf Bücher, die auf anderen physischen Trägern wie CDs, CD-ROM oder USB-Sticks gespeichert sind, jedoch der normale Steuersatz?

Spielt es für die Beantwortung der vorstehenden Frage eine Rolle,

–      ob ein Buch zum Lesen oder zum Anhören (Hörbuch) bestimmt ist,

–      ob es von dem auf einer CD oder CD-ROM, einem USB-Stick oder einem entsprechenden anderen physischen Träger gespeicherten Buch oder Hörbuch ein gedrucktes Buch gleichen Inhalts gibt,

–      ob bei einem auf einem anderen physischen Träger als Papier gespeicherten Buch technische Eigenschaften dieses Trägers, wie etwa Suchfunktionen, benutzt werden können?

7.        Diese Frage ist Gegenstand schriftlicher Erklärungen der finnischen, der deutschen, der estnischen, der griechischen und der irischen Regierung sowie der Europäischen Kommission gewesen.

8.        Diese Verfahrensbeteiligten sind darüber hinaus in der Sitzung vom 13. März 2014 angehört worden, mit Ausnahme der deutschen und der estnischen Regierung, die in dieser Sitzung nicht vertreten waren.

II – Würdigung

9.        Art. 96 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt, dass auf Lieferungen von Gegenständen und auf Dienstleistungen der gleiche, als Normalsatz bezeichnete Mehrwertsteuersatz anzuwenden ist.

10.      Abweichend von diesem Grundsatz können die Mitgliedstaaten nach Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ermäßigte Steuersätze nur auf Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der in Anhang III dieser Richtlinie genannten Kategorien anwenden.

11.      Während Nr. 6 dieses Anhangs vor seiner Änderung durch die Richtlinie 2009/47 die „Lieferung von Büchern …“ zum Inhalt hatte, hat diese Richtlinie den Wortlaut der Nr. 6 des Anhangs III dahin gehend geändert, dass nunmehr die „Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern …“ erfasst wird(4).

12.      Da die Republik Finnland sich, wie die große Mehrheit der Mitgliedstaaten(5), wirksam für die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung von gedruckten Büchern entschieden hat – übrigens schon unter der Geltung des Art. 12 Abs. 3 Buchst. a und des Anhangs H Nr. 6 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG(6), die Art. 98 Abs. 1 und Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie vorausgegangen waren –, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die durch die Richtlinie 2009/47 eingeführte Änderung einen Mitgliedstaat dazu zwingt, die Anwendung eines solchen ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung von Büchern auf anderen physischen Trägern als Papier, wie etwa auf CDs, CD-ROM oder USB-Sticks, auszuweiten.

13.      Die am Verfahren beteiligten Regierungen schlagen vor, diese Frage zu verneinen. Sie stützen ihre Argumentation im Wesentlichen auf die Freiwilligkeit der Anwendung der ermäßigten Mehrwertsteuersätze, auf den rein redaktionellen Charakter der Änderung durch die Richtlinie 2009/47 sowie auf die fehlende Vergleichbarkeit zwischen der Lieferung gedruckter Bücher und solcher auf anderen physischen Trägern. Die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes allein auf die Lieferung von gedruckten Büchern verstoße daher nicht gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität. Jedenfalls sei es Aufgabe der Mitgliedstaaten sowie der nationalen Gerichte, konkret zu beurteilen, in welchem Wettbewerbsverhältnis diese unterschiedlichen Kategorien von Büchern stehen.

14.      Im Gegensatz dazu vertritt die Kommission die Auffassung, die selektive Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes allein auf gedruckte Bücher widerspreche dem Ziel, das die Kommission und der Unionsgesetzgeber beim Erlass der Richtlinie 2009/47 mit der Änderung des Anhangs III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie verfolgt hätten, nämlich die Einhaltung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität in Bezug auf sämtliche Bücher mit im Wesentlichen gleichem Informationsgehalt, unabhängig von ihrem physischen Trägermaterial, sicherzustellen.

15.      Allerdings hat die Kommission nach Lektüre der Stellungnahmen der anderen Verfahrensbeteiligten in der mündlichen Verhandlung eine „differenziertere“ Position eingenommen. Da der Unionsgesetzgeber beim Erlass der Richtlinie 2009/47 möglicherweise vom Richtlinienvorschlag der Kommission vom 7. Juli 2008, der zum Erlass der Richtlinie 2009/47 geführt habe(7), habe abweichen und den ermäßigten Mehrwertsteuersatz für die Lieferung aller Bücher unabhängig von ihrem physischen Träger nicht zwingend habe vorschreiben wollen, macht die Kommission nunmehr geltend, Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 und Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie in der Fassung der Richtlinie 2009/47 stünden nicht notwendigerweise einer nationalen Regelung entgegen, die einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz nur für gedruckte Bücher vorsehe, nicht aber für Bücher mit im Wesentlichen gleichem Informationsgehalt, die auf anderen physischen Trägern beruhen, solange der Grundsatz der steuerlichen Neutralität gewahrt bleibe.

16.      Meinerseits möchte ich zunächst darauf hinweisen, dass der Gerichtshof sowohl im Hinblick auf Anhang H der Sechsten Richtlinie 77/388 als auch auf Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie entschieden hat, dass es den Mitgliedstaaten nicht verwehrt ist, den ermäßigten Steuersatz innerhalb derselben Kategorie von Dienstleistungen selektiv anzuwenden, vorausgesetzt, dass dies keine Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen nach sich zieht(8), der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegende Grundsatz der steuerlichen Neutralität also beachtet wird(9).

17.      Daraus hat der Gerichtshof vor Kurzem den Schluss gezogen, die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz selektiv anzuwenden, unterliege „der zweifachen Bedingung, dass zum einen für die Zwecke der Anwendung des ermäßigten Satzes nur auf konkrete und spezifische Aspekte der in Rede stehenden Kategorie von Leistungen abgestellt und zum anderen der Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird“(10).

18.      Dass diese zweifache Bedingung gestellt wird, ist relativ neu.

19.      Während der Gerichtshof nämlich bis zum Erlass des Urteils Kommission/Frankreich (EU:C:2010:253) die Beschränkung der Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf „konkrete und spezifische Aspekte“ ein und derselben Kategorie von Leistungen noch als eine Gestaltungsmöglichkeit bezeichnet hatte, die die Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Einhaltung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität einräumt(11), macht dieses Urteil, das durch das Urteil Pro Med Logistik und Pongratz (EU:C:2014:111) bestätigt wurde, daraus eine echte, dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität gegenüber eigenständige Bedingung, von der die selektive Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes innerhalb ein und derselben Kategorie von Leistungen abhängig ist(12).

20.      Diese beiden Bedingungen sollen dem Gerichtshof zufolge sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten von dieser Möglichkeit nur unter Umständen Gebrauch machen, die die einfache und korrekte Anwendung des gewählten ermäßigten Satzes gewährleisten und jede Form von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch verhindern(13).

21.      Die Umwandlung der „konkreten und spezifischen Aspekte“ in eine selbständige Bedingung für die Anwendung eines selektiven ermäßigten Mehrwertsteuersatzes innerhalb derselben in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgeführten Kategorie gibt der Prüfung, die der Gerichtshof vorzunehmen hat, einen etwas engeren Rahmen vor. Diese Prüfung erfolgt nämlich nunmehr systematisch und geht derjenigen der Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität voraus. Seit ihrer Umwandlung in eine echte Bedingung für die selektive Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes hat der Gerichtshof zwar stets anerkannt, dass die Voraussetzung der „konkreten und spezifischen Aspekte“ erfüllt sein könne; die Anerkennung dieses neuen Status impliziert jedoch, dass sie gegebenenfalls auch nicht erfüllt ist und der Gerichtshof und die nationalen Gerichte die weitere Voraussetzung der Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität folglich nicht mehr in jedem Fall zu prüfen brauchen.

22.      Hier sind allerdings beide Bedingungen für die selektive Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes innerhalb derselben in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgeführten Kategorie zu prüfen.

A –    Zu den „konkreten und spezifischen Aspekten“ innerhalb derselben Kategorie der Lieferung von Gegenständen

23.      In der vorliegenden Rechtssache wird die Erfüllung der ersten Bedingung von keinem der Verfahrensbeteiligten in Zweifel gezogen. Vielmehr gehen offenbar alle Beteiligten zumindest stillschweigend davon aus, dass innerhalb der Kategorie der Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern diejenigen Bücher, die auf anderen Trägern als Papier basieren, „konkrete und spezifische Aspekte“ dieser Kategorie darstellen können.

24.      Ich erinnere daran, dass die Fälle, in denen der Gerichtshof derartige „konkrete und spezifische Aspekte“ innerhalb derselben Kategorie gemäß den Bestimmungen der Sechsten Richtlinie 77/388 (insbesondere ihres Anhangs H) oder später gemäß Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie zu entwickeln und über ihr Vorliegen zu befinden hatte, sowohl Vorgänge betrafen, die als Lieferung von Gegenständen anzusehen waren, als auch solche, die Dienstleistungen betrafen.

25.      So hat der Gerichtshof, was die Lieferung von Waren betrifft, die Französische Republik für berechtigt erklärt, einen ermäßigten Steuersatz allein auf die Anschlussgrundgebühr anzuwenden, die die Abonnenten zum Bezug einer geringfügigen Energiemenge berechtigt, da sich diese Ausnahmeregelung auf konkrete und spezifische Aspekte der Erdgas- und Elektrizitätslieferung beschränkt(14).

26.      Ebenso hat der Gerichtshof hinsichtlich der Erbringung von Leistungen entschieden, dass die Mitgliedstaaten berechtigt sind, konkrete und spezifische Aspekte der Lieferung von Wasser im Sinne des Anhangs H Kategorie 2 der Sechsten Richtlinie 77/388, wie etwa den Hausanschluss, mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu belegen(15), dass die Beförderung von Leichnamen mit einem Fahrzeug einen konkreten und spezifischen Bestandteil der Dienstleistungen darstellt, die von Bestattungsinstituten erbracht werden(16), oder dass innerhalb der Dienstleistungskategorie der Beförderung von Personen und des mitgeführten Gepäcks gemäß Anhang III Nr. 5 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Beförderung von Personen im Nahverkehr per Taxi einen konkreten und spezifischen Aspekt dieser Kategorie darstellen kann, weil sie getrennt von den übrigen Leistungen der betreffenden Kategorie als solche bestimmbar ist(17).

27.      Es ist nicht verwunderlich, dass der Gerichtshof das für die selektive Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes maßgebliche Kriterium der „konkreten und spezifischen Aspekte“ vor allem im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen entwickelt hat. Denn Kategorien von Dienstleistungen, die häufig allgemein bezeichnet werden, wie die „Lieferung von Wasser“ oder die „Beförderung von Personen und des mitgeführten Gepäcks“, weisen üblicherweise eine Vielzahl miteinander verketteter Tätigkeiten oder Dienstleistungen unterschiedlicher Art auf.

28.      Wie das Urteil Kommission/Frankreich (EU:C:2003:264) zeigt, das die Lieferung von Elektrizität und Gas betraf, lässt sich diese Rechtsprechung aber auch auf die Lieferung von Gegenständen anwenden.

29.      Allerdings bleibt zu fragen, was unter „konkreten und spezifischen Aspekten“ ein und derselben Kategorie in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie zu verstehen ist, und zu bestimmen, wie die Prüfung, die der Feststellung solcher „konkreten und spezifischen Aspekte“ dienen soll, zu erfolgen hat.

30.      Insoweit ergibt sich aus den Urteilen Kommission/Frankreich (EU:C:2010:253) sowie Pro Med Logistik und Pongratz (EU:C:2014:111), die sich beide auf die Erbringung komplexer Dienstleistungen beziehen, dass der Gerichtshof prüft, ob die fragliche Leistung „getrennt von den anderen Dienstleistungen“ dieser Unternehmen(18) oder der betreffenden Kategorie(19) „als solche bestimmbar“ ist.

31.      Im Gegensatz zu dem, was man hätte erwarten können, untersucht der Gerichtshof den als solchen bestimmbaren Charakter einer Leistung nicht unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. In seinem Urteil Kommission/Frankreich (EU:C:2010:253), das die Beförderung von Leichnamen mit Fahrzeugen von Bestattungsunternehmen betraf, wies der Gerichtshof nämlich die von der Kommission vertretene Auffassung zurück, die „als solche bestimmbare“ Eigenart einer Leistung sei anhand der Erwartung des Durchschnittsverbrauchers und unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu beurteilen und darauf hin zu prüfen, ob eine aus mehreren Elementen bestehende Tätigkeit sich in Wirklichkeit als eine einzige, steuerlich einheitlich zu behandelnde Leistung darstelle oder vielmehr als zwei oder mehrere gesonderte Leistungen, die unterschiedlich besteuert werden können.

32.      Die Ablehnung der Argumentation der Kommission wurde mit der Beschränkung begründet, die dieser Standpunkt für die Wahrnehmung des den Mitgliedstaaten durch die Mehrwertsteuerrichtlinie belassenen Wertungsspielraums bei der Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes bedeutet hätte, eines Wertungsspielraums, der allgemeine und objektive Kriterien erfordere(20). Auch hätte eine wirtschaftliche Beurteilung der Erfüllung dieser Voraussetzung wahrscheinlich dazu geführt, diese Prüfung mit derjenigen zu vermengen, die der Einhaltung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität dient.

33.      Unter diesen Umständen hat der Gerichtshof die Prüfung der „getrennt von den anderen Leistungen als solche bestimmbaren“ Eigenart einer Leistung, auf die ein Mitgliedstaat den ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwendet, auf der Grundlage formaler und rechtlicher Kriterien vorgenommen, wie etwa des einmaligen Charakters der betreffenden Tätigkeit im Vergleich zu den anderen von den Unternehmen erbrachten Leistungen und/oder des Vorhandenseins besonderer Regelungen, die für diese Leistung oder ihre Erbringer gelten(21).

34.      Diese Kriterien sind offenbar weder abschließend noch erschöpfend.

35.      Technische Unterschiede der betreffenden Waren oder Leistungen oder objektive Unterschiede ihrer Verwendung dürften ebenfalls geeignet sein, innerhalb derselben Kategorie von Lieferungen von Gegenständen oder von Leistungen „konkrete und spezifische Aspekte“ dieser Kategorie aufzuzeigen, die die selektive Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes rechtfertigen können.

36.      So lässt sich in der vorliegenden Rechtssache durchaus der von der deutschen und der finnischen Regierung eingenommene Standpunkt vertreten, dass im Gegensatz zu gedruckten Büchern sämtliche Bücher auf anderen Trägern als Papier nur mit Hilfe einer besonderen technischen Vorrichtung lesbar sind und deshalb „konkrete und spezifische Aspekte“ der Kategorie „Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern“ aufweisen können, was die von der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellte Bedingung erfüllen würde.

B –    Zur Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität

37.      Nach der Rechtsprechung lässt der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem innewohnende Grundsatz der steuerlichen Neutralität es insbesondere nicht zu, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln(22). Es handelt sich mithin um den Ausfluss des allgemeinen Grundsatzes der Gleichbehandlung im Bereich der Mehrwertsteuer(23).

38.      Daraus folgt, dass gleichartige Waren oder Dienstleistungen einem einheitlichen Mehrwertsteuersatz zu unterwerfen sind(24).

39.      Bei der Prüfung der Frage, ob die fraglichen Waren oder Dienstleistungen gleichartig sind, ist in erster Linie auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen, um feststellen zu können, ob diese Waren oder Dienstleistungen denselben Bedürfnissen dieses Durchschnittsverbrauchers dienen, wobei auf unbedeutenden Unterschieden beruhende künstliche Unterscheidungen vermieden werden müssen(25).

40.      Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass zwei Dienstleistungen gleichartig sind, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach Maßgabe eines Kriteriums der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen und wenn die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere dieser Dienstleistungen zu wählen, nicht erheblich beeinflussen(26).

41.      Wie bereits ausgeführt, setzen die Verfahrensbeteiligten sich eingehend mit der Frage auseinander, ob der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Richtlinie 2009/47, wodurch in Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie Bücher „auf jeglichen physischen Trägern“ aufgenommen wurden, die Einhaltung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität habe sicherstellen wollen, weil er von der Prämisse ausgegangen sei, dass sämtliche unter dieser Nr. 6 aufgeführten Bücher unabhängig von ihrem Trägermedium gleichartig seien und folglich in einem Wettbewerbsverhältnis miteinander stünden.

42.      Während die Regierungen, die schriftliche Stellungnahmen eingereicht haben, im Wesentlichen der Auffassung sind, dass es nicht die Absicht des Unionsgesetzgebers gewesen sei, den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte ihren Wertungsspielraum zu entziehen, indem er sie zwinge, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz, den sie auf gedruckte Bücher anwenden dürfen, automatisch auf Bücher auf anderen physischen Trägern auszudehnen, vertritt die Kommission einen entgegengesetzten, wenn auch in der mündlichen Verhandlung weiter differenzierten Standpunkt.

43.      Nach Ansicht der am vorliegenden Verfahren beteiligten Regierungen ist weder dem Wortlaut noch den Erwägungsgründen der Richtlinie 2009/47 zu entnehmen, dass die Änderung in Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie dazu dienen sollte, die Einhaltung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität innerhalb der unter dieser Nummer aufgeführten Kategorie sicherzustellen.

44.      Der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/47 beschränkt sich nämlich auf den Hinweis, die Mehrwertsteuerrichtlinie solle „geändert werden …, um die Bezugnahme auf Bücher in Anhang III klarer zu fassen und dem technischen Fortschritt Rechnung zu tragen“.

45.      Gewiss ließe sich anführen, die als notwendig empfundene Anpassung dieser Bezugnahme an den technischen Fortschritt bedeute implizit, dass der Unionsgesetzgeber fortan der Auffassung sei, auf anderen Trägermedien als Papier veröffentlichte Bücher stünden zwangsläufig im Wettbewerb mit gedruckten Büchern, so dass es angebracht sei, sie ebenfalls demselben ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu unterwerfen.

46.      Abgesehen davon, dass auch die Kommission einen solchen Standpunkt nicht vertreten hat, enthält die Richtlinie 2009/47 hierfür aber keinen objektiven Anhaltspunkt.

47.      Außerdem stützt ein Vergleich – wie ihn auch die Kommission angeregt hat – zwischen der Richtlinie 2009/47 und den Vorarbeiten, die zu ihrem Erlass geführt haben, letztlich nur die Annahme, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität offenbar nicht das vom Unionsgesetzgeber verfolgte Ziel gewesen sei, auch wenn sich die Begründung des oben angeführten Kommissionsvorschlags vom 7. Juli 2008 zumindest teilweise auf diesen Grundsatz berufen hat.

48.      So wird in der Begründung des Vorschlags zwar ausgeführt, „[a]us Gründen der Neutralität“ sei es „erforderlich“, Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie auszuweiten, „um auch auf CD, CD-Rom oder ähnliche körperliche Datenträger gespeicherte Bücher mit einzuschließen, die überwiegend denselben Informationsinhalt haben wie gedruckte Bücher“(27); der Wortlaut des Vorschlags selbst beschränkte sich jedoch darauf, auf die Notwendigkeit hinzuweisen, bestimmte „rechtstechnische Anpassungen vorzunehmen, um … dem technischen Fortschritt Rechnung zu tragen“, und auszuführen, diese Änderungen sollten „die Möglichkeit eröffnen, … auf Hörbücher, auf CDs, auf CD-ROM oder auf andere körperliche Datenträger, auf denen überwiegend derselbe Informationsgehalt gespeichert ist wie in gedruckten Büchern, ermäßigte Steuersätze anzuwenden“(28).

49.      Schon die bloße Lektüre dieses Vorschlags lässt somit erkennen, dass die Kommission zwar eine gewisse Vergleichbarkeit zwischen den verschiedenen zuvor genannten physischen Datenträgern und auf Papier gedruckten Büchern anerkannte, bei der es sich jedoch noch nicht um eine völlige Vergleichbarkeit oder Gleichartigkeit handelte.

50.      Zum einen war diese Vergleichbarkeit nämlich auf andere Träger als Papier beschränkt, auf denen „überwiegend derselbe Informationsgehalt gespeichert ist wie in gedruckten Büchern“, was zwangsläufig bedeutet, wie aus der Begründung des Vorschlags selbst hervorgeht, dass Bücher auf anderen Trägermedien als Papier, die über die Nutzungsmöglichkeiten gedruckter Bücher hinaus noch weiteres Material wie Suchfunktionen oder Links zu anderen Inhalten aufweisen, hiervon ausgenommen waren(29). Zum anderen hatte dieses Ausmaß der Vergleichbarkeit oder Ähnlichkeit im Gegensatz zu dem, was zur Einhaltung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität im Prinzip erforderlich gewesen wäre, nicht automatisch zur Folge, dass der zuvor nur für gedruckte Bücher geltende ermäßigte Steuersatz auf Bücher auf anderen physischen Trägern auszuweiten war, sondern veranlasste die Kommission lediglich, die Möglichkeit einer solchen Ausweitung vorzuschlagen.

51.      Dass der Unionsgesetzgeber die im Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie enthaltene Einschränkung, der zufolge die Möglichkeit einer Ausweitung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nur für physische Träger gelten sollte, auf denen „überwiegend derselbe Informationsgehalt gespeichert ist wie in gedruckten Büchern“, nicht übernommen hat, sondern allgemein auf Bücher „auf jeglichen physischen Trägern“ Bezug nimmt, führt mich zu der Annahme, dass es erst recht nicht sein Anliegen war, die Gleichartigkeit sämtlicher in Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie in der Fassung der Richtlinie 2009/47 erwähnten Bücher unabhängig von ihrem physischen Träger anzuerkennen und die Mitgliedstaaten zu verpflichten, auf diese Bücher denselben ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, dem sie gedruckte Bücher unterwerfen dürfen.

52.      Nach alledem hatte der Unionsgesetzgeber meines Erachtens nicht die Absicht, den Mitgliedstaaten den Wertungsspielraum in Bezug auf die gegebenenfalls selektive Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes innerhalb der Kategorie der Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern gemäß Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie in der Fassung der Richtlinie 2009/47 zu entziehen(30).

53.      Unter diesen Umständen und nach der Rechtsprechung ist es Aufgabe des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob gedruckte Bücher und Bücher auf anderen physischen Trägern aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers insoweit gleichartig sind, als sie denselben Bedürfnissen dieses Durchschnittsverbrauchers dienen.

54.      Wie die Verfahrensbeteiligten in der mündlichen Verhandlung zu Recht geltend gemacht haben, ist auf den Durchschnittsverbraucher des jeweiligen Mitgliedstaats abzustellen, was in der Tat verständlich ist, weil die Beurteilung des Durchschnittsverbrauchers davon abhängig sein kann, in welchem Ausmaß die neuen Technologien sich im jeweiligen nationalen Markt durchgesetzt haben und die technischen Vorrichtungen verfügbar sind, die es ihm ermöglichen, Bücher auf anderen Trägern als Papier zu lesen oder zu hören.

55.      Nach der Rechtsprechung ist es Aufgabe des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung sämtlicher ihm vorgetragener Umstände, zu prüfen, ob gedruckte Bücher und Bücher auf anderen Trägern als Papier ähnliche Eigenschaften aufweisen und denselben Bedürfnissen des Verbrauchers dienen, und zwar anhand des Kriteriums der Vergleichbarkeit ihrer Verwendung sowie anhand der bestehenden Unterschiede, um zu beurteilen, ob diese Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers für das eine oder das andere dieser Kulturgüter erheblich oder spürbar beeinflussen oder nicht.

56.      In dieser Hinsicht haben die am vorliegenden Verfahren beteiligten Regierungen – von der Kommission unwidersprochen – vorgetragen, Bücher auf anderen Trägern als Papier unterschieden sich aufgrund ihrer Eigenschaften objektiv von gedruckten Büchern. Dieser Unterschied ergebe sich nicht nur aus der Notwendigkeit, über ein technisches Lesegerät zu verfügen(31), sondern auch aus dem Umstand, dass der Durchschnittsverbraucher von Büchern auf anderen Trägern als Papier sich für diese Produkte gerade wegen der Anwendungen und Zusatzfunktionen entscheide, die sie ihm im Vergleich zu gedruckten Büchern bieten könnten.

57.      Daher wird, wie die finnische Regierung in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, die Entscheidung eines Durchschnittsverbrauchers, ein Hörbuch zu kaufen, selten allein auf der schlichten Lektüre des gedruckten Textes beruhen, sondern häufiger auf der Leistung und/oder dem Bekanntheitsgrad des Sprechers sowie auf den Spezialeffekten oder der Musik, die in der Audioversion wiedergegeben werden. Soweit es sich um Bücher auf CDs, CD-ROM oder USB-Sticks handelt, wird sich der Durchschnittsverbraucher bei seiner Kaufentscheidung zudem, wie insbesondere die deutsche und die finnische Regierung ausgeführt haben, von den zusätzlichen Suchfunktionen beeinflussen lassen, die diese Bücher bieten, oder der darin integrierten Software oder sonstigen Programmen, die sie im Unterschied zu gedruckten Büchern aufweisen.

58.      Es ist daher Aufgabe des vorlegenden Gerichts, anhand der ihm vorliegenden Erkenntnisse zu prüfen, ob diese Behauptungen auf das Verhalten des Durchschnittsverbrauchers in Finnland zutreffen.

59.      Auf der Grundlage der vorstehenden Ausführungen schlage ich vor, Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 und Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie − Nr. 6 in der Fassung der Richtlinie 2009/47 − dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der auf gedruckte Bücher ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz anzuwenden ist, wohingegen Bücher auf anderen physischen Trägern wie CDs, CD-ROM oder USB-Sticks dem Normalsatz der Mehrwertsteuer unterliegen, sofern sich Letztere aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers des betreffenden Mitgliedstaats von gedruckten Büchern insofern unterscheiden, als sie nicht denselben Bedürfnissen dieses Verbrauchers dienen, was das vorlegende Gericht festzustellen hat.

60.      Der Vollständigkeit halber füge ich hinzu, dass diese Antwort meines Erachtens unabhängig von den drei Umständen zutrifft, die das vorlegende Gericht in seiner Vorlagefrage anführt, nämlich erstens, ob das Buch zum Lesen oder Anhören (Hörbuch) bestimmt ist, zweitens, ob es von einem Buch oder Hörbuch auf einem physischen Träger wie CD, CD-ROM, USB-Stick oder einem ähnlichen physischen Datenträger ein gedrucktes Buch gleichen Inhalts gibt, oder drittens, ob mit dem nicht aus Papier bestehenden physischen Träger verbundene technische Eigenschaften wie etwa Suchfunktionen benutzt werden können.

61.      Dabei handelt es sich nämlich exakt um die Eigenschaften von Büchern auf anderen Trägern als Papier, deren möglicherweise entscheidenden oder spürbaren Einfluss auf die Entscheidung des finnischen Durchschnittsverbrauchers, eher diese Bücher als gedruckte Bücher zu kaufen, das vorlegende Gericht zu beurteilen haben wird.

62.      Wenn es zutrifft, dass diese Eigenschaften aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers des betreffenden Mitgliedstaats entscheidend sind, wie insbesondere die finnische und die deutsche Regierung geltend machen, ist es gerechtfertigt, dass die nationale Regelung für die Lieferung von Büchern auf anderen Trägern als Papier nicht den ermäßigten Mehrwertsteuersatz gewährt, der für gedruckte Bücher gilt. Sollten diese Eigenschaften hingegen keinen oder nur geringen Einfluss auf die Entscheidung dieses Durchschnittsverbrauchers haben, Bücher auf anderen Trägern als Papier zu kaufen – weil es dem Verbraucher vor allem auf den vergleichbaren Inhalt all dieser Bücher unabhängig von ihrem Trägermaterial oder ihren Eigenschaften ankommt –, wäre die selektive Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nicht gerechtfertigt.

III – Ergebnis

63.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die vom Korkein hallinto-oikeus vorgelegte Frage wie folgt zu antworten:

Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 und Anhang III Nr. 6 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem − Nr. 6 in der Fassung der Richtlinie 2009/47/EG des Rates vom 5. Mai 2009 − sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der auf gedruckte Bücher ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz anzuwenden ist, während Bücher auf anderen physischen Trägern wie CDs, CD-ROM oder USB-Sticks dem Normalsatz der Mehrwertsteuer unterliegen, sofern Letztere sich aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers des betreffenden Mitgliedstaats insoweit von gedruckten Büchern unterscheiden, als sie nicht denselben Bedürfnissen dieses Verbrauchers dienen, was das vorlegende Gericht festzustellen hat.

Diese Antwort gilt unabhängig davon, ob das Buch zum Lesen oder zum Anhören (Hörbuch) bestimmt ist, ob es von einem auf einer CD oder CD-ROM, einem USB-Stick oder einem ähnlichen physischen Träger gespeicherten Buch oder Hörbuch ein gedrucktes Buch gleichen Inhalts gibt, oder ob bei einem auf einem anderen physischen Träger als Papier gespeicherten Buch technische Eigenschaften dieses Trägers, wie etwa Suchfunktionen, benutzt werden können.

1 –    Originalsprache: Französisch.

2 –    ABl. L 347, S. 1.

3 –    ABl. L 116, S. 18.

4 –    Hervorhebung nur hier. Wie sämtliche Verfahrensbeteiligten vorgetragen haben, betrifft der vorliegende Fall somit nicht die steuerliche Behandlung elektronischer, d. h. auf elektronischem Wege gelieferter Bücher, sondern ausschließlich solche, die auf einem physischen Träger gleich welcher Art erhältlich sind.

5 –    Nach einem Kommissionsdokument, das die in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union am 13. Januar 2014 geltenden Mehrwertsteuersätze auflistet, wenden 26 der 28 Mitgliedstaaten einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf die Lieferung von gedruckten Büchern an (siehe Dokument taxud.c.1[2014] 48867, S. 4).

6 –    Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1).

7 –    Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG in Bezug auf ermäßigte Mehrwertsteuersätze (KOM[2008] 428 endgültig).

8 –    Vgl. u. a. Urteile Kommission/Frankreich (C-94/09, EU:C:2010:253, Rn. 25) sowie Pro Med Logistik und Pongratz (C-454/12 und C-455/12, EU:C:2014:111, Rn. 43).

9 –    Vgl. in diesem Sinne Urteile Zweckverband zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung Torgau-Westelbien (C-442/05, EU:C:2008:184, Rn. 43), Kommission/Frankreich (EU:C:2010:253, Rn. 26) sowie Pro Med Logistik und Pongratz (EU:C:2014:111, Rn. 44).


10 –    Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Kommission/Frankreich (EU:C:2010:253, Rn. 30) sowie Pro Med Logistik und Pongratz (EU:C:2014:111, Rn. 45).

11 –    Vgl. Urteile Kommission/Frankreich (EU:C:2003:264, Rn. 25 und 26) und Zweckverband zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung Torgau-Westelbien (EU:C:2008:184, Rn. 43).

12 –    Vgl. Urteile Kommission/Frankreich (EU:C:2010:253, Rn. 30) sowie Pro Med Logistik und Pongratz (EU:C:2014:111, Rn. 45).

13 –    Vgl. in diesem Sinne Urteil Pro Med Logistik und Pongratz (EU:C:2014:111, Rn. 45).

14 –    Vgl. Urteil Kommission/Frankreich (EU:C:2003:264, Rn. 28 und 29). Diese Rechtssache betraf Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388. Generell weise ich darauf hin, dass Erdgas und Elektrizität den Vorschriften des EG-Vertrags über den freien Warenverkehr unterliegen, vgl. insoweit u. a. Urteil Kommission/Frankreich (C-159/94, EU:C:1997:501, Rn. 43 bis 50).

15 –    Urteil Zweckverband zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung Torgau-Westelbien (EU:C:2008:184, Rn. 43).

16 –    Urteil Kommission/Frankreich (EU:C:2010:253, Rn. 39).

17 –    Urteil Pro Med Logistik und Pongratz (EU:C:2014:111, Rn. 50).

18 –    Urteil Kommission/Frankreich (EU:C:2010:253, Rn. 35).

19 –    Urteil Pro Med Logistik und Pongratz (EU:C:2014:111, Rn. 47 und 50).

20 –    Urteil Kommission/Frankreich (EU:C:2010:253, Rn. 33 und 34).

21 –    Vgl. Urteile Kommission/Frankreich (EU:C:2010:253, Rn. 35 bis 38) sowie Pro Med Logistik und Pongratz (EU:C:2014:111, Rn. 48 und 49).

22 –    Vgl. u. a. Urteile The Rank Group (C-259/10 und C-260/10, EU:C:2011:719, Rn. 32) sowie Pro Med Logistik und Pongratz (EU:C:2014:111, Rn. 52).

23 –    Vgl. hierzu Urteil NCC Construction Danmark (C-174/08, EU:C:2009:669, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24 –    Vgl. Urteil Kommission/Frankreich (C-481/98, EU:C:2001:237, Rn. 22).

25 –    Vgl. in diesem Sinne Urteile The Rank Group (EU:C:2011:719, Rn. 43) sowie Pro Med Logistik und Pongratz (EU:C:2014:111, Rn. 53).

26 –    Urteil Pro Med Logistik und Pongratz (EU:C:2014:111, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27 –    Nr. 5.3, S. 9, des oben in Fn. 7 angeführten Richtlinienvorschlags.

28 –    Sechster Erwägungsgrund dieses Richtlinienvorschlags (Hervorhebung nur hier).

29 –    Vgl. Richtlinienvorschlag, Punkt 5.3, S. 9. Dies wird auch durch die Leitlinien untermauert, die auf die 92. Sitzung des Mehrwertsteuerausschusses vom 7. und 8. Dezember 2010, DOK A – taxud.c.1(2011)157667-684, zurückgehen und in denen die Definition des Begriffs „Bücher auf jeglichen physischen Trägern“ nahezu wörtlich aus dem Richtlinienvorschlag übernommen wurde. Wie in diesem Dokument selbst angegeben ist, sind diese Leitlinien weder für die Kommission noch für die Mitgliedstaaten bindend.

30 –    Dass es nicht die Absicht des Unionsgesetzgebers war, die Mitgliedstaaten zu zwingen, den ermäßigten Mehrwertsteuersatz, den 26 von ihnen für die Lieferung gedruckter Bücher gewähren, auf Bücher auf anderen physischen Trägern als Papier auszuweiten, wird meines Erachtens durch den Umstand bestärkt, dass von diesen Mitgliedstaaten 14, das heißt einer mehr als die Hälfte, sich entschieden haben, für die Lieferung von Büchern auf anderen physischen Trägern den Normalsatz der Mehrwertsteuer beizubehalten. Siehe zu diesen Statistiken die Tabelle auf S. 4 des Dokuments taxud.c.1(2014) 48867, angeführt in Fn. 5, die den Stand der in den Mitgliedstaaten geltenden Mehrwertsteuersätze zum 13. Januar 2014 angibt.

31 –    Wie die deutsche und die estnische Regierung vorgetragen haben, kann auch der Kaufpreis eines solchen technischen Lesegeräts (Computer, Tablet usw.) eine wichtige Rolle für die Wahl des Durchschnittsverbrauchers spielen.


Quellen


EuGH: Interne Rechnungstellung, MwST-RL, Rs. C-7/13 Skandia


Interne Rechnungstellung für Dienstleistungen, die die Hauptniederlassung einer Gesellschaft mit Sitz in einem Drittland zugunsten ihrer einer Mehrwertsteuergruppe in einem Mitgliedstaat angehörenden Zweigniederlassung erbringt

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MELCHIOR WATHELET

vom 8. Mai 2014 s.u.

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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)


17. September 2014(*)

„Vorabentscheidungsersuchen – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Mehrwertsteuergruppe – Interne Rechnungstellung für Dienstleistungen, die die Hauptniederlassung einer Gesellschaft mit Sitz in einem Drittland zugunsten ihrer einer Mehrwertsteuergruppe in einem Mitgliedstaat angehörenden Zweigniederlassung erbringt – Steuerbarkeit der erbrachten Dienstleistungen“

In der Rechtssache C-7/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Förvaltningsrätt i Stockholm (Schweden) mit Entscheidung vom 28. Dezember 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Januar 2013, in dem Verfahren

Skandia America Corp. USA, filial Sverige

gegen

Skatteverket

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis (Berichterstatter), J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. März 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Skandia America Corp. (USA), filial Sverige, vertreten durch M. Wetterfors,

–        des Skatteverk, vertreten durch K. Alvesson,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk als Bevollmächtigte,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brighouse als Bevollmächtigte im Beistand von R. Hill, Barrister,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Cordewener und J. Enegren als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Mai 2014

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2, Art. 9 Abs. 1 sowie der Art. 11, 56, 193 und 196 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Skandia America Corp. (USA), filial Sverige (im Folgenden: Skandia Sverige), und dem Skatteverk (schwedische Steuerverwaltung) wegen dessen Entscheidung, die von der Skandia America Corp. (im Folgenden: SAC) mit Sitz in den USA zugunsten ihrer Zweigniederlassung Skandia Sverige erbrachten Dienstleistungen mit Mehrwertsteuer zu belasten.

 Rechtlicher Rahmen

 Richtlinie 2006/112

3        Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„(1)      Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:



c)      Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt“.

4        Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.“

5        Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Nach Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer … kann jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln.

Ein Mitgliedstaat, der die in Absatz 1 vorgesehene Möglichkeit in Anspruch nimmt, kann die erforderlichen Maßnahmen treffen, um Steuerhinterziehungen oder -umgehungen durch die Anwendung dieser Bestimmung vorzubeugen.“

6        Art. 56 Abs. 1 Buchst. c und k der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„(1)      Als Ort der folgenden Dienstleistungen, die an außerhalb der Gemeinschaft ansässige Dienstleistungsempfänger oder an Steuerpflichtige, die innerhalb der Gemeinschaft, jedoch außerhalb des Staates des Dienstleistungserbringers ansässig sind, erbracht werden, gilt der Ort, an dem der Dienstleistungsempfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, für welche die Dienstleistung erbracht worden ist, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen Niederlassung sein Wohnsitz oder sein gewöhnlicher Aufenthaltsort:



c)      Dienstleistungen von Beratern, Ingenieuren, Studienbüros, Anwälten, Buchprüfern und sonstige ähnliche Dienstleistungen sowie die Datenverarbeitung und die Überlassung von Informationen;



k)      elektronisch erbrachte Dienstleistungen, unter anderem die in Anhang II genannten Dienstleistungen.“

7        In Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199 sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.“

8        Art. 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Die Mehrwertsteuer schuldet der steuerpflichtige Dienstleistungsempfänger im Sinne des Artikels 56 oder der in dem Mitgliedstaat, in dem die Steuer geschuldet wird, für Mehrwertsteuerzwecke erfasste Dienstleistungsempfänger im Sinne der Artikel 44, 47, 50, 53, 54 und 55, wenn die Dienstleistung von einem nicht in diesem Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen erbracht wird.“

9        Anhang II der Mehrwertsteuerrichtlinie („Exemplarisches Verzeichnis elektronisch erbrachter Dienstleistungen im Sinne des Artikels 56 Absatz 1 Buchstabe k“) lautet:

„1.      Bereitstellung von Websites, Webhosting, Fernwartung von Programmen und Ausrüstungen;

2.      Bereitstellung von Software und deren Aktualisierung;

3.      Bereitstellung von Bildern, Texten und Informationen sowie Bereitstellung von Datenbanken;

4.      Bereitstellung von Musik, Filmen und Spielen, einschließlich Glücksspielen und Lotterien sowie von Sendungen und Veranstaltungen aus den Bereichen Politik, Kultur, Kunst, Sport, Wissenschaft und Unterhaltung;

5.      Erbringung von Fernunterrichtsleistungen.“

10      Die Europäische Kommission erließ am 2. Juli 2009 eine zur Erläuterung ihrer Haltung bestimmte Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat über die Option der Mehrwertsteuergruppe gemäß Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie (KOM [2009] 325 endgültig).

 Schwedisches Recht

11      Die Mehrwertsteuerrichtlinie wurde durch das Mervärdesskattelag (1994:200) (Mehrwertsteuergesetz [1994:200], im Folgenden: Mervärdesskattelag) umgesetzt.

12      Durch Kapitel 1 § 1 Mervärdesskattelag soll Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie umgesetzt werden, indem bestimmt wird, dass für die Erbringung von Dienstleistungen im Inland, die steuerpflichtig sind und im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit vorgenommen werden, an den Staat Mehrwertsteuer zu entrichten ist.

13      Nach Kapitel 1 § 2 Abs. 1 Nr. 1, wodurch die Art. 193 und 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie umgesetzt werden sollen, hat derjenige, der eine Leistung im Sinne von Kapitel 1 § 1 erbringt, Mehrwertsteuer auf diese Leistung zu entrichten, sofern sich aus den Nrn. 2 bis 4 nichts anderes ergibt. Aus Abs. 1 Nr. 2 ergibt sich, dass derjenige, der Dienstleistungen im Sinne von Kapitel 5 § 7 Mervärdesskattelag von einem ausländischen Unternehmen erwirbt, auf den Erwerb Mehrwertsteuer zu entrichten hat.

14      Nach Kapitel 1 § 15 Mervärdesskattelag gilt als ausländischer Unternehmer ein Wirtschaftsteilnehmer, der in Schweden weder den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit noch eine feste Niederlassung hat und dort auch keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort hat.

15      Nach Kapitel 5 § 7 Abs. 1 Mervärdesskattelag, durch den Art. 56 der Mehrwertsteuerrichtlinie umgesetzt werden soll, gelten die in Abs. 2 genannten Dienstleistungen als im Inland erbracht, wenn sie von einem nicht zur Europäischen Union gehörenden Land aus erbracht werden und der Empfänger ein Unternehmer ist, der den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit in Schweden hat. Zu den in § 7 Abs. 2 angeführten Dienstleistungen gehören u. a. Dienstleistungen von Studienbüros und dergleichen sowie elektronisch erbrachte Dienstleistungen, die die Fernwartung von Programmen und die Bereitstellung von Software und deren Aktualisierung betreffen.

16      In Bezug auf den Begriff der Gruppe von Personen, die als ein Mehrwertsteuerpflichtiger behandelt werden können (im Folgenden: Mehrwertsteuergruppe), hat das Königreich Schweden von der in Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht und die Bestimmungen des Kapitels 6a §§ 1 bis 4 Mervärdesskattelag erlassen, wonach zwei oder mehr Unternehmer als ein einziger Unternehmer, d. h. als Mehrwertsteuergruppe, und die von ihnen ausgeübten Tätigkeiten als eine einzige Tätigkeit angesehen werden können. Gemäß diesen Bestimmungen kann nur die feste Niederlassung eines Unternehmers in Schweden einer Mehrwertsteuergruppe angehören, wobei eine solche Gruppe nur Unternehmer umfassen kann, die in finanzieller, wirtschaftlicher und organisatorischer Hinsicht eng miteinander verbunden sind. Weiter geht aus diesen Bestimmungen hervor, dass eine Mehrwertsteuergruppe auf Antrag ihrer Mitglieder durch eine Entscheidung des Skatteverk über die Registrierung gebildet wird.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17      SAC war in den Jahren 2007 und 2008 die im Skandia-Konzern auf globaler Ebene für den Einkauf von IT-Dienstleistungen zuständige Gesellschaft und übte ihre Tätigkeiten in Schweden durch ihre Zweigniederlassung Skandia Sverige aus. SAC vertrieb extern erworbene IT-Dienstleistungen an verschiedene Gesellschaften des Skandia-Konzerns sowie an Skandia Sverige, die seit dem 11. Juli 2007 als Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe eingetragen ist. Die Aufgabe von Skandia Sverige bestand darin, die extern erworbenen IT-Dienstleistungen zu dem als IT-Produktion bezeichneten Endprodukt weiterzuverarbeiten. Dieses Endprodukt wurde sodann verschiedenen Gesellschaften des Skandia-Konzerns zur Verfügung gestellt, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mehrwertsteuergruppe. Bei der Erbringung der Dienstleistungen – sowohl zwischen SAC und Skandia Sverige als auch zwischen Skandia Sverige und anderen Gesellschaften des Skandia-Konzerns – wurde ein Aufschlag von 5 % berechnet. Zwischen SAC und Skandia Sverige wurden die Kosten durch die Ausstellung interner Rechnungen zugewiesen.

18      Das Skatteverk entschied, auf die von SAC an Skandia Sverige erbrachten IT-Dienstleistungen für die Steuerjahre 2007 und 2008 Mehrwertsteuer zu erheben. Es sah in diesen Leistungen steuerbare Umsätze und hielt SAC für mehrwertsteuerpflichtig. Folglich wurde Skandia Sverige ebenfalls als mehrwertsteuerpflichtig eingestuft und als Zweigniederlassung von SAC in Schweden zur Entrichtung des auf diese Leistungen entfallenden Mehrwertsteuerbetrags herangezogen.

19      Skandia Sverige erhob gegen die entsprechenden Bescheide Klage bei dem vorlegenden Gericht.

20      Unter diesen Umständen hat der Förvaltningsrätt i Stockholm (Verwaltungsgericht Stockholm) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Stellen extern erworbene Dienstleistungen, die von der Hauptniederlassung eines Unternehmens in einem Drittland an seine Zweigniederlassung in einem Mitgliedstaat erbracht werden und bei denen die Kosten für den Erwerb der Zweigniederlassung zugewiesen werden, steuerpflichtige Umsätze dar, wenn die Zweigniederlassung zu einer Mehrwertsteuergruppe in diesem Mitgliedstaat gehört?

2.      Wenn die erste Frage zu bejahen ist, ist dann die Hauptniederlassung in dem Drittland als nicht in dem Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger gemäß Art. 196 der Richtlinie anzusehen – mit der Folge, dass der Empfänger für die Umsätze zu besteuern ist?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

21      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 1, Art. 9 und Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass die von einer Hauptniederlassung in einem Drittland an eine Zweigniederlassung in einem Mitgliedstaat erbrachten Dienstleistungen steuerbare Umsätze darstellen, wenn die Zweigniederlassung einer Mehrwertsteuergruppe angehört.

22      Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie u. a. Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegen.

23      Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert, wer „Steuerpflichtiger“ ist, nämlich Personen, die eine wirtschaftliche Tätigkeit „selbstständig“ ausüben. Für eine einheitliche Anwendung der Mehrwertsteuerrichtlinie ist es besonders wichtig, dass der in ihrem Titel III definierte Begriff „Steuerpflichtiger“ autonom und einheitlich ausgelegt wird.

24      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Leistung nur dann steuerbar, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden (Urteil FCE Bank, C-210/04, EU:C:2006:196, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Zur Klärung der Frage, ob ein solches Rechtsverhältnis zwischen einer gebietsfremden Gesellschaft und einer ihrer Zweigniederlassungen besteht, die in einem Mitgliedstaat ansässig ist, so dass die erbrachten Leistungen der Mehrwertsteuer unterliegen, ist zu untersuchen, ob diese Zweigniederlassung einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgeht. Hierzu ist zu prüfen, ob eine solche Zweigniederlassung als selbständig betrachtet werden kann, insbesondere ob sie das wirtschaftliche Risiko ihrer Tätigkeit trägt (Urteil FCE Bank, EU:C:2006:196, Rn. 35).

26      Als Zweigniederlassung von SAC wird Skandia Sverige indessen nicht selbständig tätig und trägt nicht selbst die mit ihrer Tätigkeit verbundenen wirtschaftlichen Risiken. Außerdem gilt nach nationalem Recht, dass sie als Zweigniederlassung nicht über eigenes Kapital verfügt und ihr Betriebsvermögen Eigentum der SAC ist. Folglich ist Skandia Sverige von SAC abhängig und kann daher nicht selbst Steuerpflichtiger im Sinne von Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie sein.

27      Zum Vorliegen einer Vereinbarung über die Aufteilung der Kosten, wie sie im Ausgangsverfahren durch die Ausstellung interner Rechnungen zum Ausdruck kam, ist zu sagen, dass es sich um einen nicht relevanten Umstand handelt, da eine solche Vereinbarung nicht zwischen unabhängigen Parteien ausgehandelt wurde (Urteil FCE Bank, EU:C:2006:196, Rn. 40).

28      Es steht jedoch fest, dass Skandia Sverige einer nach Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie gebildeten Mehrwertsteuergruppe angehört und folglich mit den anderen Mitgliedern einen einzigen Steuerpflichtigen bildet. Dieser Mehrwertsteuergruppe wurde von der zuständigen nationalen Behörde eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer zugeteilt.

29      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Verschmelzung zu einem einzigen Steuerpflichtigen es ausschließt, dass die Mitglieder einer Mehrwertsteuergruppe weiterhin getrennt Mehrwertsteuererklärungen abgeben und innerhalb wie außerhalb ihres Konzerns weiter als Steuerpflichtige angesehen werden, da nur der einzige Steuerpflichtige befugt ist, diese Erklärungen abzugeben (Urteil Ampliscientifica und Amplifin, C-162/07, EU:C:2008:301, Rn. 19). Folglich sind in einer solchen Situation die von einem Dritten zugunsten eines Mitglieds der Mehrwertsteuergruppe erbrachten Dienstleistungen für Mehrwertsteuerzwecke nicht als zugunsten dieses Mitglieds, sondern vielmehr als zugunsten seiner Mehrwertsteuergruppe erbracht anzusehen.

30      Somit können die von einer Gesellschaft wie SAC zugunsten ihrer einer Mehrwertsteuergruppe angehörenden Zweigniederlassung wie Skandia Sverige erbrachten Dienstleistungen für Mehrwertsteuerzwecke nicht als an Letztere erbracht angesehen werden, sondern müssen als an die Mehrwertsteuergruppe erbracht angesehen werden.

31      Da die Dienstleistungen, die eine Gesellschaft wie SAC zugunsten ihrer Zweigniederlassung gegen Entgelt erbringt, nur für Mehrwertsteuerzwecke als zugunsten der Mehrwertsteuergruppe erbracht anzusehen sind und die Gesellschaft und die Zweigniederlassung nicht als ein Steuerpflichtiger angesehen werden können, ist der Schluss zu ziehen, dass die Erbringung solcher Dienstleistungen einen steuerbaren Umsatz im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellt.

32      Aufgrund aller vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1, Art. 9 und Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass die von einer Hauptniederlassung in einem Drittland zugunsten einer Zweigniederlassung in einem Mitgliedstaat erbrachten Dienstleistungen steuerbare Umsätze darstellen, wenn die Zweigniederlassung einer Mehrwertsteuergruppe angehört.

 Zur zweiten Frage

33      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 56, 193 und 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die Hauptniederlassung einer in einem Drittland ansässigen Gesellschaft gegen Entgelt Dienstleistungen zugunsten einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Zweigniederlassung derselben Gesellschaft erbringt und diese Zweigniederlassung in diesem Mitgliedstaat einer Mehrwertsteuergruppe angehört, die Mehrwertsteuergruppe als Dienstleistungsempfänger die Mehrwertsteuer schuldet.

34      Es ist daran zu erinnern, dass die Mehrwertsteuer nach Art. 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie – abweichend von der allgemeinen Regelung des Art. 193, wonach die Mehrwertsteuer in einem Mitgliedstaat von dem Steuerpflichtigen geschuldet wird, der eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt – von dem steuerpflichtigen Dienstleistungsempfänger geschuldet wird, wenn Dienstleistungen im Sinne des Art. 56 der Richtlinie von einem nicht in dem entsprechenden Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen erbracht werden.

35      Insoweit genügt die Feststellung, dass die Erbringung von Dienstleistungen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, wie aus Rn. 31 des vorliegenden Urteils hervorgeht, einen steuerbaren Umsatz im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellt und dass die Mehrwertsteuergruppe, der die Zweigniederlassung angehört, die diese Dienstleistungen in Anspruch genommen hat, für Mehrwertsteuerzwecke als der Empfänger dieser Dienstleistungen gilt.

36      Außerdem steht fest, dass die im Ausgangsverfahren erbrachten Dienstleistungen unter Art. 56 der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen.

37      Unter diesen Umständen – und wenn ferner feststeht, dass die Gesellschaft, die diese Dienstleistungen erbracht hat, in einem Drittland ansässig ist und eine von der Mehrwertsteuergruppe getrennte Steuerpflichtige darstellt – wird die Mehrwertsteuer gemäß der Ausnahmeregelung des Art. 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Mehrwertsteuergruppe als Empfänger von Dienstleistungen im Sinne von Art. 56 der Richtlinie geschuldet.

38      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 56, 193 und 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die Hauptniederlassung einer in einem Drittland ansässigen Gesellschaft gegen Entgelt Dienstleistungen zugunsten einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Zweigniederlassung derselben Gesellschaft erbringt und diese Zweigniederlassung in diesem Mitgliedstaat einer Mehrwertsteuergruppe angehört, diese Mehrwertsteuergruppe als Dienstleistungsempfänger die Mehrwertsteuer schuldet.

 Kosten

39      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 2 Abs. 1, Art. 9 und Art. 11 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass die von einer Hauptniederlassung in einem Drittland zugunsten einer Zweigniederlassung in einem Mitgliedstaat erbrachten Dienstleistungen steuerbare Umsätze darstellen, wenn die Zweigniederlassung einer Gruppe von Personen angehört, die als ein einziger Mehrwertsteuerpflichtiger angesehen werden können.

2.      Die Art. 56, 193 und 196 der Richtlinie 2006/112 sind dahin auszulegen, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die Hauptniederlassung einer in einem Drittland ansässigen Gesellschaft gegen Entgelt Dienstleistungen zugunsten einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Zweigniederlassung derselben Gesellschaft erbringt und diese Zweigniederlassung in diesem Mitgliedstaat einer Gruppe von Personen angehört, die als ein einziger Mehrwertsteuerpflichtiger angesehen werden können, diese Gruppe als Dienstleistungsempfänger die Mehrwertsteuer schuldet.

Unterschriften

Verfahrenssprache: Schwedisch.



SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MELCHIOR WATHELET
vom 8. Mai 2014(1)
Rechtssache C-7/13


Skandia America Corp. (USA), filial Sverige
gegen
Skatteverket
(Vorabentscheidungsersuchen des Förvaltningsrätt i Stockholm [Schweden])
„Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Mehrwertsteuergruppe – Interne Verrechnung von Dienstleistungen, die eine Muttergesellschaft mit Sitz in einem Drittstaat ihrer Zweigniederlassung, die in einem Mitgliedstaat zu einer Mehrwertsteuergruppe gehört, erbringt – Frage der Steuerbarkeit der erbrachten Dienstleistungen“


I –    Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der schwedischen Zweigniederlassung der Skandia America Corporation mit Sitz in den Vereinigten Staaten und dem Skatteverk (schwedische Steuerverwaltung) wegen dessen Entscheidung, die Dienstleistungen mit Mehrwertsteuer zu belasten, die die Skandia America Corporation gegenüber ihrer schwedischen Zweigniederlassung erbrachte, die in Schweden als Mitglied einer als ein einziger Mehrwertsteuerpflichtiger behandelten Gruppe mehrerer Gesellschaften (im Folgenden: Mehrwertsteuergruppe) eingetragen ist, ergangen.

2.        In der Rechtssache FCE Bank urteilte der Gerichtshof, dass eine feste Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat, die kein von dem Unternehmen, zu dem sie gehört, verschiedenes Rechtssubjekt ist und der das Unternehmen Dienstleistungen erbringt, nicht aufgrund der Kosten, mit denen sie wegen der genannten Dienstleistungen belastet wird, als Mehrwertsteuerpflichtiger anzusehen ist(2).

3.        Die vorliegende Rechtssache, die die Auslegung von Art. 9 Abs. 1, Art. 11 und Art. 196 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(3) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) betrifft, wirft im Wesentlichen die Frage auf, ob der vom Gerichtshof in seinem Urteil FCE Bank (EU:C:2006:196) genannte Grundsatz anwendbar ist, wenn die Zweigniederlassung in dem Staat, in dem sie sich befindet, zu einer Mehrwertsteuergruppe gehört, und bejahendenfalls, ob Mehrwertsteuerpflichtiger die Erbringerin oder die Empfängerin der in Rede stehenden Dienstleistungen ist.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

4.        Art. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„(1)      Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:



c)      Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;

…“

5.        Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.“

6.        Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Nach Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer (nachstehend ‚Mehrwertsteuerausschuss‘ genannt) kann jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln.

Ein Mitgliedstaat, der die in Absatz 1 vorgesehene Möglichkeit in Anspruch nimmt, kann die erforderlichen Maßnahmen treffen, um Steuerhinterziehungen oder -umgehungen durch die Anwendung dieser Bestimmung vorzubeugen.“

7.        Art. 43 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistungserbringer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnsitz oder sein gewöhnlicher Aufenthaltsort.“

8.        In Art. 56 Abs. 1 Buchst. c und k der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„(1)      Als Ort der folgenden Dienstleistungen, die an außerhalb der Gemeinschaft ansässige Dienstleistungsempfänger oder an Steuerpflichtige, die innerhalb der Gemeinschaft, jedoch außerhalb des Staates des Dienstleistungserbringers ansässig sind, erbracht werden, gilt der Ort, an dem der Dienstleistungsempfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, für welche die Dienstleistung erbracht worden ist, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen Niederlassung sein Wohnsitz oder sein gewöhnlicher Aufenthaltsort:



c)      Dienstleistungen von Beratern, Ingenieuren, Studienbüros, Anwälten, Buchprüfern und sonstige ähnliche Dienstleistungen sowie die Datenverarbeitung und die Überlassung von Informationen;



k)      elektronisch erbrachte Dienstleistungen, unter anderem die in Anhang II genannten Dienstleistungen;

…“

9.        Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199 sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.“

10.      Art. 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Die Mehrwertsteuer schuldet der steuerpflichtige Dienstleistungsempfänger im Sinne des Artikels 56 oder der in dem Mitgliedstaat, in dem die Steuer geschuldet wird, für Mehrwertsteuerzwecke erfasste Dienstleistungsempfänger im Sinne der Artikel 44, 47, 50, 53, 54 und 55, wenn die Dienstleistung von einem nicht in diesem Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen erbracht wird.“

11.      Anhang II („Exemplarisches Verzeichnis elektronisch erbrachter Dienstleistungen im Sinne des Artikels 56 Absatz 1 Buchstabe k“) lautet:

„1.      Bereitstellung von Websites, Webhosting, Fernwartung von Programmen und Ausrüstungen;

2.      Bereitstellung von Software und deren Aktualisierung;

3.      Bereitstellung von Bildern, Texten und Informationen sowie Bereitstellung von Datenbanken;

4.      Bereitstellung von Musik, Filmen und Spielen, einschließlich Glücksspielen und Lotterien sowie von Sendungen und Veranstaltungen aus den Bereichen Politik, Kultur, Kunst, Sport, Wissenschaft und Unterhaltung;

5.      Erbringung von Fernunterrichtsleistungen.“

B –    Schwedisches Recht

12.      Aus Kapitel 6a §§ 1 bis 4 des Mehrwertsteuergesetzes (Mervärdesskattelag [1994:200]) geht hervor, dass zwei oder mehr Unternehmer als ein einziger Unternehmer (Mehrwertsteuergruppe) und die von ihnen ausgeübten Tätigkeiten als eine einzige Tätigkeit angesehen werden können. Zu einer Mehrwertsteuergruppe können nur die Betriebsstätten eines Unternehmers in Schweden gehören. Eine Mehrwertsteuergruppe kann nur Unternehmer umfassen, die in finanzieller, wirtschaftlicher und organisatorischer Hinsicht eng miteinander verbunden sind. Sie wird auf Antrag ihrer Mitglieder durch Entscheidung des Skatteverk über die Registrierung gebildet. Die Bestimmung wurde auf der Grundlage der Ermächtigung in Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie erlassen.

13.      Nach Kapitel 5 § 7 Abs. 1 Mervärdesskattelag werden die in Abs. 2 genannten Dienstleistungen im Inland erbracht, wenn sie von einem nicht zur Europäischen Union gehörenden Land aus erbracht werden und der Empfänger ein Unternehmer ist, der den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit in Schweden hat. Zu diesen Dienstleistungen zählen u. a. Dienstleistungen von Studienbüros und dergleichen sowie elektronisch erbrachte Dienstleistungen, die die Fernwartung von Programmen und die Bereitstellung von Software und deren Aktualisierung betreffen. Mit der Bestimmung soll Art. 56 der Mehrwertsteuerrichtlinie umgesetzt werden.

14.      Nach Kapitel 1 § 2 Abs. 1 Nr. 1 Mervärdesskattelag hat, wer eine Leistung im Sinne von Kapitel 1 § 1 dieses Gesetzes erbringt, Mehrwertsteuer auf diese Leistung zu entrichten. Aus Kapitel 1 § 2 Abs. 1 Nr. 2 Mervärdesskattelag ergibt sich, dass derjenige, der Dienstleistungen im Sinne von Kapitel 5 § 7 von einem ausländischen Unternehmer erwirbt, auf den Erwerb Mehrwertsteuer zu entrichten hat. Mit den Bestimmungen sollen die Art. 193 und 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie umgesetzt werden.

15.      Nach Kapitel 1 § 15 Mervärdesskattelag gilt als ausländischer Unternehmer ein Wirtschaftsteilnehmer, der in Schweden weder den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit noch eine feste Niederlassung hat und dort auch nicht seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort hat.

III – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16.      Die Skandia America Corporation ist eine Gesellschaft nach dem Recht von Delaware (Vereinigte Staaten) und hat den Sitz ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit in den Vereinigten Staaten. Sie gehört zum Versicherungskonzern Old Mutual, dessen Muttergesellschaft die Old Mutual plc mit Sitz im Vereinigten Königreich ist. In den Besteuerungsjahren 2007 und 2008 war die Skandia America Corporation die zentrale Einkaufsgesellschaft des Konzerns für IT-Dienstleistungen. Sie stellte diese extern erworbenen IT-Dienstleistungen verschiedenen Gesellschaften und Zweigniederlassungen innerhalb des Konzerns, darunter auch ihrer schwedischen Zweigniederlassung, zur Verfügung.

17.      Die schwedische Zweigniederlassung ist seit dem 11. Juli 2007 als Mitglied der Mehrwertsteuergruppe der Versicherungsgesellschaft Försäkringsaktiebolaget Skandia (publ) eingetragen. Sie war damit beauftragt, die von der Skandia America Corporation erbrachten IT-Dienstleistungen zu dem Endprodukt IT-Produktion weiterzuverarbeiten. Die IT-Produktion wurde sodann Gesellschaften im Konzern zur Verfügung gestellt, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mehrwertsteuergruppe. Bei der Erbringung der Dienstleistungen – sowohl von der Skandia America Corporation an ihre schwedische Zweigniederlassung als auch von dieser Zweigniederlassung an die übrigen Gesellschaften des Konzerns – wurde ein „mark-up“ (Aufschlag) von 5 % in Rechnung gestellt. Zwischen der Skandia America Corporation und ihrer schwedischen Zweigniederlassung wurden die Kosten durch die Ausstellung von internen Rechnungen zugewiesen.

18.      Das Skatteverk entschied, von der Skandia America Corporation auf deren Dienstleistungen an ihre schwedische Zweigniederlassung Mehrwertsteuer zu erheben, da es sich seiner Ansicht nach um steuerpflichtige Umsätze handelte. Es registrierte die schwedische Zweigniederlassung für diesen Zweck als Mehrwertsteuerschuldnerin und setzte die Steuer zu deren Lasten – als Niederlassung der Skandia America Corporation in Schweden – fest.

19.      Die schwedische Zweigniederlassung hat beim vorlegenden Gericht Klage auf Aufhebung dieser Entscheidung erhoben, wobei sie die Auffassung vertritt, es gebe keine Rechtsgrundlage dafür, Umsätze, die zwischen einer Hauptniederlassung und ihrer Zweigniederlassung bewirkt würden, zu besteuern und die Zweigniederlassung parallel zu der bestehenden Registrierung in der Mehrwertsteuergruppe als Mehrwertsteuerpflichtiger zu registrieren.

20.      Da das vorlegende Gericht der Ansicht ist, dass die im Ausgangsrechtsstreit aufgeworfenen Mehrwertsteuerfragen vom Gerichtshof noch nicht entschieden worden seien, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Stellen extern erworbene Dienstleistungen, die von der Hauptniederlassung eines Unternehmens in einem Drittland an seine Zweigniederlassung in einem Mitgliedstaat erbracht werden und bei denen die Kosten für den Erwerb der Zweigniederlassung zugewiesen werden, steuerpflichtige Umsätze dar, wenn die Zweigniederlassung zu einer Mehrwertsteuergruppe in diesem Mitgliedstaat gehört?

2.      Wenn die erste Frage zu bejahen ist, ist dann die Hauptniederlassung in dem Drittland als nicht in dem Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger gemäß Art. 196 der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem anzusehen – mit der Folge, dass der Empfänger für die Umsätze zu besteuern ist?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

21.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 7. Januar 2013 beim Gerichtshof eingegangen. Die Skandia America Corporation, das Skatteverk, die deutsche Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

22.      Am 21. Januar 2014 hat der Gerichtshof den Beteiligten folgende Frage zur Beantwortung in der mündlichen Verhandlung übermittelt:

„Die Beteiligten werden nach Art. 61 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs aufgefordert, zur Frage Stellung zu nehmen, ob angesichts des Urteils FCE Bank [EU:C:2006:196] die Zweigniederlassung einer in einem Drittstaat ansässigen Gesellschaft, die sich in einem Mitgliedstaat befindet, als ‚[im] Gebiet [dieses Mitgliedstaats] ansässige [Person]‘ im Sinne von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie angesehen werden kann“.

23.      Am 12. März 2014 fand eine mündliche Verhandlung statt, in der die Skandia America Corporation, die schwedische Regierung, die deutsche Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission mündlich Stellung genommen haben.

V –    Prüfung

A –    Zur ersten Vorlagefrage

24.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob außerhalb des Konzerns erworbene Dienstleistungen, die von der Hauptniederlassung eines Unternehmens in einem Drittland an seine Zweigniederlassung in einem Mitgliedstaat erbracht werden und bei denen die Kosten für den Erwerb der Zweigniederlassung zugewiesen werden, mehrwertsteuerpflichtige Umsätze darstellen, wenn die Zweigniederlassung zu einer Mehrwertsteuergruppe in diesem Mitgliedstaat gehört.

25.      Mit anderen Worten betrifft diese Frage die Anwendbarkeit des im Urteil FCE Bank (EU:C:2006:196) genannten Grundsatzes, wenn die Zweigniederlassung einer Gesellschaft mit Sitz in einem Drittstaat in dem Mitgliedstaat, in dem sie sich befindet zu einer Mehrwertsteuergruppe gehört. In der genannten Rechtssache hat der Gerichtshof geurteilt, „dass eine feste Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat, die kein von dem Unternehmen, zu dem sie gehört, verschiedenes Rechtssubjekt ist und der das Unternehmen Dienstleistungen erbringt, nicht aufgrund der Kosten, mit denen sie wegen der genannten Dienstleistungen belastet wird, als Steuerpflichtiger anzusehen ist“(4).

1.      Vorbringen der Beteiligten

26.      Die Skandia America Corporation und die deutsche Regierung gehen davon aus, dass eine Zweigniederlassung unabhängig von der Hauptniederlassung zu einer Mehrwertsteuergruppe gehören kann. Die deutsche Regierung trägt im Wesentlichen vor, Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie sei durch die Bezugnahme auf „[im] Gebiet [des Mitgliedstaats der Gruppe] ansässige Personen“ auf feste Niederlassungen ausländischer Steuerpflichtiger, die sich im Gebiet dieses Mitgliedstaats befänden, anwendbar.

27.      Die Skandia America Corporation und die deutsche Regierung vertreten des Weiteren die Auffassung, der Grundsatz der Unternehmenseinheit zwischen einer Hauptniederlassung und einer Zweigniederlassung, der im Urteil FCE Bank (EU:C:2006:196) genannt worden sei, sei auch anwendbar, wenn die Zweigniederlassung zu einer Mehrwertsteuergruppe gehöre. Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie ermächtige einen Mitgliedstaat nicht, eine Hauptniederlassung und ihre Zweigniederlassung künstlich in zwei Steuerpflichtige aufzuteilen.

28.      Hierzu vertritt die Skandia America Corporation die Ansicht, ihre schwedische Zweigniederlassung verfüge über keine ausreichende Autonomie, um derart auf eigene Rechnung und eigene Verantwortung zu handeln und allein die wirtschaftlichen Risiken ihrer Tätigkeit zu tragen, so dass hinsichtlich der Mehrwertsteuer ein Umsatz zwischen ihr und der Hauptniederlassung bestünde. Aus den in den Rn. 36 bis 40 des Urteils FCE Bank (EU:C:2006:196) angeführten Gründen und insbesondere wegen der Tatsache, dass die Zweigniederlassung nicht die mit der Ausübung der Tätigkeiten des Unternehmens verbundenen wirtschaftlichen Risiken trage und über kein Dotationskapital verfüge, vertritt die Skandia America Corporation die Auffassung, ihre Zweigniederlassung könne hinsichtlich der Kosten, die dieser für die Weiterverarbeitung der außerhalb des Konzerns erworbenen IT-Dienstleistungen auferlegt würden, nicht als Mehrwertsteuerpflichtiger betrachtet werden.

29.      Die deutsche Regierung vertritt ihrerseits die Ansicht, die Wirkungen des Grundsatzes der Unternehmenseinheit gälten nur für die Niederlassungen desselben Rechtsträgers sowie im Rahmen der Mehrwertsteuergruppenbesteuerung nur für die im Mitgliedstaat der Gruppe ansässigen Gruppenmitglieder. Demnach seien die Innenleistungen zwischen den verschiedenen zu einer Mehrwertsteuergruppe gehörenden Rechtsträgern nicht mehrwertsteuerpflichtig, soweit sie sich auf Vorgänge beschränkten, an denen ausschließlich im Mitgliedstaat der Mehrwertsteuergruppe belegene Niederlassungen (einschließlich Hauptniederlassungen) beteiligt seien. Daher seien diese Leistungen mehrwertsteuerpflichtig, wenn eine der Parteien der Dienstleistung eine Niederlassung (einschließlich einer Hauptniederlassung) sei, die nicht im Mitgliedstaat der Mehrwertsteuergruppe belegen sei.

30.      Die Regierung des Vereinigten Königreichs vertritt ihrerseits ebenfalls die Ansicht, dass der vom Gerichtshof in seinem Urteil FCE Bank (EU:C:2006:196) genannte Grundsatz im vorliegenden Fall anwendbar sei und dass die Erbringung von Dienstleistungen zwischen der Hauptniederlassung und der Zweigniederlassung nicht steuerpflichtig sei.

31.      Demgegenüber ist sie im Gegensatz zur Skandia America Corporation und zur deutschen Regierung der Auffassung, dass eine Zweigniederlassung nicht selbständig zu einer Mehrwertsteuergruppe gehören könne. Sie stützt sich auf den Wortlaut von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der auf „[in dem] Gebiet [des Mitgliedstaats, in dem die Mehrwertsteuergruppe gebildet wird,] ansässige Personen, die … rechtlich unabhängig … sind“(5), Bezug nehme.

32.      Nach Ansicht der Regierung des Vereinigten Königreichs erstreckt sich der Begriff „ansässige Personen“ auf eine juristische Person als Ganze, wozu die fragliche Zweigniederlassung gehöre. Daher müsse im vorliegenden Fall diese „Person“ die Skandia America Corporation, die in Schweden über ihre Zweigniederlassung niedergelassen sei, und nicht die Zweigniederlassung als solche sein.

33.      Das Skatteverk, die schwedische Regierung und die Kommission treten diesen Auslegungen der Art. 9 und 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie entgegen. Sie wenden sich zwar nicht gegen den im Urteil FCE Bank (EU:C:2006/196) genannten Grundsatz, sind jedoch der Ansicht, dass er nicht anwendbar sei, wenn allein die Zweigniederlassung in eine Mehrwertsteuergruppe aufgenommen worden sei. Vielmehr habe die Aufnahme der Zweigniederlassung in eine Mehrwertsteuergruppe zur Folge, dass nach dem in Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie angeführten Grundsatz des einzigen Steuerpflichtigen die Zweigniederlassung nicht mehr zum selben Steuerpflichtigen wie die Hauptniederlassung gehöre.

34.      Zur Untermauerung ihres Standpunkts führen das Skatteverk, die schwedische Regierung und die Kommission u. a. das Urteil Ampliscientifica und Amplifin an, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass „die Umsetzung der in Art. [11 der Mehrwertsteuerrichtlinie] vorgesehenen Regelung [verlangt], dass die aufgrund dieser Bestimmung erlassene nationale Regelung es Personen, insbesondere Gesellschaften, zwischen denen finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Verbindungen bestehen, gestattet, nicht mehr als getrennte Mehrwertsteuerpflichtige, sondern zusammen als ein Steuerpflichtiger behandelt zu werden“(6).

35.      Gestützt auf diesen Grundsatz des einzigen Steuerpflichtigen machen das Skatteverk, die schwedische Regierung und die Kommission geltend, die Aufnahme der Zweigniederlassung in die Mehrwertsteuergruppe führe dazu, dass es mehrwertsteuerrechtlich eine Erbringung von Dienstleistungen zwischen zwei Steuerpflichtigen, nämlich der Hauptniederlassung der Skandia America Corporation und der Mehrwertsteuergruppe, einschließlich ihrer Zweigniederlassung, gebe.

36.      Zu der Möglichkeit, die Zweigniederlassung einer Gesellschaft ohne die Hauptniederlassung in eine Mehrwertsteuergruppe aufzunehmen, führt die Kommission aus, der in Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie enthaltene Ausdruck „in seinem Gebiet ansässige Personen“ sei in dem Sinn auszulegen, den sie in ihrer Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat über die Option der MwSt-Gruppe gemäß Artikel 11 der Richtlinie 2006/112 des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden: Mitteilung)(7) geäußert habe.

37.      Nach dieser Mitteilung bedeutet dieser Ausdruck, dass im Ausland belegene Zweigniederlassungen, die zu Rechtsträgern mit Sitz im Gebiet des Mitgliedstaats der Mehrwertsteuergruppe gehören, nicht in die Mehrwertsteuergruppe aufgenommen werden können. Im Umkehrschluss können die im Gebiet des Mitgliedstaats der Mehrwertsteuergruppe belegenen Zweigniederlassungen, die zu Rechtsträgern mit Sitz im Ausland gehören, in die Mehrwertsteuergruppe aufgenommen werden.

38.      Das Skatteverk, die schwedische Regierung und die Kommission sind somit der Ansicht, die Aufnahme der in Rede stehenden schwedischen Zweigniederlassung in die Mehrwertsteuergruppe stelle den im Urteil FCE Bank (EU:C:2006:196) genannten Grundsatz nicht infrage.

2.      Würdigung

39.      Ausgangspunkt meiner Prüfung ist der Wortlaut von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie, nach dem „jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln [kann]“.

40.      Wie die vom Gerichtshof den Beteiligten zur Beantwortung in der mündlichen Verhandlung gestellte Frage nahelegt, ist zunächst zu klären, ob eine Zweigniederlassung als solche in dem Mitgliedstaat, in dem sie belegen ist, zu einer Mehrwertsteuergruppe gehören kann, d. h., ohne dass in diese Mehrwertsteuergruppe auch die Gesellschaft, zu der sie gehört und die ihren Sitz nicht in diesem Mitgliedstaat hat, aufgenommen wird. Mit anderen Worten ist zu klären, ob die schwedische Zweigniederlassung der Skandia America Corporation als in dem schwedischen Gebiet ansässige „Person“ im Sinne von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie qualifiziert werden kann.

41.      Dieser Begriff ist vom Gerichtshof bereits in der Rechtssache Kommission/Irland(8) analysiert worden, obgleich sich diese Analyse auf die spezifische Frage beschränkte, ob der in Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie verwendete Begriff „Person“ einen „Steuerpflichtigen“ im Sinne von Art. 9 dieser Richtlinie erfasst.

42.      Entgegen den Ausführungen der schwedischen und der deutschen Regierung in der mündlichen Verhandlung gestattete der Gerichtshof mit seiner Feststellung, dass nichtsteuerpflichtige Personen in eine Mehrwertsteuergruppe einbezogen werden können(9), nicht, dass Zweigniederlassungen getrennt von ihrer Hauptniederlassung in eine Mehrwertsteuergruppe aufgenommen werden.

43.      Der Umstand, dass der Gerichtshof im Urteil Kommission/Irland entschieden hat, dass „Person“ nicht „Steuerpflichtiger“ bedeutet, impliziert nämlich bloß, dass mehrere Personen die nicht selbst Steuerpflichtige sind, durch Gründung einer Mehrwertsteuergruppe zusammen einen Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie bilden können, d. h. jemanden, der „eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig“ ausübt. Im genannten Urteil hat der Gerichtshof somit nicht den in Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie verwendeten Begriff „Person“ definiert.

44.      Ich möchte auf den terminologischen Unterschied zwischen Art. 9 und Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie hinweisen. Art. 9 unterliegt, „wer eine wirtschaftliche Tätigkeit … ausübt“(10), während Art. 11 für „[in dem] Gebiet [des Mitgliedstaats, in dem die Mehrwertsteuergruppe gebildet wird,] ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind“(11), gilt.

45.      Meines Erachtens belegt dieser Unterschied, dass der persönliche Anwendungsbereich von Art. 11 enger ist als jener von Art. 9. Der Begriff „Person“ kann demnach nur im gewöhnlichen Sinne verstanden werden, nämlich als „jeder, der Rechtspersönlichkeit besitzt“(12), d. h. natürliche und juristische Personen, was bereits enger ist als das bloße „wer“. Dieser Unterschied wird im Urteil Heerma erläutert, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass der Begriff des Steuerpflichtigen nicht nur natürliche und juristische Personen umfasst, sondern auch Einheiten ohne Rechtspersönlichkeit wie etwa eine niederländische Gesellschaft bürgerlichen Rechts(13). Ich denke nicht, dass diese Auslegung möglich gewesen wäre, wenn sich Art. 9 ebenfalls auf eine „Person“ bezogen hätte.

46.      Folglich kann – wie die Regierung des Vereinigten Königreichs vorträgt – eine Einheit nur dann einer Mehrwertsteuergruppe beitreten, wenn sie eine eigene „Person“ ist, was bei einer Zweigniederlassung nicht der Fall ist.

47.      Im Übrigen können die Hauptniederlassung und ihre Zweigniederlassung, die derselben juristischen Person angehören, nicht beide mehrwertsteuerpflichtig sein.

48.      Denn wie Generalanwalt Léger in Nr. 56 seiner Schlussanträge in der Rechtssache FCE Bank (C-210/04, EU:C:2005:582) erläutert hat, „[steht] es vorbehaltlich der Konsultation des in [Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie] vorgesehenen Ausschusses für Mehrwertsteuer jedem Mitgliedstaat [frei], im Inland ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln. Wie die Regierung des Vereinigten Königreichs bemerkt, kann diese Bestimmung im Umkehrschluss dahin verstanden werden, dass ein und dieselbe Rechtsperson nur ein einziger Steuerpflichtiger sein kann“.

49.      Die Schlussfolgerung, wonach eine Zweigniederlassung als solche nicht ohne die Gesellschaft, zu der sie gehört, einer Mehrwertsteuergruppe beitreten kann, entspricht voll und ganz dem Urteil FCE Bank (EU:C:2006:196), was keiner der Beteiligten bestreitet. In diesem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass „eine Leistung nur dann steuerbar ist, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden“(14). Er hat geurteilt, dass die Zweigniederlassung keiner selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachging, da sie nicht selbst die wirtschaftlichen Risiken trug, die mit der Tätigkeit des Unternehmens, zu dem sie gehörte, verbunden sind(15). Somit ist er zu dem Schluss gekommen, dass eine Zweigniederlassung, die kein von dem Unternehmen, zu dem sie gehört, verschiedenes Rechtssubjekt ist, nicht als gegenüber diesem Unternehmen selbständig Steuerpflichtiger anzusehen ist(16).

50.      Zudem vertreten das Skatteverk, die schwedische Regierung und die Kommission die Auffassung, dass das Urteil FCE Bank (EU:C:2006:196) nicht auf eine Situation angewandt werden könne, in der die Zweigniederlassung zu einer Mehrwertsteuergruppe gehöre, denn durch die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe gehöre sie nicht mehr zu dem steuerpflichtigen Unternehmen und werde Teil eines anderen Steuerpflichtigen, nämlich der Mehrwertsteuergruppe.

51.      Die Kommission stützt sich eingehend auf ihre Mitteilung, in der sie ausgeführt hatte, dass Art. 11 gemäß den Grundsätzen der Territorialität und der Steuerhoheit ausgelegt werden müsse(17), nach denen die Steuerbefugnis jedes Mitgliedstaats nicht die Grenzen seines Territoriums überschreiten dürfe. Folglich könnten nur Unternehmen, bei denen sich der Sitz ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit im Gebiet des Mitgliedstaats befinde, der die Regelung für die Mehrwertsteuergruppe eingeführt habe, oder aber feste Niederlassungen solcher Unternehmen oder von ausländischen Unternehmen, die im Gebiet dieses Mitgliedstaats belegen seien, einer Mehrwertsteuergruppe beitreten.

52.      Meines Erachtens erlauben der Wortlaut der Mehrwertsteuerrichtlinie und die Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht diesen Ansatz. Übrigens räumt die Kommission selbst ein, dass ihr Standpunkt „auf den ersten Blick nicht als mit dem Urteil in der Rechtssache FCE Bank [EU:C:2006:196] vereinbar angesehen werden [mag]“(18). Entgegen der Analyse der Kommission rechtfertigt die Tatsache, dass dieses Urteil in keiner Weise auf die Situation der Mehrwertsteuergruppen Bezug nimmt, nicht, dass eine Zweigniederlassung als solche in eine Mehrwertsteuergruppe aufgenommen werden kann.

53.      Außerdem beantwortet das Vorbringen der Kommission, wonach die Zweigniederlassung durch ihre Zugehörigkeit zur Mehrwertsteuergruppe Teil eines anderen Steuerpflichtigen werde, nicht die Vorfrage, ob eine Zweigniederlassung als solche in eine Mehrwertsteuergruppe aufgenommen werden kann.

54.      Die Tatsache, dass die Erbringung von Dienstleistungen zwischen der Hauptniederlassung und der Zweigniederlassung gegen Entgelt erfolgt, ist nicht relevant. Wie der Gerichtshof in seinem Urteil FCE Bank entschieden hat, ist das „Vorliegen einer Vereinbarung über die Aufteilung der Kosten … für die vorliegende Rechtssache [ebenfalls] nicht [relevant] …, da eine solche Vereinbarung nicht zwischen unabhängigen Parteien ausgehandelt wurde“(19). Zudem handelt es sich – wie die Skandia America Corporation einräumt – um eine Preisfestsetzung und eine Aufteilung der Kosten nach internen Beschlüssen des Unternehmens, die insbesondere dazu dienen, die Gewinne der festen Niederlassung zu ermitteln(20).

55.      Im Übrigen haben die schwedische und die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung auf Rn. 33 des Urteils Crédit Lyonnais Bezug genommen, wo der Gerichtshof entschieden hat, dass „eine Gesellschaft, die ihre Hauptniederlassung in einem Mitgliedstaat und eine feste Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat hat, aufgrund dieser Tatsache im Hinblick auf die im letztgenannten Staat durchgeführten Tätigkeiten als dort niedergelassen anzusehen [ist]“(21).

56.      Auch wenn diese Passage die Erstattung der Mehrwertsteuer – sei es durch Abzug oder durch Rückzahlung – und nicht die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe betrifft, so erlaubt sie keinesfalls, dass eine Zweigniederlassung unabhängig von der Hauptniederlassung einer Mehrwertsteuergruppe beitritt. Meines Erachtens ist vielmehr das Gegenteil des Standpunkts der schwedischen und der deutschen Regierung zu vertreten, nämlich die Einbeziehung des gesamten Unternehmens in die Mehrwertsteuergruppe, da das fragliche Unternehmen wegen seiner festen Niederlassung im Mitgliedstaat der Mehrwertsteuergruppe eine „in seinem Gebiet ansässige [Person]“ im Sinne von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist.

57.      Nicht zuletzt hätte die These der Skandia America Corporation, wonach die schwedische Zweigniederlassung als solche zu einer Mehrwertsteuergruppe gehören kann, in Verbindung mit der Anwendung des im Urteil FCE Bank (EU:C:2006:196) enthaltenen Grundsatzes schließlich zur Folge, dass weder die Leistungen zwischen der amerikanischen Hauptniederlassung und ihrer schwedischen Zweigniederlassung noch die Leistungen zwischen dieser Zweigniederlassung und den anderen Mitgliedern der Mehrwertsteuergruppe steuerpflichtig wären.

58.      Zu diesem Ergebnis – das insbesondere im Versicherungsbereich von Interesse ist, wo die Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie anwendbar und somit kein Vorsteuerabzug möglich ist – kann man nur gelangen, wenn man zwei miteinander nicht vereinbare Regeln anwendet. Die Zweigniederlassung kann nicht mit der Gesellschaft, zu der sie gehört, gemäß dem Urteil FCE Bank (EU:C:2006:196) mehrwertsteuerrechtlich einen einzigen Wirtschaftsteilnehmer bilden und zugleich von dieser Gesellschaft mehrwertsteuerrechtlich getrennt sein, indem sie allein zu einer Mehrwertsteuergruppe gehört.

59.      Zudem ermöglicht der zweite Absatz von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie es den Mitgliedstaaten, „die erforderlichen Maßnahmen [zu] treffen, um Steuerhinterziehungen oder -umgehungen durch die Anwendung dieser Bestimmung vorzubeugen“. Auch der Gerichtshof hat ganz allgemein erkannt, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und möglichem Missbrauch ein Ziel ist, das von der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird(22).

3.      Ergebnis

60.      Im Licht dieser Erwägungen bin ich der Auffassung, dass die Entscheidung des Skatteverk, mit der die schwedische Zweigniederlassung der Skandia America Corporation als solche in die Mehrwertsteuergruppe der Versicherungsgesellschaft Försäkringsaktiebolaget Skandia (publ) aufgenommen wurde, gegen Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie verstößt.

61.      Was die Folgen, die das vorlegende Gericht aus dieser Rechtswidrigkeit ziehen muss, angeht, so sind vier Möglichkeiten zu nennen, und zwar in folgender Reihenfolge.

4.      Folgen der Rechtswidrigkeit

a)      Die Entscheidung, die Zweigniederlassung in die Mehrwertsteuergruppe aufzunehmen, wird aufgehoben

62.      In diesem Fall gehört die Zweigniederlassung nicht zur Mehrwertsteuergruppe. Daher sind die Leistungen zwischen der Hauptniederlassung der Skandia America Corporation und ihrer schwedischen Zweigniederlassung gemäß dem im Urteil FCE Bank (EU:C:2006:196) genannten Grundsatz nicht mehrwertsteuerpflichtig.

63.      Hingegen sind die zwischen der schwedischen Zweigniederlassung der Skandia America Corporation und der fraglichen Mehrwertsteuergruppe erbrachten Dienstleistungen mehrwertsteuerpflichtig, wobei die Mehrwertsteuer von der Skandia America Corporation gemäß Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie geschuldet wird, nach dem „[d]ie Mehrwertsteuer der Steuerpflichtige [schuldet], der … eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt“(23).

b)      Die Entscheidung, die Zweigniederlassung in die Mehrwertsteuergruppe aufzunehmen, wird rechtskonform ausgelegt

64.      In diesem Fall könnte das vorlegende Gericht die Entscheidung, durch die die Zweigniederlassung in die Mehrwertsteuergruppe aufgenommen wird, unionsrechtskonform auslegen, indem es davon ausginge, dass der Antrag auf Aufnahme in die Mehrwertsteuergruppe nur von der Skandia America Corporation als solcher gestellt werden konnte, so dass diese folglich als Ganzes der Mehrwertsteuergruppe angehören würde.

65.      Es wäre zu klären, ob eine nach dem Recht eines Drittstaats – im vorliegenden Fall der Vereinigten Staaten – gegründete Gesellschaft, die eine feste Niederlassung in einem Mitgliedstaat hat, – im vorliegenden Fall dem Königreich Schweden –, in eine in diesem Mitgliedstaat gebildete Mehrwertsteuergruppe aufgenommen werden kann.

66.      In Übereinstimmung mit der Regierung des Vereinigten Königreichs bin ich der Auffassung, dass der Wortlaut von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der sich auf „[in dem] Gebiet [des Mitgliedstaats, in dem die Steuergruppe gebildet wird,] ansässige Personen“ bezieht, es einer solchen Gesellschaft, die eine feste Niederlassung im Gebiet eines Mitgliedstaats hat, ermöglicht, als Ganzes einer in diesem Mitgliedstaat gebildeten Mehrwertsteuergruppe beizutreten.

67.      Diese Auslegung des Begriffs „ansässige Personen“ entspricht nicht nur dem Begriff der Niederlassung im Sinne des Unionsrechts, sondern auch Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie, wonach „[d]er Mehrwertsteuer … Dienstleistungen [unterliegen], die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt“(24). Als „Ort einer Dienstleistung“ gilt nach der allgemeinen Vorschrift von Art. 43 „der Ort, an dem der Dienstleistungserbringer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnsitz oder sein gewöhnlicher Aufenthaltsort“(25).

68.      Im vorliegenden Fall verfügt die Skandia America Corporation über eine feste Niederlassung in Schweden, von wo aus die fraglichen Dienstleistungen erbracht werden. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Skandia America Corporation trotz ihrer Gründung in den Vereinigten Staaten eine in Schweden im Sinne von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie ansässige Person ist.

69.      In diesem Fall wären die Leistungen, die zwischen der Hauptniederlassung der Skandia America Corporation und ihrer schwedischen Zweigniederlassung erbracht wurden, gemäß dem im Urteil FCE Bank (EU:C:2006:196) genannten Grundsatz nicht mehrwertsteuerpflichtig gewesen.

70.      Dagegen wären die Dienstleistungen zwischen der Mehrwertsteuergruppe (einschließlich der Skandia America Corporation) als Empfängerin und ihrem Lieferer (der in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Schweden oder in einem Drittland ansässig sein könnte) als Dienstleister, der nicht zum Konzern der Skandia America Corporation gehört, mehrwertsteuerpflichtig, da es sich um „Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie handeln würde.

71.      Genauer gesagt würde es sich um „im Gebiet eines Mitgliedstaats [erbrachte]“ Dienstleistungen handeln, denn in diesem Fall wäre Art. 56 anwendbar, da es sich vorliegend um elektronisch erbrachte Dienstleistungen (Abs. 1 Buchst. k dieses Artikels) handeln würde. In Abweichung von der allgemeinen Vorschrift des Art. 43 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt Art. 56 Abs. 1: „Als Ort der [fraglichen] Dienstleistungen, die … an Steuerpflichtige, die innerhalb der [Union], jedoch außerhalb des Staates des Dienstleistungserbringers ansässig sind, erbracht werden, gilt der Ort, an dem der Dienstleistungsempfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit … hat“. Im vorliegenden Fall würden die fraglichen Dienstleistungen der Mehrwertsteuergruppe erbracht, die in Schweden und außerhalb des Staates des Dienstleisters ansässig ist, der in einem Drittstaat oder in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Schweden ansässig sein könnte.

72.      Bleibt noch zu bestimmen, wer Schuldner der Mehrwertsteuer wäre. Nach Art. 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie „[schuldet] [d]ie Mehrwertsteuer der steuerpflichtige Dienstleistungsempfänger im Sinne des Artikels 56“. Aus dieser Bestimmung geht hervor, dass die Mehrwertsteuer von der Mehrwertsteuergruppe als Dienstleistungsempfängerin geschuldet würde.

c)      Weder die Skandia America Corporation noch die Zweigniederlassung gehören zur Mehrwertsteuergruppe

73.      Wie die schwedische Regierung in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, gründet sich die Aufnahme einer Person in eine Mehrwertsteuergruppe auf ihren freien Willen zum Beitritt und der Genehmigung durch das Skatteverk. Wenn die Skandia America Corporation gewusst hätte, dass das Skatteverk die Aufnahme allein ihrer Zweigniederlassung nicht erlaubt, hätte sie vielleicht für sie keinen Antrag auf Aufnahme in die Mehrwertsteuergruppe gestellt. Daher wäre es meines Erachtens richtig, die Entscheidung zur Aufnahme der schwedischen Zweigniederlassung der Skandia America Corporation in die fragliche Mehrwertsteuergruppe nur dann dahin auszulegen, dass die Skandia America Corporation als Ganzes Mitglied dieser Mehrwertsteuergruppe wird, wenn dies der Wille der Gesellschaft ist.

74.      Wenn dem nicht so wäre, fänden auch auf diesen Fall die mehrwertsteuerrechtlichen Folgen des erstgenannten Falles Anwendung(26).

d)      Die Entscheidung des Skatteverk, die Dienstleistungen, die die Skandia America Corporation ihrer schwedischen Zweigniederlassung erbringt, mit Mehrwertsteuer zu belasten, ist durch die Bekämpfung der Steuerumgehung gerechtfertigt (Art. 11 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie)

75.      Auf diesen Fall ist zurückzugreifen, wenn, wie die Skandia America Corporation in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, aus Gründen des nationalen Rechts die Entscheidung, die schwedische Zweigniederlassung der Skandia America Corporation in die Mehrwertsteuergruppe aufzunehmen, nicht mehr aufgehoben werden konnte und auch nicht auf die im zweit- und im drittgenannten Fall beschriebene Art ausgelegt werden konnte. In diesem Fall könnte sich die angefochtene Entscheidung des Skatteverk auf Art. 11 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie stützen, der einen Mitgliedstaat, der von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, die Bildung von Mehrwertsteuergruppen zuzulassen, ermächtigt, „die erforderlichen Maßnahmen [zu] treffen, um Steuerhinterziehungen oder -umgehungen durch die Anwendung dieser Bestimmung vorzubeugen“.

76.      Wie ich in den Nrn. 57 und 58 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, hätte die Aufnahme allein der schwedischen Zweigniederlassung der Skandia America Corporation in die Mehrwertsteuergruppe in Verbindung mit der Anwendung des im Urteil FCE Bank (EU:C:2006:196) enthaltenen Grundsatzes zur Folge, dass die Leistungen zwischen der amerikanischen Hauptniederlassung und ihrer schwedischen Zweigniederlassung nicht mehrwertsteuerpflichtig wären, obwohl die Leistungen zwischen der Zweigniederlassung und den anderen Mitgliedern der Mehrwertsteuergruppe aufgrund von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie ebenfalls nicht steuerpflichtig wären. Dieser Vorgang würde zu einem Ergebnis führen, das vom Unionsgesetzgeber nicht gewollt war, nämlich der Nichtbesteuerung der in Rede stehenden Erbringung von Dienstleistungen.

77.      In einem solchen Fall müssten daher die Transaktionen zwischen der Hauptniederlassung der Skandia America Corporation und ihrer schwedischen Zweigniederlassung mit Mehrwertsteuer belastet werden, wobei die Steuer entsprechend der Ansicht der Kommission gemäß den Art. 56 und 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Mehrwertsteuergruppe als Empfängerin der Dienstleistungen geschuldet würde(27).

78.      Ich halte fest, dass in den vier Fällen die fraglichen Dienstleistungen mehrwertsteuerpflichtig sind.

79.      Somit ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die Zweigniederlassung einer nach dem Recht eines Drittstaats gegründeten Gesellschaft nicht unabhängig von dieser in eine Mehrwertsteuergruppe, die in dem Mitgliedstaat gebildet wurde, in dem die Zweigniederlassung ansässig ist, aufgenommen werden kann. Die Dienstleistungen, die zwischen der Hauptniederlassung und der Zweigniederlassung erbracht wurden, sind im Gegensatz zu den Dienstleistungen, die zwischen der Zweigniederlassung und ihren Kunden – unabhängig davon, ob diese der Mehrwertsteuergruppe angehören oder nicht – erbracht wurden, keine mehrwertsteuerpflichtigen Vorgänge.

B –    Zur zweiten Vorlagefrage

80.      Hilfsweise ist, falls der Gerichtshof entscheiden sollte, dass außerhalb des Konzerns erworbene Dienstleistungen, die von der Hauptniederlassung eines Unternehmens in einem Drittland an seine Zweigniederlassung in einem Mitgliedstaat erbracht werden, die zu einer in diesem Mitgliedstaat gebildeten Mehrwertsteuergruppe gehört, und bei denen die Kosten für den Erwerb der Zweigniederlassung zugewiesen werden, mehrwertsteuerpflichtige Umsätze darstellen, die zweite vom vorlegenden Gericht gestellte Frage zu beantworten.

81.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Hauptniederlassung dieses Unternehmens „als nicht in dem Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger gemäß Art. 196 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] anzusehen [ist] – mit der Folge, dass der Empfänger für die Umsätze zu besteuern ist“.

82.      Nach Ansicht der Skandia America Corporation und der Kommission wird, falls die Leistungen zwischen der Hauptniederlassung und der Zweigniederlassung steuerpflichtig sind, die Mehrwertsteuer gemäß Art. 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie – nach dem die Mehrwertsteuer vom steuerpflichtigen Dienstleistungsempfänger im Sinne von Art. 56 dieser Richtlinie geschuldet wird – von der Mehrwertsteuergruppe geschuldet.

83.      Der Skandia America Corporation und der Kommission zufolge ist in einer Situation, in der eine feste Niederlassung, die zu einem Steuerpflichtigen gehört, der im Ausland ansässig ist, einer Mehrwertsteuergruppe in dem Mitgliedstaat, in dem diese gegründet wurde, beitritt, davon auszugehen, dass diese Niederlassung mehrwertsteuerrechtlich nicht ohne ihre Zugehörigkeit zu dieser Mehrwertsteuergruppe existiert. Die Kommission schlägt daher eine teleologische Auslegung von Art. 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie vor, die zu dem Ergebnis führe, dass die Skandia America Corporation als eine nicht im fraglichen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige anzusehen sei und die Mehrwertsteuer von der Mehrwertsteuergruppe als Empfängerin der Leistungen im Sinne von Art. 56 der Mehrwertsteuerrichtlinie geschuldet werde.

84.      Das Skatteverk seinerseits vertritt die Auffassung, dass die Voraussetzungen von Art. 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie im vorliegenden Fall nicht erfüllt seien, da der Erbringer der fraglichen Dienstleistungen, nämlich die Skandia America Corporation, mittels ihrer schwedischen Zweigniederlassung im selben Mitgliedstaat wie die Empfängerin der Dienstleistungen ansässig sei, d. h. in Schweden. Daher hindere die Tatsache, dass die schwedische Zweigniederlassung der Skandia America Corporation zu der schwedischen Mehrwertsteuergruppe gehöre, dieses Unternehmen nicht, als ein in Schweden ansässiger Steuerpflichtiger angesehen zu werden. Daraus folge, dass die Mehrwertsteuer aufgrund von Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Skandia America Corporation geschuldet werde.

85.      Ich bin vom Standpunkt des Skatteverk nicht überzeugt. Ich weise darauf hin, dass die zweite Frage sich nur dann stellt, wenn infolge der Antwort auf die erste Frage die Vorgänge zwischen der Hauptniederlassung der Skandia America Corporation und ihrer schwedischen Zweigniederlassung steuerpflichtig wären. Dies impliziert, dass die schwedische Zweigniederlassung nicht mehr als eine Niederlassung des Dienstleisters angesehen werden kann, sondern als Teil des Empfängers der Dienstleistungen, nämlich der Mehrwertsteuergruppe, anzusehen ist. Ich teile daher den Standpunkt der Skandia America Corporation und der Kommission, dass in einem solchen Fall die Mehrwertsteuer gemäß Art. 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Mehrwertsteuergruppe geschuldet würde.

86.      Dieses Ergebnis könnte aus Sicht des Skatteverk absurd erscheinen, da die Skandia America Corporation offensichtlich in Schweden mittels ihrer schwedischen Zweigniederlassung ansässig ist, man aber nur dann zu diesem Ergebnis gelangt, wenn man dem Standpunkt des Skatteverk folgt, wonach die Rechtsprechung FCE Bank (EU:C:2006:196) nicht anwendbar ist, wenn die Zweigniederlassung zu einer Mehrwertsteuergruppe gehört. Meines Erachtens bilden diese Widersprüche ein weiteres Argument dafür, dem Standpunkt des Skatteverk und der Kommission zur ersten Frage nicht zu folgen.

87.      Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass, wenn die in einem Drittstaat belegene Hauptniederlassung eines Unternehmens ein steuerpflichtiger Dienstleister ist, der in dem Mitgliedstaat, in dem das Unternehmen eine Zweigniederlassung hat, nicht ansässig ist, es die Empfängerin der Dienstleistungen ist, nämlich die Mehrwertsteuergruppe, zu der diese Zweigniederlassung gehört, die für die in Rede stehenden Leistungen gemäß Art. 56 dieser Verordnung zu besteuern ist.

VI – Ergebnis

88.      Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorabentscheidungsfragen des Förvaltningsrätt i Stockholm wie folgt zu beantworten:

–        In erster Linie:

1.      Art. 11 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass die Zweigniederlassung einer nach dem Recht eines Drittstaats gegründeten Gesellschaft nicht unabhängig von dieser in eine als ein einziger Mehrwertsteuerpflichtiger behandelte Gruppe mehrerer Gesellschaften, die in dem Mitgliedstaat gebildet wurde, in dem die Zweigniederlassung ansässig ist, aufgenommen werden kann. Die Dienstleistungen, die zwischen der Hauptniederlassung und der Zweigniederlassung erbracht wurden, sind im Gegensatz zu den Dienstleistungen, die zwischen der Zweigniederlassung und ihren Kunden – unabhängig davon, ob diese der Gruppe angehören oder nicht – erbracht wurden, keine mehrwertsteuerpflichtigen Vorgänge.

–        Hilfsweise:

2.      Art. 196 der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass, wenn die in einem Drittstaat belegene Hauptniederlassung eines Unternehmens ein steuerpflichtiger Dienstleister ist, der in dem Mitgliedstaat, in dem das Unternehmen eine Zweigniederlassung hat, nicht ansässig ist, es die Empfängerin der Dienstleistungen ist, nämlich die als ein einziger Mehrwertsteuerpflichtiger behandelte Gruppe mehrerer Gesellschaften, zu der diese Zweigniederlassung gehört, die für die in Rede stehenden Leistungen gemäß Art. 56 dieser Verordnung zu besteuern ist.

1 –    Originalsprache: Französisch.

2 –    C-210/04, EU:C:2006:196, Rn. 41.

3 –    ABl. L 347, S. 1.

4 –    Urteil FCE Bank (EU:C:2006:196, Rn. 41).

5 –    Hervorhebung nur hier.

6 –    Urteil Ampliscientifica und Amplifin (C-162/07, EU:C:2008:301, Rn. 19). Hervorhebung nur hier.

7 –    KOM(2009) 325 endg., Nr. 3.3.2.

8 –    Urteil Kommission/Irland (C-85/11, EU:C:2013:217). Vgl. auch Urteile Kommission/Schweden (C-480/10, EU:C:2013:263), Kommission/Niederlande (C-65/11, EU:C:2013:265), Kommission/Finnland (C-74/11, EU:C:2013:266), Kommission/Vereinigtes Königreich (C-86/11, EU:C:2013:267) sowie Kommission/Tschechische Republik (C-109/11, EU:C:2013:269).

9 –    Urteil Kommission/Irland (EU:C:2013:217, Rn. 50).

10 –    Hervorhebung nur hier.

11 –    Hervorhebung nur hier.

12 –    Cornu, G., Vocabulaire juridique, 9. Auflage, PUF, Paris, 2011, S. 752.

13 –      C-23/98, EU:C:2000:46.

14 –    FCE Bank (EU:C:2006:196, Rn. 34).

15 –    Ebd. (Rn. 35 bis 41).

16 –    Ebd. (Rn. 41).

17 –    KOM(2009) 325 endg., Nr. 3.3.2.1.

18 –    Ebd., Nr. 3.3.2.2.

19 –    EU:C:2006:196, Rn. 40. In Rn. 41 hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die Zweigniederlassung „nicht aufgrund der Kosten, mit denen sie wegen der genannten Dienstleistungen belastet wird, als Steuerpflichtiger“ angesehen werden konnte. Hervorhebung nur hier.

20 –    Vgl. auch in diesem Sinne Nrn. 65 und 66 der Schlussanträge von Generalanwalt Léger in der Rechtssache FCE Bank (EU:C:2005:582).

21 –    C-388/11, EU:C:2013:541.

22 –    Vgl. u. a. Urteile Halifax u. a. (C-255/02, EU:C:2006:121, Rn. 71), Kittel und Recolta Recycling (C-439/04 und C-440/04, EU:C:2006:446, Rn. 54), R. (C-285/09, EU:C:2010:742, Rn. 36), Tanoarch (C-504/10, EU:C:2011:707, Rn. 50), Mahagében (C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 41), Bonik (C-285/11, EU:C:2012:774, Rn. 35) sowie Stroy trans (C-642/11, EU:C:2013:54, Rn. 46).

23 –    Art. 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der in Verbindung mit ihrem Art. 56 dem Dienstleistungsempfänger die Pflicht zur Zahlung der Mehrwertsteuer auferlegt, ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da die fraglichen Dienstleistungen nicht „an Steuerpflichtige, die innerhalb der [Union], jedoch außerhalb des Staates des Dienstleistungserbringers ansässig sind“, erbracht werden. Die Mehrwertsteuergruppe als Dienstleistungsempfänger hat ihren Sitz in Schweden, wo auch mittels seiner schwedischen Zweigniederlassung der Erbringer der fraglichen Dienstleistungen ansässig ist, nämlich die Skandia America Corporation. Daher ist Art. 43 dieser Richtlinie anwendbar, nach dem „[a]ls Ort einer Dienstleistung der Ort [gilt], an dem der Dienstleistungserbringer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird“. Hervorhebung nur hier.

24 –    Hervorhebung nur hier.

25 –    Hervorhebung nur hier.

26 –    Vgl. Nrn. 62 und 63 der vorliegenden Schlussanträge.

27 –    Für eine ausführlichere Prüfung vgl. Nrn. 81 bis 87 der vorliegenden Schlussanträge.

Quellen

Mehrwertsteuerhinterziehung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MACIEJ SZPUNAR
vom 11. September 2014(1)
Verbundene Rechtssachen C-131/13, C-163/13 und C-164/13
I,1 Nach einer auf Initiative der Europäischen Kommission vor Kurzem durchgeführten Untersuchung belief sich der Verlust von Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in den Mitgliedstaaten im Jahr 2011 auf 193 Milliarden Euro, was 18 % der geschuldeten Steuern und 1,5 % des Bruttoinlandsprodukts ausmacht(2). Diesem Ausfall mögen unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen, doch ist Steuerhinterziehung eine der hauptsächlichen. Es überrascht deshalb nicht, dass die Bekämpfung der Mehrwertsteuerhinterziehung die nationalen Behörden und Gerichte zunehmend beschäftigt. Seit einiger Zeit gewinnt diese Problematik auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs an Bedeutung.

(2) vgl. Pressemitteilung der Kommission vom 19. September 2013, IP/13/844