update: EuGH Entscheidung Pfleger (
EuGH- C-390/12) vom 30. April 2014
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SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
ELEANOR SHARPSTON
Rechtssache C‑390/12
Robert Pfleger
Autoart a.s.
Mladen Vucicevic
Maroxx Software GmbH
Ing. Hans-Jörg Zehetner
(Vorabentscheidungsersuchen des Unabhängigen Verwaltungssenats des Landes Oberösterreich [Österreich])
„Art. 56 AEUV – Freier
Dienstleistungsverkehr – Glücksspiele – Regelung, wonach die
Bereitstellung von Glücksspielautomaten ohne Konzession verboten ist –
Begrenzte Zahl von Konzessionen – Strafrechtliche Sanktionen –
Verhältnismäßigkeit – Charta der Grundrechte“
1. Nach
österreichischem Recht dürfen Glücksspiele mittels Automaten nur von
konzessionierten Unternehmern durchgeführt werden.
Die Konzessionen stehen nur in begrenzter Zahl zur Verfügung.
Glücksspielautomaten, die ohne Konzession öffentlich zugänglich
gemacht werden, unterliegen der Einziehung und Vernichtung. Wer
nach den Feststellungen ohne Konzession an der Organisation
von Glücksspielen teilnimmt, wird mit verwaltungsbehördlichen
oder strafrechtlichen Sanktionen belegt.
2. Der
Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich möchte wissen, ob
Art. 56 AEUV und die Charta der Grundrechte der
Europäischen Union(
2) (im Folgenden: Charta) diesen Beschränkungen bzw. den im Fall eines Verstoßes verhängten Sanktionen entgegenstehen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Charta
3. Nach
Art. 15 Abs. 2 der Charta haben alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger
die Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu
suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen
zu erbringen. Nach Art. 16 wird die unternehmerische Freiheit
nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen
Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt. Art. 17 garantiert das
Recht,
rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber
zu verfügen und es zu vererben; das Eigentum darf nur entzogen
werden, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt, in einem
Gesetz vorgesehen ist und eine angemessene Entschädigung geleistet
wird. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt
werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist.
4. Gemäß
Art. 47 muss jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte
Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das
Recht haben, bei einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor
durch Gesetz errichteten Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf
einzulegen. Art. 50 bestimmt, dass niemand wegen einer
Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz
rechtskräftig
verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem
Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden darf.
5. Nach Art. 51 Abs. 1 gilt die Charta für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
6. Art. 56
AEUV verbietet Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs
innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten,
die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des
Leistungsempfängers ansässig sind.
7. Solche
Beschränkungen können zugelassen werden, wenn insoweit eine
ausdrückliche Ausnahme nach Art. 52 Abs. 1 AEUV gilt, der
aufgrund von Art. 62 AEUV auf die Erbringung von
Dienstleistungen Anwendung findet.
Nationales Recht
8. In § 2 des Glücksspielgesetzes (GSpG) in der derzeit geltenden Fassung(
3)
sind „Ausspielungen“ im Wesentlichen definiert als Glücksspiele, die
ein Unternehmer öffentlich zugänglich macht, bei denen
ein Einsatz geleistet und ein Gewinn ausgeschüttet wird. In
diesem Sinne ist „Unternehmer“, wer selbständig eine nachhaltige
Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen aus der Durchführung von
Glücksspielen ausübt, mag sie auch nicht auf Gewinn gerichtet
sein. Wenn von unterschiedlichen Personen in Absprache
miteinander die Durchführung solcher Glücksspiele angeboten wird, gelten
sie alle auch dann als Unternehmer, wenn bei ihnen die
Einnahmenerzielungsabsicht fehlt oder sie an der öffentlichen
Zugänglichmachung
des Glücksspiels nur beteiligt sind. Ausspielungen, für die
eine Konzession oder Bewilligung nicht erteilt wurde, sind verboten.
9. Nach § 3
GSpG ist das Recht zur Durchführung von Glücksspielen dem Bund
vorbehalten; hiervon ausgenommen sind Glücksspielautomaten,
deren Betrieb aufgrund der §§ 4 bzw. 5 GSpG durch Gesetze der
Bundesländer geregelt sind.
10. Nach § 4
GSpG unterliegen Landesausspielungen mit Glücksspielautomaten nach
Maßgabe des § 5 nicht dem Glücksspielmonopol des
Bundes.
11. § 5 GSpG
bestimmt, dass jedes der neun Bundesländer bis zu drei Konzessionen an
Unternehmer von sogenannten kleinen Glücksspielen
mit Automaten erteilen kann. Die Konzessionen werden für einen
Zeitraum von bis zu 15 Jahren mit bestimmten ordnungspolitischen
und den Spielerschutz betreffenden Auflagen bewilligt. Kleine
Glücksspiele dürfen in Automatensalons mit mindestens zehn und
höchstens 50 Automaten mit Einsätzen von höchstens 10 Euro und
Gewinnen von höchstens 10 000 Euro pro Spiel oder in Einzelaufstellung
mit höchstens drei Automaten mit Einsätzen von höchstens 1 Euro
und Gewinnen von höchstens 1 000 Euro pro Spiel angeboten
werden.
12. Nach § 14
in Verbindung mit §§ 15 und 17 GSpG kann der Bund unter bestimmten
Voraussetzungen das ausschließliche Recht zur
Durchführung von Ausspielungen verschiedener Art durch
Erteilung einer Konzession für die Dauer von höchstens 15 Jahren gegen
Entrichtung einer Abgabe übertragen.
13. Gemäß § 21
GSpG kann der Bund bis zu 15 Konzessionen mit einer Höchstdauer von 15
Jahren zur Durchführung von Glücksspielen
in Spielbanken erteilen. Für jeden Konzessionsantrag ist eine
Gebühr in Höhe von 10 000 Euro und für jede Konzessionserteilung
eine weitere Gebühr in Höhe von 100 000 Euro zu zahlen. Die im
Rahmen dieser Konzessionen durchgeführten Spiele werden zu
einem Satz zwischen 16 % und 40 % pro Jahr besteuert (§§ 17,
28, 57 und 59a Abs. 1 GSpG).
14. Nach § 52
GSpG ist mit einer Verwaltungsgeldstrafe von bis zu 22 000 Euro zu
bestrafen, wer als „Unternehmer“ Glücksspiele
ohne Konzession durchführt oder sich daran beteiligt. Bei
Einsätzen von über 10 Euro pro Spiel tritt hingegen Strafbarkeit
nach dem stattdessen anwendbaren § 168 Abs. 1 des
Strafgesetzbuchs (StGB) ein. Nach der Rechtsprechung des Obersten
Gerichtshofs
ist bei „Serienspielen“, für die der Einzeleinsatz unter 10
Euro, die Summe aller Einsätze aber über diesem Betrag liegt,
ebenfalls die Strafbarkeit nach § 168 Abs. 1 StGB gegeben.
15. Nach § 53
GSpG kann ein Glücksspielautomat vorläufig in Beschlag genommen werden,
wenn der Verdacht besteht, dass der Betrieb
des Automaten gegen Bestimmungen des GSpG verstößt.
16. § 54 GSpG
sieht die Einziehung von Gegenständen vor, mit denen gegen Bestimmungen
des § 52 Abs. 1 verstoßen wurde; die Einziehung
ist allen Personen anzuzeigen, die ein Recht auf den Gegenstand
geltend machen können. Eingezogene Gegenstände sind von der
Behörde zu vernichten.
17. Gemäß § 56a GSpG kann ein Betrieb, der Glücksspiele entgegen den gesetzlichen Vorschriften durchführt, geschlossen werden.
18. Die
Veranstaltung von Glücksspielen ohne Konzession für gewerbliche Zwecke
stellt eine Straftat dar. Gemäß § 168 Abs. 1 StGB
macht sich strafbar, „[wer] ein Spiel, bei dem Gewinn und
Verlust ausschließlich oder vorwiegend vom Zufall abhängen oder
das ausdrücklich verboten ist, veranstaltet oder eine zur
Abhaltung eines solchen Spieles veranstaltete Zusammenkunft fördert,
um aus dieser Veranstaltung oder Zusammenkunft sich oder einem
anderen einen Vermögensvorteil zuzuwenden“. Glücksspiele, die
ohne Konzession veranstaltet werden, sind verbotene Spiele im
Sinne von § 52 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 4 GSpG.
Die Tat wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit
Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen geahndet. Nach § 168 Abs. 2
StGB wird ebenso bestraft, wer sich als „Unternehmer“ im Sinne
von § 2 GSpG an einem solchen Spiel beteiligt.
Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen
19. Das
Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen von vier
Rechtsstreitigkeiten, die verschiedene Einrichtungen in Oberösterreich
betreffen (nach Angaben des vorlegenden Gerichts ist bei ihm
eine Vielzahl weiterer gleichgelagerter Fälle anhängig). In den
Ausgangsverfahren wenden sich Herr Pfleger, die Autoart a.s.,
Prag (im Folgenden: Autoart), Herr Vucicevic, die Maroxx Software
GmbH (im Folgenden: Maroxx) und Herr Zehetner gegen behördliche
Bescheide im Zusammenhang mit Glücksspielautomaten, die in
verschiedenen Betriebsstätten in Oberösterreich ohne
behördliche Konzession betriebsbereit aufgestellt waren.
20. Im Rahmen
des ersten Rechtsstreits nahm die Finanzpolizei sechs Geräte in einer
Gaststätte in Perg, in der unzulässige Glücksspiele
veranstaltet wurden, vorläufig in Beschlag. Herr Pfleger wurde
als Veranstalter ermittelt, und Autoart, eine in der Tschechischen
Republik eingetragene Gesellschaft, wurde als Eigentümerin der
Geräte angesehen. Die zuständige örtliche Behörde bestätigte
die Beschlagnahme. Mit seiner Berufung macht Herr Pfleger
geltend, er sei weder Eigentümer oder Besitzer der Geräte noch
Veranstalter
der Glücksspiele gewesen, noch habe er die Automaten an den
Lokalinhaber geliefert. Autoart macht geltend, sie stehe in keinerlei
rechtlicher Beziehung zu den Geräten und sei insbesondere weder
deren Eigentümerin, noch habe sie diese verliehen, vermietet,
vertrieben oder besessen; die Geräte würden von ihr auch nicht
„verwaltet“.
21. Im Rahmen
des zweiten Rechtsstreits nahm die Finanzpolizei in einem Lokal in Wels
acht Glücksspielautomaten vorläufig in Beschlag,
die nach den Feststellungen ohne die erforderliche Konzession
öffentlich zugänglich gemacht worden waren. Eigentümer der Geräte
war Herr Vucicevic. Die zuständige örtliche Behörde bestätigte
die Beschlagnahme. Im Zuge seiner Berufung räumt Herr Vucicevic
ein, das betreffende Lokal gekauft zu haben, bestreitet jedoch,
zugleich auch Eigentümer der Automaten geworden zu sein.
22. Im Rahmen
des dritten Rechtsstreits nahm die Finanzpolizei zwei
Glücksspielautomaten vorläufig in Beschlag, die in einer von
der deutschen Staatsangehörigen Jacqueline Baumeister
betriebenen Tankstelle in Regau ohne die erforderliche Konzession
öffentlich
zugänglich gemacht worden waren. Die zuständige örtliche
Behörde bestätigte die Beschlagnahme; die von Frau Baumeister gegen
die Beschlagnahme eingelegte Berufung wurde als verspätet
zurückgewiesen. Anschließend wurde die Einziehung verfügt und Maroxx,
einer in Österreich eingetragenen Gesellschaft, als
Eigentümerin der Geräte angezeigt, die hiergegen Berufung einlegte.
23. Im Rahmen
des vierten Rechtsstreits nahm die Finanzpolizei drei
Glücksspielautomaten in Beschlag, die ohne die erforderliche
Konzession in einer von Herrn Hans-Jörg Zehetner betriebenen
Tankstelle in Enns öffentlich zugänglich gemacht worden waren.
Die zuständige Behörde ermittelte Maroxx als Eigentümerin der
Geräte und erließ einen Bescheid, mit dem die Beschlagnahme
bestätigt wurde. Gegen Herrn Zehetner wurde eine Geldstrafe in
Höhe von 1 000 Euro (im Fall der Nichtzahlung eine Freiheitsstrafe
in Höhe von 15 Stunden) verhängt. Die gegen Maroxx festgesetzte
Geldstrafe betrug 10 000 Euro (Ersatzfreiheitsstrafe 152 Stunden)(
4).
24. Mit seiner
Berufung wendet Herr Zehetner ein, das nationale Recht sei mit dem
Unionsrecht, insbesondere mit Art. 56 AEUV und
bestimmten Vorschriften der Charta, unvereinbar.
25. Da es nach
Auffassung des vorlegenden Gerichts für die Entscheidung der bei ihm
anhängigen Rechtsstreitigkeiten auf die Auslegung
des Unionsrechts ankommt, ersucht es um Vorabentscheidung
folgender Fragen:
1. Steht das in Art. 56 AEUV und
in den Art. 15 bis 17 der Charta zum Ausdruck kommende
Verhältnismäßigkeitsprinzip einer nationalen
Regelung wie den in den Ausgangsverfahren maßgeblichen
Bestimmungen der §§ 3 bis 5 sowie §§ 14 und 21 GSpG, die die
Durchführung
von Glücksspielen mittels Automaten nur unter der – sowohl
strafsanktionierten als auch unmittelbar sacheingriffsbedrohten
– Voraussetzung der Erteilung einer vorangehenden, jedoch nur
in begrenzter Anzahl verfügbaren Erlaubnis ermöglicht, obwohl
bislang – soweit ersichtlich – von staatlicher Seite in keinem
einzigen gerichtlichen oder verwaltungsbehördlichen Verfahren
nachgewiesen wurde, dass eine damit verbundene Kriminalität
und/oder Spielsucht tatsächlich ein erhebliches Problem, dem nicht
durch eine kontrollierte Expansion von zugelassenen
Spieltätigkeiten auf viele Einzelanbieter, sondern nur durch eine
kontrollierte,
mit bloß maßvoller Werbung verbundene Expansion eines
Monopolisten (bzw. sehr weniger Oligopolisten) abgeholfen werden kann,
darstellen, entgegen?
2. Für den Fall, dass diese erste
Frage zu verneinen ist: Steht das in Art. 56 AEUV und in den Art. 15
bis 17 der Charta zum
Ausdruck kommende Verhältnismäßigkeitsprinzip einer nationalen
Regelung wie den §§ 52 bis 54 GSpG, § 56a GSpG und § 168 StGB,
durch die im Wege unbestimmter Gesetzesbegriffe im Ergebnis
eine nahezu lückenlose Strafbarkeit auch vielfältiger Formen von
nur sehr entfernt beteiligten (unter Umständen in anderen
Mitgliedstaaten der Europäischen Union ansässigen) Personen (wie
bloßen Vertreibern, Verpächtern oder Vermietern von
Glücksspielautomaten) eintritt, entgegen?
3. Für den Fall, dass auch die
zweite Frage zu verneinen ist: Stehen die demokratisch-rechtsstaatlichen
Anforderungen, wie diese
offenkundig dem Art. 16 der Charta zugrunde liegen, und/oder
das Fairness- und Effizienzgebot des Art. 47 der Charta und/oder
das Transparenzgebot des Art. 56 AEUV und/oder das
Doppelverfolgungs- und ‑bestrafungsverbot des Art. 50 der Charta einer
nationalen Regelung wie den §§ 52 bis 54 GSpG, § 56a GSpG und
§ 168 StGB, deren wechselseitige Abgrenzung mangels eindeutiger
gesetzlicher Regelung für einen Bürger ex ante kaum
vorhersehbar und berechenbar, sondern im konkreten Einzelfall jeweils
erst im Wege eines aufwendigen förmlichen Verfahrens
klärbar ist, an die sich jedoch weitreichende Unterschiede
hinsichtlich der Zuständigkeiten (Verwaltungsbehörde oder Gericht),
der Eingriffsbefugnisse, der damit jeweils verbundenen
Stigmatisierung und der prozessualen Stellung (z. B. Beweislastumkehr)
knüpfen, entgegen?
4. Für den Fall, dass eine dieser
drei ersten Fragen zu bejahen ist: Steht Art. 56 AEUV und/oder Art. 15
bis 17 der Charta und/oder
Art. 50 der Charta einer Bestrafung von Personen, die in einer
der in § 2 Abs. 1 Z 1 und § 2 Abs. 2 GSpG genannten Nahebeziehung
zu einem Glücksspielautomaten stehen, und/oder einer
Beschlagnahme bzw. Einziehung dieser Geräte und/oder einer Schließung
des gesamten Unternehmens solcher Personen entgegen?
26. Herr
Vucicevic, Maroxx, Herr Zehetner, die belgische, die niederländische,
die österreichische, die polnische und die portugiesische
Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen
eingereicht. In der Sitzung vom 17. Juni 2013 haben Herr Vucicevic,
Maroxx, Herr Zehetner, die belgische und die österreichische
Regierung sowie die Kommission mündlich verhandelt.
Würdigung
Zulässigkeit
27. Nach
Ansicht der österreichischen Regierung ist das
Vorabentscheidungsersuchen unzulässig, da der dargestellte Sachverhalt
und die vorgelegten Fragen zu unpräzise seien, um dem
Gerichtshof eine sachdienliche Antwort zu ermöglichen. Außerdem sei
nicht ersichtlich, dass die Rechtssache einen
grenzüberschreitenden Bezug aufweise und somit der freie
Dienstleistungsverkehr
betroffen sei.
28. Die Kommission hält die Fragen für zulässig. Es sei nicht auszuschließen, dass Rechtssubjekte aus anderen Mitgliedstaaten
Glücksspiele in Österreich anbieten wollten und den in Rede stehenden nationalen Vorschriften unterlägen.
29. Die anderen Verfahrensbeteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, äußern sich zur Frage der Zulässigkeit nicht.
30. Nach
ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es Sache des mit dem
Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, das die
Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung
zu übernehmen hat, im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls
sowohl zu beurteilen, ob eine Vorabentscheidung erforderlich
ist, damit es sein Urteil erlassen kann, als auch, ob die dem
Gerichtshof vorgelegten Fragen erheblich sind. Daher ist der
Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen
zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts
betreffen(
5).
31. Meines
Erachtens sind der den Fragen hier zugrunde liegende Sachverhalt und die
Fragen selbst klar genug herausgearbeitet,
um dem Gerichtshof eine Entscheidung zu ermöglichen.
Insbesondere sind in der Vorlageentscheidung die in den
Ausgangsverfahren
in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften so detailliert
aufgeführt, dass der Gerichtshof die für die Prüfung bedeutsamen
Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts sachdienlich
beantworten kann.
32. Bezüglich
des Einwands des nicht erkennbaren grenzüberschreitenden Bezugs ist auf
die Rechtsprechung des Gerichtshofs hinzuweisen,
wonach eine nationale Regelung, die unterschiedslos auf die
Staatsangehörigen aller Mitgliedstaaten anwendbar ist, nur dann
unter die Bestimmungen über Grundfreiheiten fallen kann, wenn
sie für Sachlagen gilt, die eine Verbindung zum Handel zwischen
den Mitgliedstaaten aufweisen(
6). So hat der Gerichtshof in der Rechtssache Garkalns das Vorabentscheidungsersuchen für zulässig erklärt, obwohl kein Element
des Rechtsstreits über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinauswies.
33. Der
Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache zeigt, dass
Wirtschaftsteilnehmer anderer Mitgliedstaaten ein Interesse an der
Veranstaltung von Glücksspielen mittels Automaten in Österreich
haben. Eine der beim nationalen Gericht anhängigen Berufungen
wurde von einer deutschen Staatsangehörigen, Frau Baumeister,
eingelegt, die eine Tankstelle betrieb, in der ein nicht zugelassener
Glücksspielautomat entdeckt wurde; ein anderer
Glücksspielautomat, der beschlagnahmt wurde, scheint von einer in der
Tschechischen
Republik eingetragenen Gesellschaft, Autoart, geliefert worden
zu sein. Ich meine daher, dass das Vorabentscheidungsersuchen
zulässig ist.
Anwendbarkeit der Charta
34. Mit allen
Vorlagefragen wird um die Auslegung von Bestimmungen der Charta ersucht.
Es stellt sich die Vorfrage, ob die Charta
Anwendung findet, wenn ein nationales Gericht eine nationale
Regelung wie die in den Ausgangsverfahren fragliche überprüft,
die eine Ausnahme von den durch das Unionsrecht verliehenen
Rechten vorsieht.
35. Diese
Problematik wird von Herrn Zehetner, der niederländischen, der
österreichischen, der polnischen und der portugiesischen
Regierung sowie von der Kommission angesprochen. Die vier
Regierungen, die Erklärungen zu diesem Punkt abgegeben haben, sind
der Ansicht, dass die Charta auf die in den Ausgangsverfahren
in Rede stehende nationale Regelung keine Anwendung finde. Herr
Zehetner und die Kommission vertreten die entgegengesetzte
Auffassung.
36. Meiner
Meinung nach ist die Charta auf eine nationale Regelung anwendbar, die
eine Ausnahme von den durch den Vertrag garantierten
Grundfreiheiten beinhaltet.
37. Der
Anwendungsbereich der Charta ist in ihrem Art. 51 Abs. 1 festgelegt,
wonach sie für die Mitgliedstaaten „ausschließlich
bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt.
38. Fraglich
ist, ob der Begriff „Durchführung“ in Art. 51 der Charta deren Anwendung
auf Fälle beschränkt, in denen ein Mitgliedstaat
zu einem konkreten Tätigwerden (z. B. zur Umsetzung einer
Richtlinie(
7)) verpflichtet ist, um dem Unionsrecht nachzukommen.
39. Meines Erachtens ist diese Frage zu verneinen.
40. Es sei
darauf hingewiesen, dass der Wortlaut der Charta in den verschiedenen
gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen (erwartungsgemäß)
in gewissem Grad sprachlich voneinander abweicht. So heißt es
im Englischen „implementing“, im Deutschen „bei der Durchführung
des Rechts der Union“ und im Französischen „lorsqu’ils mettent
en oeuvre le droit de l’Union“. Die spanische und die portugiesische
Sprachfassung (zum Beispiel) enthalten weiter gehende
Formulierungen („cuando apliquen el Derecho de la Unión“ bzw. „quando
apliquem o direito da União“). Angesichts dessen liegt es nahe,
sich an die Erläuterungen zur Charta(
8)
zu halten, die nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7
der Charta bei der Auslegung der Charta zu berücksichtigen
sind(
9). Die Erläuterungen geben folgende Hinweise zu Art. 51 Abs. 1:
„Was die Mitgliedstaaten betrifft, so ist
der Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig zu entnehmen, dass die
Verpflichtung
zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte
für die Mitgliedstaaten nur dann gilt, wenn sie im Anwendungsbereich
des Unionsrechts handeln …“
Im Weiteren werden vier Urteile des Gerichtshofs angeführt: Wachauf, ERT, Annibaldi sowie Karlsson u. a.(
10).
41. In nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon erlassenen Urteilen hat der Gerichtshof bestätigt, dass die Charta zu
beachten ist, wenn eine nationale Rechtsvorschrift
in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, und dass „[d]ie
Anwendbarkeit des Unionsrechts … die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte [umfasst]“(
11). Der Gerichtshof hat also bereits deutlich gemacht, dass darauf abzustellen ist, ob es sich um eine Fallgestaltung handelt,
auf die das Unionsrecht
Anwendung findet (d. h. die in den „
Geltungsbereich des Unionsrechts“ fällt), und nicht auf das (wohl engere) Kriterium, ob der Mitgliedstaat das Unionsrecht durch ein konkretes
Tätigwerden „durchführt“(
12).
42. Die in der
Erläuterung zu Art. 51 Abs. 1 der Charta angeführte Rechtsprechung gibt
Aufschluss darüber, was unter der Wendung
„in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen“ zu verstehen
ist. In den Urteilen Wachauf und Karlsson u. a. ging es jeweils
um nationale Vorschriften, durch die die Anwendung von
Verordnungen der Union über die Erhebung einer Zusatzabgabe auf Milch
leicht abgewandelt wurde. Zweifellos waren einige nationale
Vorschriften erforderlich, um die unionsrechtliche Regelung zu
ergänzen und durch detailliertere Ausgestaltung in vollem
Umfang funktionsfähig zu machen. Diese nationalen Vorschriften mussten
daher in Einklang mit den im Unionsrecht anerkannten
Grundrechten stehen. Im Gegensatz dazu hatten die in der Rechtssache
Annibaldi streitigen nationalen Bestimmungen (ein
Regionalgesetz zur Einrichtung eines Natur- und Archäologieparks)
eindeutig
nichts mit der Durchführung (oder auch Funktionsweise) einer
Gemeinschaftsvorschrift über die gemeinsame Organisation der
Agrarmärkte, über die Umwelt oder über die Kultur zu tun; es
gab auch keinen anderen Anknüpfungspunkt an das Gemeinschaftsrecht.
43. Von
besonderer Bedeutung für die vorliegende Rechtssache ist das Urteil ERT.
Dieses betraf ein nationales Gesetz, wonach es
einem einzigen Fernsehveranstalter gestattet war, das
Fernsehmonopol im gesamten Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats
innezuhaben
und Fernsehübertragungen jeder Art vorzunehmen. In diesem
Rahmen stellte sich die Frage, ob die durch den Vertrag garantierte
Dienstleistungsfreiheit diesem Gesetz entgegensteht. Der
Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 59 EWG-Vertrag (jetzt Art. 56
AEUV) einem solchen Monopol entgegenstehe, wenn sich dieses auf
Sendungen aus anderen Mitgliedstaaten diskriminierend auswirke
und die Regelung nicht durch einen der Gründe gerechtfertigt
sei, die in Art. 56 EWG-Vertrag (jetzt Art. 52 Abs. 1 AEUV) angegeben
seien, auf den Art. 66 EWG-Vertrag (jetzt Art. 62 AEUV)
verweise(
13). Die Rechtssache ERT betrifft daher eine Fallgestaltung, bei der ein Mitgliedstaat eine Ausnahme von der Grundfreiheit zur
Erbringung von Dienstleistungen vorsieht.
44. In der
Rechtssache ERT ging es des Weiteren um die Frage der Vereinbarkeit des
nationalen Gesetzes mit Art. 10 der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK). Hierzu hat der Gerichtshof
ausgeführt, dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen
gehörten, deren Wahrung er zu sichern habe, und dass keine
Maßnahmen als rechtens anerkannt werden könnten, die mit diesen
Grundrechten unvereinbar seien(
14).
Falle eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des
Unionsrechts, habe der Gerichtshof, wenn er im
Vorabentscheidungsverfahren
angerufen werde, dem vorlegenden Gericht alle
Auslegungskriterien an die Hand zu geben, die es benötige, um die
Vereinbarkeit
dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können,
deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern habe(
15).
Insbesondere wenn ein Mitgliedstaat sich auf Art. 66 EWG-Vertrag in
Verbindung mit Art. 56 EWG-Vertrag (jetzt Art. 62 AEUV
in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 AEUV) berufe, um eine
nationale Regelung zu rechtfertigen, die geeignet sei, die Ausübung
der Dienstleistungsfreiheit zu behindern, sei diese
Rechtfertigung im Licht der allgemeinen Rechtsgrundsätze und
insbesondere
der Grundrechte auszulegen. Nur wenn die nationale Regelung im
Einklang mit den Grundrechten stehe, deren Wahrung der Gerichtshof
zu sichern habe und zu denen auch das in Art. 10 EMRK verbürgte
Recht gehöre, könne sie als Ausnahme von der Dienstleistungsfreiheit
zugelassen werden(
16).
45. Dem Urteil
ERT lässt sich somit entnehmen, dass eine Maßnahme, die ein
Mitgliedstaat als Ausnahme von einer durch den AEU-Vertrag
garantierten Grundfreiheit erlässt, in den Geltungsbereich des
Unionsrechts fällt. Die Befugnis, unter bestimmten Voraussetzungen
eine Ausnahme von der unionsrechtlich verbürgten Grundfreiheit
vorzusehen, ist den Mitgliedstaaten vorbehalten und im Unionsrecht
auch anerkannt; die Ausübung dieser Befugnis unterliegt
jedoch den unionsrechtlichen Voraussetzungen. Prüft ein Gericht – sei es
ein nationales Gericht
oder der Gerichtshof –, ob für eine die Ausübung der
Grundfreiheit behindernde nationale Regelung eine im Vertrag vorgesehene
Ausnahme gilt (und die Regelung daher zulässig ist), wird diese
Prüfung anhand des Unionsrechts und der daraus hergeleiteten
Kriterien durchgeführt und nicht nach nationalem Recht und
seinen Maßstäben. So ergeben sich z. B. sowohl die Auslegungsregel,
dass solche Ausnahmen eng auszulegen sind, als auch die
Voraussetzung, dass eine prima facie zulässige Ausnahme
verhältnismäßig sein muss, aus dem Unionsrecht selbst. Da eine nationale
Ausnahmeregelung nur dann zulässig
ist, wenn die entsprechenden unionsrechtlichen Kriterien
erfüllt sind (andernfalls hat die im Vertrag verankerte Freiheit
Vorrang), fällt folglich die Ausnahmeregelung selbst in den
Geltungsbereich des Unionsrechts. Meiner Meinung nach ist dies
die notwendige Konsequenz sowohl der bekannten Systematik des
Vertrags (geschütztes Recht, Ausnahme von diesem Recht in begrenzten
Fällen) als auch der Aufnahme des Urteils ERT in die
Erläuterung zu Art. 51 der Charta.
46. Es ist
daher davon auszugehen, dass ein Mitgliedstaat „bei der Durchführung des
Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 handelt,
wenn er eine Ausnahme von einer Grundfreiheit einführt.
Folglich findet die Charta Anwendung. Da die in den Ausgangsverfahren
hier in Rede stehende nationale Maßnahme in den Geltungsbereich
des Unionsrechts fällt und mit ihr deshalb das Recht der Union
„durchgeführt“ wird, ist sie im Licht der Charta auszulegen.
47. Ich komme nunmehr zu den vorgelegten Fragen.
Erste Frage
48. Mit seiner
ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV
und/oder die Art. 15 bis 17 der Charta dahin
auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung
entgegenstehen, die das Recht zur Durchführung von Glücksspielen mittels
Automaten Personen oder Unternehmen vorbehält, die Inhaber von
nur in begrenzter Anzahl verfügbaren Konzessionen sind. Insbesondere
möchte das Gericht wissen, ob der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit verletzt ist, wenn nicht dargetan wurde, dass
Kriminalität
und Spielsucht erhebliche Probleme darstellten und dass diesen
Problemen, falls sie bestehen sollten, nicht durch eine kontrollierte
Expansion von zugelassenen Spieltätigkeiten mit vielen
Einzelanbietern, sondern nur durch eine kontrollierte Expansion mit
einer geringen Zahl von Anbietern abgeholfen werden könne.
49. Ich werde zunächst Art. 56 AEUV und dann die Charta prüfen.
Art. 56 AEUV
50. Mittlerweile
liegt eine umfangreiche Rechtsprechung des Gerichtshofs zu
Glücksspielen vor (einschließlich vier aufgrund früherer
Vorabentscheidungsersuchen ergangener Entscheidungen zum GSpG(
17)), in der die Kriterien aufgeführt sind, anhand deren die Frage nach der Auslegung von Art. 56 AEUV zu beurteilen ist.
51. Aus dieser
Rechtsprechung ergibt sich, dass eine Regelung wie die in den
Ausgangsverfahren fragliche, wonach nur eine begrenzte
Anzahl von Konzessionären Glücksspiele durchführen dürfen und
allen anderen Wirtschaftsteilnehmern, seien diese nun in Österreich
oder in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen, die
Erbringung solcher Dienstleistungen untersagt ist, eine Beschränkung
des freien Dienstleistungsverkehrs darstellt und daher nach
Art. 56 AEUV verboten ist(
18). Eine solche Beschränkung kann im Rahmen der im AEU-Vertrag ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen oder aus zwingenden Gründen
des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein(
19).
52. Nach
Auffassung der österreichischen Regierung ist die Beschränkung
gerechtfertigt, da mit ihr das Ziel der Gewährleistung
eines hohen Schutzniveaus für Spieler und der
Verbrechensprävention verfolgt werde. Maroxx, Herr Vucicevic und Herr
Zehetner
dagegen machen geltend, Hauptziel der Regierung sei die
Erhöhung des Steueraufkommens.
53. Nach der
Rechtsprechung des Gerichtshofs können von den Mitgliedstaaten
vorgesehene Beschränkungen für Dienstleistungen im
Spielbereich gerechtfertigt sein, wenn sie auf die
Sicherstellung des Verbraucherschutzes, einschließlich des Schutzes der
Spieler vor Spielsucht(
20) und der Verbrechensprävention(
21),
abzielen. Demgegenüber zählt die Erhöhung der Einnahmen eines
Mitgliedstaats nicht zu den Zielen, die eine Beschränkung
des freien Dienstleistungsverkehrs zu rechtfertigen vermögen,
wenngleich eine solche Erhöhung für die betreffende Regierung
eine erfreuliche Nebenfolge sein mag(
22).
54. Welche
Ziele mit der in Rede stehenden nationalen Regelung tatsächlich verfolgt
werden, ist eine Tatsachenfrage, die vom vorlegenden
Gericht zu klären ist(
23). Gelangt das nationale Gericht zu dem Ergebnis, dass das eigentliche Ziel in erster Linie in der Erhöhung der Staatseinnahmen
besteht, muss die Beschränkung als mit Art. 56 AEUV unvereinbar angesehen werden.
55. Stellt das
nationale Gericht hingegen fest, dass mit der Beschränkung tatsächlich
die zulässigen Ziele des Verbraucherschutzes
und der Verbrechensprävention verfolgt werden, hat es
anschließend zu prüfen, ob die Beschränkung verhältnismäßig ist. Es
hat sich zu vergewissern, dass die Beschränkung zur Erreichung
des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels und des
dabei angestrebten Schutzniveaus geeignet ist und nicht über
das zur Erreichung dieser Ziele Erforderliche hinausgeht.
56. Ebenso wie
ein Mitgliedstaat, der bestrebt ist, ein besonders hohes Schutzniveau zu
gewährleisten, nach der Rechtsprechung
des Gerichtshofs Grund zu der Annahme haben kann, dass nur die
Gewährung exklusiver Rechte an eine einzige Einrichtung ihm
erlaubt, die Gefahren des Glücksspiels zu beherrschen(
24), kann ein Mitgliedstaat auch Grund zu der Annahme haben, dass eine Regelung, wonach nur wenigen Anbietern eine Konzession
erteilt wird, ein geeignetes Mittel zur Bekämpfung dieser Gefahren darstellt. Im Urteil Engelmann(
25)
hat der Gerichtshof ausgeführt, dass eine Begrenzung der Zahl der
Konzessionen für den Betrieb von Spielbanken „ihrem Wesen
nach ermöglicht, die Gelegenheiten zum Spiel einzuschränken …
Da die Verbraucher sich an einen anderen Ort begeben müssen,
um in einer Spielbank an den fraglichen Glücksspielen
teilnehmen zu können, verstärkt eine Begrenzung der Zahl der Spielbanken
die Hindernisse für die Teilnahme an derartigen Spielen.“
57. Demnach
dürfte die Begrenzung der Zahl von Glücksspielbetrieben ein
verhältnismäßiges Mittel zur Erreichung des Ziels des
Verbraucherschutzes und der Verbrechensprävention sein. Durch
Zulassung einer größeren Anzahl von Betrieben zur Erbringung
solcher Dienstleistungen würde sich dieses Ziel wahrscheinlich
nicht so gut erreichen lassen, da sich verstärkt Gelegenheit
zum Spiel ergäbe. Ein solches Vorgehen ist zur Erreichung eines
hohen Schutzniveaus weniger geeignet. Dies muss jedoch vom
nationalen Gericht überprüft werden, das bei der Würdigung der
Tatsachen und der ihm vorliegenden Beweismittel auch Art, Häufigkeit
und Intensität der in konzessionierten Betrieben durchgeführten
Kontrollen zu berücksichtigen haben wird(
26).
58. Die
Beweislast dafür, dass die Beschränkung verhältnismäßig ist, tragen die
österreichischen Behörden, die dem nationalen
Gericht, das über diese Frage zu entscheiden hat, alle Umstände
vorlegen müssen, anhand deren dieses Gericht sich vergewissern
kann, dass die Maßnahme tatsächlich zur Erreichung des
angegebenen Ziels bestimmt und geeignet ist(
27). Im Urteil Dickinger und Ömer(
28)
hat der Gerichtshof klargestellt, dass das vorlegende Gericht zu
untersuchen hat, ob im entscheidungserheblichen Zeitraum
die kriminellen und betrügerischen Aktivitäten und die
Spielsucht in Österreich ein Problem waren und eine Ausweitung der
zugelassenen und geregelten Tätigkeiten diesem Problem hätte
abhelfen können. In den vorliegenden Verfahren muss das nationale
Gericht in derselben Weise vorgehen.
59. Ferner muss
sich das vorlegende Gericht vergewissern, dass die nationale Regelung
tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, das
Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen(
29). Da die Praktiken der wenigen Konzessionäre für die Erreichung oder Nichterreichung des Ziels entscheidend sein können, ist
die von diesen verfolgte Geschäftspolitik für die Beurteilung von Bedeutung(
30).
60. In seiner
Vorlageentscheidung weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die
Geschäftspolitik der Konzessionsinhaber sich
nicht auf die kontrollierte Expansion mit umfangmäßig
begrenzter Werbung beschränkt habe. Sie hätten vielmehr mit einem als
„enorm“ zu bezeichnenden Kostenaufwand „aggressive“ Werbung
betrieben, die ein positives Image von Glücksspielen fördere und
zu aktiver Spielteilnahme anrege. Der Gerichtshof geht zwar
davon aus, dass gemäßigte Werbung mit den Grundsätzen des
Verbraucherschutzes
vereinbar sein kann, allerdings nur dann, wenn die Werbung eng
auf das begrenzt bleibt, was erforderlich ist, um die Verbraucher
zu den kontrollierten Spielenetzwerken zu lenken(
31).
Werbung, die zum Spiel anregt, indem dieses verharmlost, ihm ein
positives Image verliehen oder seine Anziehungskraft erhöht
wird, zielt nicht auf die Lenkung des bestehenden Marktes auf
bestimmte Anbieter, sondern auf das Wachstum des gesamten Marktes
für Spieltätigkeiten ab. Eine solche expansionistische
Geschäftspolitik ist mit dem Ziel eines hohen Verbraucherschutzniveaus
offenkundig unvereinbar. Wie der Gerichtshof im Urteil
Dickinger und Ömer festgestellt hat: „Ein Mitgliedstaat kann sich …
nicht auf Gründe der öffentlichen Ordnung berufen, die sich auf
die Notwendigkeit einer Verminderung der Gelegenheiten zum
Spiel beziehen, wenn die Behörden dieses Mitgliedstaats die
Verbraucher dazu anreizen und ermuntern, an Glücksspielen teilzunehmen,
damit der Staatskasse daraus Einnahmen zufließen …“(
32)
61. Es ist
Sache des nationalen Gerichts, das tatsächliche Ziel der in den
Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung zu
ermitteln sowie zu beurteilen, ob – sollte es sich um ein
zulässiges Ziel handeln – die Regelung in einem angemessen Verhältnis
zu diesem steht und es kohärent und frei von Widersprüchen
verfolgt.
62. Es stellt
sich die Frage, ob eine weitere Prüfung der in den Ausgangsverfahren in
Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften
im Licht der Art. 15, 16 und 17 der Charta erforderlich ist.
Art. 15, 16 und 17 der Charta
63. Art. 15 Abs. 2 der Charta(
33)
erkennt allen Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern die Freiheit zu, in
jedem Mitgliedstaat sich niederzulassen und Dienstleistungen
zu erbringen. Nach den Erläuterungen zur Charta(
34)
wurden in Art. 15 Abs. 2 die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die
Niederlassungsfreiheit und der freie Dienstleistungsverkehr
aufgenommen, die durch die Art. 26 AEUV, 45 AEUV, 49 AEUV und
56 AEUV garantiert sind. Da diese Freiheiten in den Verträgen
vorgesehen sind, richten sich ihr Umfang und ihre Auslegung
nach Art. 52 Abs. 2 der Charta, wonach ihre „Ausübung … im Rahmen
der in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen
[erfolgt]“. In der Erläuterung zu Art. 52 Abs. 2 der Charta heißt
es außerdem, dass „[m]it der Charta … die Regelung hinsichtlich
der durch den EG-Vertrag gewährten und in die Verträge übernommenen
Rechte nicht geändert [wird]“. Was das vorliegende Verfahren
betrifft, ist die Beachtung von Art. 15 Abs. 2 der Charta also
gleichbedeutend mit der Einhaltung von Art. 56 AEUV.
64. In Art. 16
der Charta wird die unternehmerische Freiheit anerkannt, die jedoch
ausdrücklich nur „nach dem Unionsrecht und
den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“
ausgeübt werden darf. Wie sich den Erläuterungen zur Charta
ferner entnehmen lässt, kann diese Freiheit nach Art. 52 Abs. 1
der Charta beschränkt werden. Diese Bestimmung verlangt, dass
jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten
Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt
dieser Rechte und Freiheiten achten sowie unter Wahrung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein und den
von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden
Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und
Freiheiten
anderer tatsächlich entsprechen muss.
65. Im Urteil Sky Österreich(
35)
hat der Gerichtshof ausgeführt, dass „die unternehmerische Freiheit
einer Vielzahl von Eingriffen der öffentlichen Gewalt
unterworfen werden [kann], die im allgemeinen Interesse die
Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit beschränken können. …
Dieser Umstand spiegelt sich vor allem darin wider, auf welche
Weise nach Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit
zu handhaben ist.“
66. Meines Erachtens ist diese Freiheit gewahrt, wenn die einschlägigen Erfordernisse des Vertrags erfüllt sind, insbesondere
das Gebot, bei der Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.
67. Art. 17 der
Charta erkennt das Eigentumsrecht an, wobei die Nutzung des Eigentums
„gesetzlich geregelt werden [kann], soweit
dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist“. Nach der
Erläuterung zu Art. 17 entspricht dieser dem Art. 1 des
Zusatzprotokolls
zur EMRK. Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta hat das
Eigentumsrecht somit die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie es ihm in
der EMRK verliehen wird; Beschränkungen des Rechts sind zwar
zulässig, dürfen aber das nach der EMRK zulässige Maß nicht
überschreiten.
68. Auch nach
der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs kann das Eigentumsrecht in
angemessenem Verhältnis stehenden Beschränkungen
unterworfen werden. So hat die Große Kammer im Urteil Križan
u. a. entschieden, dass „[d]as Eigentumsrecht … nicht schrankenlos
gewährleistet [ist], sondern … im Hinblick auf seine
gesellschaftliche Funktion gesehen werden [muss]. Folglich kann die
Ausübung
des Eigentumsrechts Beschränkungen unterworfen werden, sofern
diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen
entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten
Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen,
der das so gewährleistete Recht in seinem Wesensgehalt
antastet“(
36). Folglich stellt eine den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrende und im Allgemeininteresse vorgenommene Beschränkung
der Nutzung von Glücksspielautomaten keinen Verstoß gegen Art. 17 der Charta dar.
69. Meines
Erachtens ist bei einer Beschränkung der Nutzung von
Glücksspielautomaten, die nach Art. 56 AEUV zulässig ist, die
also u. a. auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt,
Art. 17 der Charta ebenfalls Genüge getan. Eine solche Beschränkung
der Nutzung des Eigentums geht nicht über das nach Art. 1 des
Zusatzprotokolls zur EMRK Zulässige hinaus, dem zufolge das
Eigentumsrecht dem „Recht des Staates [unterliegt], diejenigen
Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des
Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse … für
erforderlich hält“.
70. Meiner
Meinung nach stellen die Art. 15 bis 17 der Charta keine strengeren
Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Beschränkung
des freien Dienstleistungsverkehrs auf als diejenigen, die sich
bereits der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 56 AEUV
entnehmen lassen.
71. Deshalb
schlage ich dem Gerichtshof vor, die erste Frage in dem Sinne zu
beantworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist,
dass er einer nationalen Regelung wie der in den
Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach nur eine begrenzte
Anzahl
von Konzessionsinhabern Glücksspiele durchführen darf, es sei
denn, diese Beschränkung ist aufgrund eines zwingenden im
Allgemeininteresse
liegenden Ziels wie des Verbraucherschutzes und/oder der
Verbrechensprävention gerechtfertigt, verfolgt dieses Ziel unter
Berücksichtigung der Geschäftspolitik der Konzessionsinhaber
kohärent und widerspruchsfrei und ist verhältnismäßig. Ob diese
Kriterien erfüllt sind, ist vom nationalen Gericht zu
entscheiden. Sofern eine Beschränkung diese Kriterien erfüllt, stehen
ihr die Art. 15, 16 und 17 der Charta nicht entgegen.
Zweite Frage
72. Mit seiner
zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das in Art. 56
AEUV und in den Art. 15 bis 17 der Charta
zum Ausdruck kommende Verhältnismäßigkeitsprinzip einer
nationalen Regelung wie den §§ 52 bis 54 GSpG, § 56a GSpG und § 168
StGB entgegensteht, durch die im Wege unbestimmter
Gesetzesbegriffe die Strafbarkeit auf nur sehr entfernt beteiligte
Personen
(wie bloße Vertreiber, Verpächter oder Vermieter von
Glücksspielautomaten) erstreckt wird.
73. Diese Frage
kommt ebenso wie die dritte und die vierte Frage nur dann zum Tragen,
wenn das nationale Gericht zu dem Ergebnis
gelangt, dass Art. 56 AEUV der in den Ausgangsverfahren
fraglichen Beschränkung nicht entgegensteht. Falls Art. 56 AEUV dieser
Beschränkung entgegensteht, sind auch strafrechtliche
Sanktionen wegen Verstößen gegen die Beschränkung unionsrechtlich
unzulässig(
37).
74. Soweit die
Mitgliedstaaten nach dem Unionsrecht berechtigt sind, Ausnahmen von
Art. 56 AEUV vorzusehen und die Erbringung
von Glücksspieldienstleistungen zu beschränken, dürfen sie auch
strafrechtliche Sanktionen zur Durchsetzung dieser Beschränkungen
verhängen, sofern diese Sanktionen verhältnismäßig und
grundrechtskonform sind.
75. Meines
Erachtens ist die Verhältnismäßigkeit nur gewahrt, wenn der persönliche
Anwendungsbereich der Vorschriften, durch die
Verstöße gegen die im nationalen Recht vorgesehene Beschränkung
unter Strafe gestellt werden, nur diejenigen Personen erfasst,
die für den Verstoß unmittelbar oder mittelbar verantwortlich
sind und die wussten oder hätten wissen müssen, dass sie eine
Teilnahmehandlung an dem Verstoß begehen.
76. Für den
Bereich des freien Warenverkehrs hat der Gerichtshof festgestellt, dass
die Strafbarkeit auch auf Personen ausgedehnt
werden kann, die Beihilfe zu einer Straftat leisten(
38).
Diese Personen sind nicht unmittelbar für den Strafrechtsverstoß
verantwortlich – im vorliegenden Fall machen sie nicht
selbst Glücksspielautomaten ohne die erforderliche Konzession
öffentlich zugänglich –, aber sie ermöglichen den Verstoß.
77. Die
Einbeziehung von Personen, die mittelbar für den Verstoß gegen die
Beschränkung verantwortlich sind und die wussten oder
hätten wissen müssen, dass sie eine Teilnahmehandlung an dem
Verstoß begehen, in den Anwendungsbereich der Strafbarkeitsbestimmungen
stellt meines Erachtens einen Beitrag zur Durchsetzung der
Beschränkung und damit zur Erreichung des angestrebten hohen
Schutzniveaus
dar. Die Ausdehnung der Strafbarkeit auf Personen, denen der
Verstoß nicht bekannt war und nicht bekannt sein konnte, wäre
hingegen unverhältnismäßig, da sie keine Möglichkeit haben,
sich bewusst gegen eine Teilnahme an dem Verstoß zu entscheiden.
78. Das
nationale Gericht muss das nationale Recht so weit wie möglich
unionsrechtskonform unter Berücksichtigung des gesamten
innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort
anerkannten Auslegungsmethoden auslegen, um die volle Wirksamkeit des
Unionsrechts zu gewährleisten(
39).
79. Meiner
Meinung nach stehen daher Art. 56 AEUV und die Art. 15, 16 und 17 der
Charta einer Bestimmung nicht entgegen, durch
die die Strafbarkeit auf Personen erstreckt wird, die für den
Verstoß gegen eine Beschränkung der Erbringung von
Glücksspieldienstleistungen
unmittelbar oder mittelbar verantwortlich sind, sofern der
persönliche Anwendungsbereich der Strafbarkeitsbestimmung nur Personen
erfasst, die wussten oder hätten wissen müssen, dass sie eine
Teilnahmehandlung an dem Verstoß begehen.
Dritte Frage
80. Mit seiner
dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV
und/oder die Art. 16, 47 und 50 der Charta
und/oder die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts nationalen
Rechtsvorschriften entgegenstehen, die strafrechtliche oder
verwaltungsrechtliche Sanktionen für Rechtsverstöße vorsehen,
es der betreffenden Person aber nicht ermöglichen, sich im Voraus
sicher zu sein, nach welcher Vorschrift sie zur Verantwortung
gezogen werden wird.
81. Meiner
Ansicht nach steht Art. 50 der Charta solchen Vorschriften nicht
entgegen. Den dem Gerichtshof vorliegenden Akten lässt
sich nicht entnehmen, dass die These, es bestehe die Gefahr
einer doppelten Strafverfolgung, begründet wäre. Die Tat wird
entweder vor den Verwaltungsgerichten oder vor den
Strafgerichten verhandelt. Offenbar greift das StGB bei Glücksspielen
mit
Einsätzen von mindestens 10 Euro oder bei „Serienspielen“ ein,
bei denen der Einzeleinsatz unter diesem Betrag, die Summe
aller Einsätze aber darüber liegt. In allen anderen Fällen wird
die Tat als Verwaltungsübertretung nach den Bestimmungen des
GSpG behandelt.
82. Ob es sich
um eine Verwaltungsübertretung handelt (bei verbotenen Ausspielungen mit
Einsätzen von unter 10 Euro, die keine
Serienspiele sind) oder um eine Straftat (bei verbotenen
Ausspielungen mit Einsätzen von über 10 Euro oder mit geringeren
Einsätzen als Teil von Serienspielen), lässt sich erst
entscheiden, wenn alle Umstände des Einzelfalls bekannt sind. Etwaige
Rechtsunsicherheiten sind also allein darauf zurückzuführen,
dass auf unterschiedliche Sachverhalte unterschiedliche Bestimmungen
Anwendung finden.
83. Eine
Verletzung von Art. 47 der Charta, der das Recht auf einen wirksamen
Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht verbürgt,
liegt dann nicht vor, wenn die Person, der eine Straftat zur
Last gelegt wird, Zugang zu einem Gericht hat, wobei es keine
Rolle spielt, ob es sich um ein Verwaltungs- oder um ein
Strafgericht handelt.
84. Weder
Art. 56 AEUV noch die Art. 16, 47 oder 50 der Charta stehen daher einer
nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren
fraglichen entgegen, wonach strafrechtliche Sanktionen bei
verbotenen Ausspielungen mit Einsätzen von mindestens 10 Euro und
bei „Serienspielen“ verhängt werden, bei denen ein
Einzeleinsatz unter diesem Betrag, die Summe aller Einsätze aber darüber
liegt, und wonach verwaltungsrechtliche Sanktionen bei
verbotenen Ausspielungen mit Einsätzen von unter 10 Euro Anwendung
finden.
Vierte Frage
85. Mit seiner
vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV
und/oder die Art. 15 bis 17 und 50 der Charta
Sanktionen wie die in §§ 53, 54 und 56a GSpG vorgesehenen
entgegenstehen, zu denen die Einziehung und die Vernichtung der
Glückspielautomaten sowie die Schließung des Betriebs gehören.
86. Wie bereits dargelegt(
40),
darf ein Mitgliedstaat, der eine durch zwingende Gründe des
Allgemeininteresses gerechtfertigte und deshalb nicht nach Art. 56
AEUV verbotene Beschränkung einführt, diese auch durch die
Verhängung von Sanktionen im Fall ihrer Verletzung durchsetzen.
Diese Sanktionen müssen jedoch den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit und die Grundrechte beachten.
87. Aus den in
der Vorlageentscheidung dargestellten Fallumständen und
Rechtsvorschriften scheint sich zu ergeben, dass im Fall
der Durchführung von Glücksspielen mittels Automaten ohne
Konzession die Geräte automatisch eingezogen und anschließend vernichtet
werden. Die entsprechenden Ermächtigungsnormen erlauben
offenbar kein alternatives Vorgehen je nach dem Grad des Verschuldens
des Automateneigentümers oder der anderen Personen, denen ein
Recht an dem Gerät zusteht, bzw. nach der Schwere der Rechtsverletzung.
Was auch immer die Person, der ein Recht an dem Gerät zusteht,
zur Verteidigung hinsichtlich der Tatbestandsverwirklichung
oder als mildernde Umstände vorbringt, vermag an diesem
Ergebnis offensichtlich nichts zu ändern.
88. Sollte es
wirklich keine Möglichkeit zur Anpassung der Sanktion geben, um Faktoren
wie etwa dem Verschuldensgrad Rechnung
zu tragen, wäre die Sanktion unverhältnismäßig und sowohl nach
Art. 56 AEUV selbst als auch nach den Art. 15, 16 und 17 der
Charta unzulässig. Die Prüfung, ob dem so ist, ist jedoch Sache
des nationalen Gerichts. (Meines Erachtens ist Art. 50 der
Charta insoweit nicht einschlägig.)
89. Im
Gegensatz dazu ist die Entscheidung über eine Betriebsschließung nach
§ 56a GSpG offenbar Ermessenssache. Angesichts des
Spielraums bei der Ausübung dieser Befugnis kann die
Entscheidung, einen Betrieb zu schließen, eine dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
entsprechende Sanktion darstellen. Meiner Meinung nach steht
Art. 56 AEUV dem § 56a GSpG nicht entgegen. Das nationale Gericht
wird zu prüfen haben, ob die Befugnis in der Praxis unter
gebührender Berücksichtigung der Begleitumstände und folglich mit
der erforderlichen Flexibilität gehandhabt wird, um das
Kriterium der Verhältnismäßigkeit zu erfüllen.
Ergebnis
90. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich (Österreich)
gestellten Fragen in folgendem Sinne zu beantworten:
1. Art. 56 AEUV steht einer
nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen
entgegen, wonach nur eine begrenzte
Anzahl von Konzessionsinhabern Glücksspiele durchführen darf,
es sei denn, diese Beschränkung ist aufgrund eines zwingenden
im Allgemeininteresse liegenden Ziels wie des
Verbraucherschutzes und/oder der Verbrechensprävention gerechtfertigt,
verfolgt
dieses Ziel unter Berücksichtigung der Geschäftspolitik der
Konzessionsinhaber kohärent und widerspruchsfrei und ist
verhältnismäßig.
Ob diese Kriterien erfüllt sind, ist vom nationalen Gericht zu
entscheiden. Sofern eine Beschränkung diese Kriterien erfüllt,
stehen ihr die Art. 15, 16 und 17 der Charta der Grundrechte
der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) nicht entgegen.
2. Art. 56 AEUV und die Art. 15,
16 und 17 der Charta stehen einer Bestimmung nicht entgegen, durch die
die Strafbarkeit auf
Personen erstreckt wird, die für den Verstoß gegen eine
Beschränkung der Erbringung von Glücksspieldienstleistungen unmittelbar
oder mittelbar verantwortlich sind, sofern der persönliche
Anwendungsbereich der Strafbarkeitsbestimmung nur Personen erfasst,
die wussten oder hätten wissen müssen, dass sie eine
Teilnahmehandlung an dem Verstoß begehen.
3. Weder Art. 56 AEUV noch die
Art. 16, 47 oder 50 der Charta stehen einer nationalen Regelung wie der
in den Ausgangsverfahren
fraglichen entgegen, wonach strafrechtliche Sanktionen bei
verbotenen Ausspielungen mit Einsätzen von mindestens 10 Euro und
bei „Serienspielen“ verhängt werden, bei denen ein
Einzeleinsatz unter diesem Betrag, die Summe aller Einsätze aber darüber
liegt, und wonach verwaltungsrechtliche Sanktionen bei
verbotenen Ausspielungen mit Einsätzen von unter 10 Euro Anwendung
finden.
4. Art. 56 AEUV und die Art. 15,
16 und 17 der Charta stehen einer nationalen Regelung entgegen, wonach
Geräte, die für nicht
konzessionierte Glücksspiele verwendet werden, automatisch
eingezogen und vernichtet werden, ohne dass die Möglichkeit einer
anderen Rechtsfolge unter Berücksichtigung des Grades des
Verschuldens des Glücksspielautomateneigentümers und/oder des Umfangs
der Zuwiderhandlung besteht. Art. 56 AEUV und die Art. 15, 16
und 17 der Charta stehen einer nationalen Regelung jedoch nicht
entgegen, wonach ein Mitgliedstaat nach seinem Ermessen einen
Betrieb schließen kann, in dem nicht konzessionierte
Glücksspielautomaten
öffentlich zugänglich gemacht worden sind.