Freitag, 1. November 2013

Kritische Anmerkungen zu der EuGH-Entscheidung vom 24.10.2013 (Rs. C-440/12)

Von Volker Stiny

Auf die Wettbewerbsverzerrung durch Steuerdumping und Steuersubventionen habe ich mit einer Vielzahl von Beiträgen bereits hingewiesen.
Deshalb möchte ich mich mit diesem Beitrag mit den Kompetenzproblemen beschäftigen, die dieses Urteil aufwirft.

Rechtsgrundlage der harmonisierten Mehrwertsteuer"Mehrwertsteuerrichtlinie" (MwSystRL)
Unionsrecht


Die aktuelle Rechtslage wird durch die unmittelbar gültige DurchführungsVO zur MwSystRL 2006/112/EG vom 23. März 2011 vorgegeben.

Die Kompetenz zum Erlass einer DurchführungsVO liegt gem. Art. 397 MwStSystRL (allein) beim Rat; dies ist gem. Art. 202, 3. Spiegelstrich, S. 3 EG ausnahmsweise zulässig.

Unter der Rn. 4 des Amtsblattes der Europäischen Union, L 77 vom 23. März 2011 wird wie folgt vorgegeben:
Da sie in allen Mitgliedstaaten verbindlich ist und unmittelbar gilt, wird die Einheitlichkeit der Anwendung am besten durch eine Verordnung gewährleistet.“
und auf Seite L 77/14:
“Diese Verordnung ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.“ Quelle    

Mit dem Amtsblatt Nr. C 188  vom 28/06/2012 wurde erneut auf die Rechtslage hingewiesen und unter S. 0002 – 0003 vorgegeben:
"Die EU-Organe haben nach Artikel 113 des Vertrags für die Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern wie z. B. die Mehrwertsteuer (MwSt) zu sorgen, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten."  Quelle
Zusammenfassung der EU-Gesetzgebung
Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (die „Mehrwertsteuerrichtlinie“)

Die Mehrwertsteuer wird letztendlich vom Endverbraucher in Form eines prozentualen Aufschlags auf den Endpreis des Gegenstands oder der Dienstleistung getragen.

Mehrwertsteuerbefreiungen ohne Recht auf Vorsteuerabzug

Aus sozioökonomischen Gründen wurden Steuerbefreiungen für folgende Tätigkeiten gewährt:
  • bestimmte dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten (beispielsweise Krankenhausbehandlung, medizinische Versorgung, Gegenstände und Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Sozialfürsorge, Schul- oder Hochschulunterricht, bestimmte kulturelle Dienstleistungen);
  • bestimmte Umsätze, die unter anderem Versicherungen, die Gewährung von Krediten, bestimmte Bankdienstleistungen, die Lieferung von Postwertzeichen, Glücks- oder Geldspiele sowie bestimmte Immobilienlieferungen einschließen.
Zur Erleichterung des Austauschs von Waren und Gegenständen sind bestimmte Einfuhren von Gegenständen aus dem Gebiet außerhalb der EU mehrwertsteuerbefreit. Dies betrifft beispielsweise die endgültige Einfuhr von Gegenständen, deren Lieferung im Einfuhrmitgliedstaat mehrwertsteuerfrei ist. Des Weiteren trifft dies für Gegenstände zu, deren Einfuhr durch die Richtlinien 2007/74/EG (im Reisegepäck mitgeführte Gegenstände), 2009/132/EG (zu nichtgewerblichen Zwecken eingeführte Gegenstände) und 2006/79/EG (Gegenstände, die in Kleinsendungen ohne gewerblichen Charakter versendet werden) geregelt ist.
Quelle    

Dadurch, dass nach der MwStSystRL keine Vorsteuer geltend gemacht werden darf, werden auch sog. Karussellgeschäfte unterbunden. vgl. u.a.  

Der Harmonisierungsauftrag, die Grundsätze der Rechtssicherheit, (Rechtsklarheit, Rechtsbestimmtheit und Rechtsberechenbarkeit) sowie die Kohärenzbestimmungen des Unionsrechts lässt keine andere Auslegung der derzeitigen Formulierung des Art. 135,1,i in Verbindung mit Art. 137 und 401, sowie der Vorgabe aus Art. 395, 1, zu, als eine grundsätzliche Steuerbefreiung von Glücksspielumsätzen, die keinerlei Ausnahmen vorsieht.

Die Regelungsbefugnis der Mitgliedstaaten beschränkt sich ausschließlich auf die Zulassung von Glücksspielen*.

Deshalb bestehen “schwerwiegende Zweifel an der Rechtmäßigkeit“ der bisherigen Entscheidungen zu Art. 135 und des Art. 401 der RL, weil diese ohne Beachtung des Gesamtregelungsgehalts der Norm zustande kamen und das vorgeschriebene Dispensverfahren gem. Art. 395, 1 missachtet wurde, mit dem eine Verwässerung der Regelung verhindert werden soll.

Eine Regelungslücke die einer Auslegung bedürfte, war nicht gegeben.

Die MwSystRL ist so anzuwenden wie sie ist.
Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gibt eine Mehrwertsteuerbefreiung für Glücksspielumsätze zwingend vor und verbietet einen Vorsteuerabzug.
(s.o.:  Zusammenfassung der EU-Gesetzgebung)

Die Abweichung von der MwSystRL ist auch nicht durch eine Rechtsfortbildung gedeckt. Dem Gerichtshof wurde nach der RL keine entsprechende Kompetenz eingeräumt.

Mit der Abweichung von der RL wird der EuGH seinem Auftrag, des effektiven Rechtsschutzes nicht gerecht, der die Einheitlichkeit des Rechts und das Prinzip des Rechtsschutzes, das dem Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts zusteht, vorgibt.

Der EuGH hat für die Vollzugskontrolle des Gemeinschaftsrechts zu sorgen und die Durchsetzung der MwSystRL zu gewährleisten. 

Nach dem Rechtsschutzgebot aus Art. 10 EG darf die mitgliederstaatliche Praxis nicht ungünstiger ausgestaltet sein als für vergleichbare Fälle ohne Bezug zum Gemeinschaftsrecht (Äquivalenzgebot), zum anderen darf die Ausübung der gemeinschaftlich gewährten Rechte, hier die Umsatzsteuerfreiheit für Glücksspielumsätze durch die Anwendung mitgliedstaatlichen Rechts nicht praktisch unmöglich gemacht oder erheblich erschwert werden. (Effektivitätsgrundsatz)

Es wird zu prüfen sein, ob der EuGH mit seiner Entscheidung in der Rs. C-440/12 nicht auch gegen die Grundsätze der praktischen Wirksamkeit (effet utile) verstoßen hat, indem die praktische Durchsetzung der unionsrechtlichen Regelung durch die Entscheidung vom 24.10.2013 erschwert wurde, mit der in Abweichung zu Art. 135, 137 und 401 die Einführung einer Mehrwertsteuer, mit der ein Vorsteuerabzug einhergeht, für Glückspielumsätze, als “Kann-Bestimmung“ geduldet wird.

Meines Erachtens werden mit dem Urteil vom 24.10.2013 die wichtigsten Grundsätze der Gemeinschaft, wie dem Willkürverbot (EuGHE 1978,1978), dem Verhältnismäßigkeits- (EuGHE 1979, 677), dem Vertrauensschutz- (EuGHE 1978, 169), und dem Rechtssicherheitsprinzip (EuGHE 1983, 2633), nicht gewährleistet.

Demnach die Rechtsvorschriften klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen voraussehbar sein müssen, weshalb die Entscheidung der durch die Unionsrichtlinie gewährten, grundsätzlichen Steuerbefreiung nicht über die Rechtsprechung des EuGH an die Mitgliedstaaten zurückfallen kann.

Unionsrechtsakte dürfen sich nicht widersprechen und müssen dem Grundsatz der Rechtssicherheit genügen (EuGH: T-50/06 RENV), weshalb sich eine Abweichung von der in allen Mitgliedstaaten uneingeschränkt und unmittelbar gültigen MwSystRL, als unzulässig erweisen wird.

Es darf bezweifelt werden, ob der EuGH überhaupt rechtswirksam eine Abweichung von der MwSystRL “erlauben“ konnte, wenn die entsprechende Erlaubnis dazu, ausschließlich in den Kompetenzbereich des Rates fällt.
(Dispensverfahren gem. Art. 395, 1 der RL)
(vgl. Matthias Pechstein in EU-/EG-Prozessrecht)

Mit der Entscheidung des EuGH vom 24.10.2013 wird der nach der MwSystRL ausdrücklich unzulässige Vorsteuerabzug ermöglicht.

Dadurch wird zu prüfen sein, ob es sich bei der Entscheidung der EuGH vom 24.10.2013 zur Durchführung der anzuwendenden Rechtsnorm um einen Ermessensmissbrauch (Art. 230 Abs. 2 EG; Rn. 431, 544ff.), durch eine unerlaubte Vertragsauslegung  (Art. 220) handeln könnte, zu der der EuGH nicht berechtigt war.
(vgl. Bleckmann, in FS Börner. S. 30f.; Dauses/Henkel, EuZW 1999, S. 325 f.)

Die Entscheidung vom 24.10.2013 erscheint im Hinblick auf die grundsätzliche Abgrenzung der Kompetenzen des Gerichtshofs gegenüber dem Rat als nicht hinnehmbar.

Möglicherweise hat die Erste Kammer die Tragweite ihrer Entscheidung nicht erkannt.

Nationales Recht


Die Rechtsänderung wurde weder  notifiziert noch über ein Dispensverfahren durch den Rat genehmigt. Damit fehlt der Neufassung von § 4 Nr. 9 Buchst. B, des deutschen Umsatzsteuergesetzes vom 28. April 2006 (BGBl. I S. 1095) die Rechtsgrundlage.

Wegen der unterschiedlichen Besteuerung der Automatenaufsteller und der Spielbanken möchte ich erneut auf das u.a. Urteil hinweisen:

Das Bundesverfassungsgericht führte im Urteil vom 27. 6. 1991 - 2 BvR 1493/89 zum Gleichheitssatz im Steuerrecht aus, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich auch gleich belastet werden müssen.

Eine steuerliche Begünstigung staatlicher Betriebe - wie Spielbanken - durch Steuerdumping und Steuersubventionen, ist demnach auch verfassungswidrig und führt zu einer unzulässigen Wettbewerbsverzerrung. mehr

Dispensverfahren nach Art. 395, 1

Entsprechend den verbindlichen Vorgaben, dürfen Abweichungen von der MwStSystRL 2006/112/EG ausschließlich über ein Dispensverfahren gem. Art. 395, 1 durch den Rat der Union genehmigt werden. Eine Ermächtigung zur Einführung einer Mehrwertsteuer auf Glücksspielumsätze (Sondermaßnahme in Bezug zu Art. Art. 135 i und Art. 401) konnte für Deutschland nicht festgestellt werden, wodurch sich die Neufassung des § 4 Nr. 9 Buchst. b UstG vom 28. April 2006 (BGBl. I S. 1095) als unionsrechtswidrig und damit als unanwendbar darstellt.

Die Kompetenz, eine Abweichung von der DurchführungsVO zur MwStSystRL zu genehmigen, liegt gemäß Artikel 395 Absatz 1 allein beim Rat. Nur der Unionsgesetzgeber kann das harmonisierte Mehrwertsteuersystem ändern oder Ausnahmen über ein Dispensverfahren zulassen.

Notifizierungszwang

Entsprechend der InformationsverfahrensRL 98/34/EG, müssen Gesetzesänderungen gegenüber der Europäischen Kommission vorab notifiziert (d.h. im Entwurf mitgeteilt) werden. (vgl. EuGH Fortuna C-213/11, Grand C-214/11 und Forta C-217/11).

Nach diesseitigem Kenntnisstand wurde die Neufassung von § 4 Nr. 9 Buchst. B, des deutschen Umsatzsteuergesetzes vom 28. April 2006 (BGBl. I S. 1095) und der damit verbundene Vorsteuerabzug und die Umsatzsteuererstattung durch Verrechnung mit der Spielbankenabgabe der öffentlichen Spielbanken, weder notifiziert noch über ein Dispensverfahren durch den Rat genehmigt.

Entsprechend der Entscheidung Fortuna u.a. fehlt somit die Rechtsgrundlage zur Erhebung einer Umsatzsteuer auf Glücksspielumsätze und der damit verbundene Vorsteuerabzug.

Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (pdf-downlad)

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Mehr zum EuGH-Urteil vom 24.10.2013

*  In der Urteilsbegründung Linneweber C-453/02, C-462/02 wurde unter der Rn. 33, 34 auf die Entscheidung Becker 8/81, Slg. 1982, 53 verwiesen, mit der der Gerichtshof bereits entschieden hatte, dass sich die "Bedingungen" in keiner Weise auf den Inhalt der vorgegebenen Steuerbefreiung erstrecken dürfen, womit sich die Regelungsbefugnis der Mitgliedstaaten ausschließlich auf die Zulassung von Glücksspielen beschränkt. (vgl. Leitsatz Nr 3, Rn 20 ff, 25, 33, 43, 44, 45, 46).

*  In der Urteilsbegründung Zimmermann (C-174/11), vom 15. November 2012, wurde unter der Rn 39 erneut auf die Entscheidung Becker verwiesen:
"Insoweit trifft es zwar zu, dass die Mitgliedstaaten nach dem Einleitungssatz von Art. 13 Teil A Abs. 1 der Sechsten Richtlinie die Bedingungen zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen müssen, doch dürfen sich diese Bedingungen nicht auf die Definition des Inhalts der vorgesehenen Befreiungen erstrecken (vgl. u. a. Urteile vom 19. Januar 1982, Becker, 8/81, Slg. 1982, 53, Randnr. 32, Kingscrest Associates und Montecello, Randnr. 24, und vom 14. Dezember 2006, VDP Dental Laboratory, C-401/05, Slg. 2006, I-12121, Randnr. 26)."

Da sich Unionsrechtsakte nicht widersprechen dürfen und dem Grundsatz der Rechtssicherheit genügen müssen (EuGH: T-50/06 RENV), erweist sich eine Abweichung von der in allen Mitgliedstaaten uneingeschränkt und unmittelbar gültigen MwSystRL, als unzulässig. 

s.a. jura.uni-goettingen
Wichtige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes
Rechtsprechung zur europäischen Integration