Sonntag, 28. Januar 2018

BVerfG Beschluss (2 BvR 424/17) v. 19.12.2018 (Pflicht zur Anrufung des EuGH)


Der EuGH ist die erste Adresse, wenn es um die Auslegung von Unionsrecht geht. 

Und wenn er noch nicht präzise genug ausgelegt hat, müssen Gerichte ihn dazu befragen.
Das hat das BVerfG im Fall einer Auslieferung entschieden.

Werden deutsche Gerichte vor unionsrechtliche Fragen gestellt, die noch nicht abschließend geklärt sind, so ist Vorsicht geboten: Eigenständig dürfen sie das EU-Recht nicht fortbilden, betont das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einer nun bekannt gewordenen Entscheidung (Beschl. v. 19.12.2017, Az. 2 BvR 424/17). Anlass waren ein Auslieferungsersuchen aus Rumänien und die Beurteilung der dortigen Haftbedingungen.
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Rechtslupe:
Die unterbliebene Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens
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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Pflicht zur Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens

Pressemitteilung Nr. 3/2018 vom 11. Januar 2018

Beschluss vom 19. Dezember 2017
2 BvR 424/17

Wenn Gerichte über die Zulässigkeit eines im unionsrechtlich determinierten Rechtshilfeverkehr gestellten Auslieferungsersuchens befinden, haben sie Zweifelsfragen über die Anwendung und Auslegung von Unionsrecht dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) als gesetzlichem Richter vorzulegen. Zwar ist nicht jeder Verstoß gegen die unionsrechtliche Vorlagepflicht ein Verstoß gegen die Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, aber der gesetzliche Richter ist entzogen, wenn ein Gericht bei einer unvollständigen Rechtsprechung des EuGH den ihm notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen bei der Anwendung und Auslegung von Unionsrecht in unvertretbarer Weise überschreitet. Der EuGH hat die Frage, welche Mindestanforderungen Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh) an Haftbedingungen konkret stellt und nach welchen Maßstäben Haftbedingungen unionsrechtlich zu bewerten sind, bislang nicht abschließend geklärt. Eine unvertretbare Überschreitung des fachgerichtlichen Beurteilungsrahmens liegt in einer solchen Konstellation jedenfalls vor, wenn das Gericht die mit Blick auf Art. 52 Abs. 3 GRCh einzubeziehende Rechtsprechung des EGMR lediglich selektiv auswertet, ihr weitere Gesichtspunkte hinzufügt und so das Unionsrecht eigenständig fortbildet. Mit dieser Begründung hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss einer Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des Hanseatischen Oberlandesgerichts stattgegeben, mit denen dieses die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Rumänien für zulässig erklärt hatte, und die Sache zurückverwiesen. Über die Frage, ob die Beschlüsse, wie durch den Beschwerdeführer gerügt, vor dem Hintergrund der Haftbedingungen in rumänischen Justizvollzugsanstalten einen Verstoß gegen die Garantie der Menschenwürde aus Artikel 1 Abs. 1 GG darstellen, war daher zum derzeitigen Verfahrensstand nicht zu entscheiden.

Sachverhalt:

Gegen den Beschwerdeführer besteht ein Europäischer Haftbefehl, dem ein nationaler Haftbefehl eines Gerichts in Rumänien wegen des Verdachts der Begehung von Vermögens- und Urkundsdelikten in drei Fällen zugrunde liegt. Der Beschwerdeführer verbüßte wegen in Deutschland begangener Straftaten bis zum 24. September 2017 eine Freiheitsstrafe in Hamburg. Seither befindet er sich in Auslieferungshaft. Mit den angegriffenen Beschlüssen vom 3. Januar 2017 und 19. Januar 2017 erklärte das Oberlandesgericht die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Rumänien für zulässig. Zur Begründung führte es insbesondere aus, nach der Rechtsprechung des EuGH sei klargestellt, dass die Mitgliedstaaten zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verpflichtet seien. Eine Ausnahme hiervon sei nur unter außergewöhnlichen Umständen anzunehmen. Im Rahmen der vom EuGH geforderten zweistufigen Prüfung erkenne der Senat zwar substantiierten Anhalt für das Vorliegen von systemischen Mängeln im rumänischen Strafvollzug. Die zweite Voraussetzung, eine „echte Gefahr“ unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung für den Beschwerdeführer, liege jedoch nicht vor. Insbesondere hätten die rumänischen Behörden zugesichert, dass dem Beschwerdeführer ein minimaler persönlicher Raum einschließlich der Möbel von 3 m² bei Vollstreckung in einem geschlossenen Regime und von 2 m² im halboffenen oder offenen Regime zur Verfügung stehen werde. Es sei mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege innerhalb der Europäischen Union zu bedenken, dass die in Rumänien begangenen Straftaten ungesühnt blieben, wenn die Bundesrepublik Deutschland die Auslieferung ablehne. Auch drohe die Schaffung eines „safe haven“ in Deutschland. Trotz der Verurteilungen Rumäniens durch den EGMR wegen Verstoßes gegen Art. 3 EMRK halte der Senat eine Gesamtbetrachtung der Haftsituation in Rumänien für angezeigt, bei der allerdings der Haftraumgröße wesentliche indizielle Bedeutung zukomme. Seit 2014 hätten sich die Haftbedingungen in Rumänien durchgreifend verbessert, auch wenn die Überbelegungsquote immer noch bedenklich hoch sei und die von den rumänischen Behörden zugesicherte individuelle Haftraumgröße bei alleiniger Betrachtung der Quadratmeterzahl bei einer Vollstreckung jedenfalls in einem der offenen Vollzugsregime hinter den Maßgaben des EGMR zurückzubleiben scheine. Es sei allerdings auch zu berücksichtigen, dass die zum Teil insuffizienten Platzverhältnisse in der Zelle durch sehr weitgehende Aufschlusszeiten erheblich abgemildert würden. Überdies seien die baulichen Voraussetzungen für Freigänge geschaffen worden; ferner seien - neben der Verbesserung der baulichen Anlagen im Hinblick auf Heizung, sanitäre Anlagen und Hygiene - die Möglichkeiten für Hafturlaube, den Empfang von Besuch, das Waschen privater Wäsche und den Einkauf persönlicher Dinge verbessert worden.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Insbesondere hat der Beschwerdeführer unter Zugrundelegung der erhöhten Zulässigkeitsvoraussetzungen, die an eine auf eine Identitätskontrolle gerichtete Verfassungsbeschwerde zu stellen sind, substantiiert dargelegt, dass und warum eine Verletzung der Menschenwürdegarantie durch die im Zielstaat konkret in Aussicht stehenden Haftbedingungen möglich erscheint.

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen das grundrechtsgleiche Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Der Beschwerdeführer hat einen solchen Verfassungsverstoß zwar nicht ausdrücklich gerügt, dies hindert das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht, im Rahmen einer zulässigen Verfassungsbeschwerde seine Prüfung hierauf zu erstrecken.

Bei Zweifelsfragen über die Anwendung und Auslegung von Unionsrecht haben die Fachgerichte diese nach Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zunächst dem EuGH vorzulegen. Dieser ist gesetzlicher Richter. Jedoch stellt nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Das Bundesverfassungsgericht überprüft nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Dies ist unter anderem der Fall, wenn ein letztinstanzliches Hauptsachegericht - wie hier - im Falle einer unvollständigen EuGH-Rechtsprechung den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet. Dabei muss sich das Fachgericht hinsichtlich des materiellen Unionsrechts hinreichend kundig machen. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des EuGH muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren. Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig („acte clair“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé“).

Das Oberlandesgericht hat angesichts einer unvollständigen Rechtsprechung des EuGH mit der Nichtvorlage seinen Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten. Zwar hat der EuGH in den Rechtssachen Aranyosi und Căldăraru mit Urteil vom 5. April 2016 klargestellt, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der betroffenen Person im Zielstaat führen dürfe. Daher bestehe eine Verpflichtung der vollstreckenden Justizbehörden, bei Vorliegen von Anhaltspunkten für systemische Mängel im Strafvollzug des Zielstaats zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gebe, die betroffene Person werde im Anschluss an ihre Übergabe der echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in diesem Mitgliedstaat ausgesetzt sein. Der Gerichtshof hat jedoch die hier entscheidungserhebliche Frage, welche Mindestanforderungen an Haftbedingungen aus Art. 4 GRCh konkret erwachsen und nach welchen Maßstäben Haftbedingungen unionsgrundrechtlich zu bewerten sind, bisher nicht abschließend geklärt.

Das Oberlandesgericht hat den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen im Hinblick auf seine Vorlagepflicht in unvertretbarer Weise überschritten und dadurch den Beschwerdeführer in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt. Es stellt in den angegriffenen Entscheidungen grundrechtliche, unionsrechtliche und konventionsrechtliche Prüfungsmaßstäbe nebeneinander, ohne einen Zusammenhang mit den spezifischen Anforderungen von Art. 4 GRCh herzustellen. Ob und warum die sich aus Art. 4 GRCh ergebenden Mindestanforderungen an Haftbedingungen durch den EuGH abschließend geklärt oder so eindeutig sind, dass es einer Klärung durch den EuGH nicht bedarf, wird nicht begründet. Das Oberlandesgericht hat sich zwar an die vom EuGH vorgegebene Struktur einer zweistufigen Prüfung gehalten. Hinsichtlich der vorliegend auf der zweiten Stufe zu prüfenden echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 4 GRCh hat es auch erkannt, dass die von Rumänien im Fall des Beschwerdeführers abgegebenen Zusicherungen hinter den räumlichen Anforderungen, die der EGMR an einen gemäß Art. 3 EMRK konventionsrechtskonformen Strafvollzug stellt, zurückbleiben. Es hat eine unionsrechtlich relevante Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch die mangelhaften Haftbedingungen dennoch verneint. Dabei hat das Oberlandesgericht die Rechtsprechung des EGMR lediglich selektiv zugrunde gelegt und ihr im Rahmen einer „Gesamtbetrachtung“ weitere Gesichtspunkte hinzugefügt, die seiner Ansicht nach geeignet sind, die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Beschwerdeführers zu widerlegen. Nach der Rechtsprechung des EGMR folgt aus einer Unterschreitung des persönlichen Raums von 3 m² pro Gefangenem in einem Gemeinschaftshaftraum die starke Vermutung einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Diese kann normalerweise nur widerlegt werden, wenn es sich lediglich um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums handelt, ausreichende Bewegungsfreiheit und Aktivitäten außerhalb des Haftraums gewährleistet sind und die Strafe in einer geeigneten Haftanstalt vollzogen wird, wobei es keine die Haft erschwerenden Bedingungen geben darf. Es deutet vieles darauf hin, dass die drei genannten Faktoren kumulativ vorliegen müssen, um das Unterschreiten eines persönlichen Raums von 3 m² aufzuwiegen. Das Oberlandesgericht problematisiert in den angegriffenen Beschlüssen schon nicht, ob die durch Rumänien zugesicherten 2 m² persönlicher Raum, die im offenen und halboffenen Regime in einem mehrfachbelegten Haftraum auf den Beschwerdeführer entfallen würden, angesichts der deutlichen Unterschreitung der 3 m² noch eine unerhebliche (sowie kurze und gelegentliche) Reduzierung des persönlichen Raums darstellen würden. Darüber hinaus zieht das Oberlandesgericht im Rahmen einer Gesamtbetrachtung mit dem Verweis auf verbesserte Heizungsanlagen, sanitäre Anlagen und Hygienebedingungen Umstände heran, die vom EGMR zwar als kompensatorische Faktoren angesehen werden, von denen aber unklar ist, inwieweit sie nach seiner neueren Rechtsprechung die starke Vermutung eines Konventionsverstoßes durch räumliche Beengtheit entkräften können, zumal Mängel der sanitären und Heizungsanlagen sowie der Hygienebedingungen selbst dann zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen können, wenn mehr als 3 m² persönlicher Raum auf einen Gefangenen entfallen.

Indem das Oberlandesgericht ausführt, es gebe im rumänischen Strafvollzug verbesserte Möglichkeiten für Hafturlaube, den Empfang von Besuch, das Waschen privater Wäsche und den Einkauf persönlicher Dinge, stellt es zudem auf Umstände ab, die in der Rechtsprechung des EGMR für das Entkräften einer indizierten Verletzung des Art. 3 EMRK aufgrund zu beengter räumlicher Verhältnisse bisher nicht explizit herangezogen worden sind. Über die Rechtsprechung des EGMR hinaus bezieht das Oberlandesgericht in den angegriffenen Entscheidungen schließlich auch Gesichtspunkte wie die Aufrechterhaltung des zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs, die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege innerhalb der Europäischen Union sowie die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens, die potentielle Straflosigkeit mutmaßlicher Straftäter bei Nichtauslieferung und die Schaffung eines „safe haven“ als entscheidungserhebliche Belange in die Prüfung ein. Einige dieser Gesichtspunkte sind in der Rechtsprechung des EuGH zwar im Rahmen der Auslegung der mitgliedstaatlichen Pflichten, die aus dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl folgen, herangezogen worden. Die Frage, ob sie für die Bestimmung des Gewährleistungsumfangs von Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK angesichts deren absoluten Charakters überhaupt eine Rolle spielen können, ist bisher aber weder in der Rechtsprechung des EuGH noch des EGMR beantwortet worden.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 3/2018 vom 11. Januar 2018
Beschluss vom 19. Dezember 2017 2 BvR 424/17


Mittwoch, 24. Januar 2018

EuGH C‑463/16 zum Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 3 – Ermäßigter Mehrwertsteuersatz


Aus zwei separaten Bestandteilen bestehende einheitliche Leistung, selektive Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf einen dieser Bestandteile




URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

18. Januar 2018(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerwesen – Mehrwertsteuer – Richtlinie 77/388/EWG – Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 3 – Ermäßigter Mehrwertsteuersatz – Anhang H Kategorie 7 – Einheitliche Leistung, die aus zwei separaten Bestandteilen besteht – Selektive Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf einen dieser Bestandteile – Besichtigungstour ‚World of Ajax‘ – Besuch des Museums des AFC Ajax“


In der Rechtssache C‑463/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 12. August 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 17. August 2016, in dem Verfahren

Stadion Amsterdam CV

gegen

Staatssecretaris van Financiën

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Vajda (Berichterstatter), des Richters E. Juhász und der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Stadion Amsterdam CV, vertreten durch J. F. Kijftenbelt und T. J. Kok als belastingadviseurs,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und G. Wils als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 3 Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2001/4/EG des Rates vom 19. Januar 2001 (ABl. 2001, L 22, S. 17) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Stadion Amsterdam CV und dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande) darüber, dass Letzterer der Klägerin des Ausgangsverfahrens untersagte, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf die von ihr angebotenen Besichtigungstouren anzuwenden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Sechste Richtlinie wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2007 durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) aufgehoben und ersetzt. In Anbetracht des entscheidungserheblichen Zeitraums gilt für das Ausgangsverfahren jedoch weiterhin die Sechste Richtlinie.

4        In Art. 2 der Sechsten Richtlinie hieß es:

„ Der Mehrwertsteuer unterliegen:

1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;

… “

5        Art. 12 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie lautete:

„Der Normalsatz der Mehrwertsteuer wird von jedem Mitgliedstaat als ein Prozentsatz der Besteuerungsgrundlage festgelegt, der für Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist. Vom 1. Januar 2001 bis zum 31. Dezember 2005 darf dieser Satz nicht niedriger als 15 % sein.



Die Mitgliedstaaten können außerdem einen oder zwei ermäßigte Sätze anwenden. Diese ermäßigten Sätze werden als ein Prozentsatz der Besteuerungsgrundlage festgelegt, der nicht niedriger als 5 % sein darf, und sind nur auf Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der in Anhang H genannten Kategorien anwendbar.“

6        Anhang H („Verzeichnis der Gegenstände und Dienstleistungen, auf die ermäßigte MwSt.-Sätze angewandt werden können“) dieser Richtlinie lautete:

„Bei der Übertragung der nachstehenden Kategorien von Gegenständen in ihre einzelstaatlichen Rechtsvorschriften können die Mitgliedstaaten den genauen Geltungsbereich der betreffenden Kategorien anhand der Kombinierten Nomenklatur abgrenzen.


Kategorie    Beschreibung
…    …
7    Eintrittsberechtigung für Veranstaltungen, Theater, Zirkus, Jahrmärkte, Vergnügungsparks, Konzerte, Museen, Tierparks, Kinos und Ausstellungen sowie ähnliche kulturelle Ereignisse und Einrichtungen.
…    … “

Niederländisches Recht

7        Art. 9 der Wet op de omzetbelasting (Umsatzsteuergesetz) vom 28. Juni 1968 (Stb. 1968, Nr. 329) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Umsatzsteuergesetz) sieht vor:

„Die Steuer beträgt 21 %.

(2)      Abweichend von Absatz 1 beträgt die Steuer:

a)      6 % für die in der diesem Gesetz als Anhang beigefügten Tabelle I aufgeführten Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen;

…“

8        Die dem Umsatzsteuergesetz als Anhang beigefügte Tabelle I führt Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen auf, für die der ermäßigte Steuersatz gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. a dieses Gesetzes gilt. In Position b.14 dieser Tabelle heißt es:


„Eintrittsberechtigung für



c.       öffentliche Museen oder Sammlungen, einschließlich eng damit zusammenhängende Lieferungen von Gegenständen wie Katalogen, Fotos und Fotokopien;



g.       Vergnügungsparks, Spiel- und Ziergärten sowie andere derartige primär und permanent für Vergnügung und Naherholung vorgesehene Einrichtungen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

9        Stadion Amsterdam ist eine Gesellschaft, die einen Mehrzweckgebäudekomplex namens Arena, bestehend aus einem Stadion mit den dazugehörigen Einrichtungen, betreibt. Das Museum des Fußballclubs AFC Ajax (im Folgenden: AFC Ajax) befindet sich ebenfalls in diesem Komplex.

10      Stadion Amsterdam vermietet das Stadion an Dritte zur Abhaltung von Sportwettkämpfen und gelegentlich für den Auftritt von ausübenden Künstlern. Außerdem bietet sie die Möglichkeit, die Arena während der Zeiten, in denen keine Sport- oder Musikveranstaltungen stattfinden, im Rahmen von entgeltlichen Besichtigungstouren zu besuchen, die sich „World of Ajax“ nennen und aus einem geführten Stadionrundgang sowie einem nicht geführten Besuch des Museums des AFC Ajax bestehen. Dabei gelangen die Teilnehmer in Begleitung eines Führers, der ihnen allerlei Wissenswertes über den AFC Ajax, das Stadion und die Musikaufführungen vermittelt, auf die Tribüne sowie auf das Fußballfeld und begeben sich in den Presseraum sowie in den Regieraum. Am Ende des geführten Rundgangs haben die Teilnehmer die Möglichkeit, auf eigene Faust das Museum des AFC Ajax zu besuchen. Während des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraums, d. h. vom 1. Januar 2001 bis 30. Juni 2005, war es nicht möglich, dieses Museum zu besuchen, ohne an dem geführten Stadionrundgang teilzunehmen.

11      Stadion Amsterdam ging davon aus, dass die Besichtigungstour als Dienstleistung auf dem Gebiet der Kultur im Sinne der Position b.14 Buchst. c der Tabelle I des Umsatzsteuergesetzes oder als Erholung oder Vergnügung im Sinne der Position b.14 Buchst. g der Tabelle I anzusehen sei, und wandte deshalb den in diesem Gesetz vorgesehenen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf den durch die Dienstleistung erwirtschafteten Umsatz an.

12      Der Steuerprüfer der Finanzbehörde gelangte im Rahmen einer Steuerprüfung zu der Ansicht, dass diese Dienstleistung dem normalen Mehrwertsteuersatz unterliege. Daher erließ er einen Nacherhebungsbescheid für die Zeiträume vom 1. Januar 2001 bis 30. Juni 2002 sowie vom 1. Juli 2002 bis 30. Juni 2005.

13      Stadion Amsterdam erhob gegen diesen Bescheid Klage bei der Rechtbank Haarlem (Gericht Haarlem, Niederlande). Gegen deren Urteil wurde beim Gerechtshof te Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam, Niederlande) Berufung eingelegt. Der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) der über eine Kassationsbeschwerde des Staatssekretärs für Finanzen zu entscheiden hatte, hob das Berufungsurteil mit Urteil vom 10. August 2012 auf und verwies die Rechtssache an den Gerechtshof te ’s-Gravenhage (Berufungsgericht Den Haag, Niederlande). Nach einer neuerlichen Kassationsbeschwerde gegen das in der Berufungsinstanz ergangene Urteil hob der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) dieses Urteil mit Urteil vom 14. November 2014 auf. Er verwies die Rechtssache an den Gerechtshof te ’s-Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch, Niederlande), dessen Urteil am 16. Juli 2015 erging.

14      In seinem Urteil stützte sich der Gerechtshof te ’s-Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch) auf die auch dem Urteil des Gerechtshof te Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) zu entnehmende Beurteilung, dass eine Besichtigungstour eine einheitliche Leistung darstelle, die nicht zum Zweck der Anwendung eines besonderen Mehrwertsteuersatzes auf einen der Bestandteile dieser Leistung aufgespalten werden könne. Der Gerechtshof te ’s‑Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch) entschied daher, dass die Einnahmen aus den Besichtigungstouren zur Gänze dem normalen Mehrwertsteuersatz unterliegen.

15      Der mit einer Kassationsbeschwerde gegen das Urteil des Gerechtshof te ’s‑Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch) befasste Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) erläutert, dass dem nationalen Verfahren zu entnehmen sei, dass die fragliche Dienstleistung aus zwei Bestandteilen bestehe, nämlich dem geführten Stadionrundgang und dem Besuch des Museums des AFC Ajax, wobei der Stadionrundgang den Hauptbestandteil und der Museumsbesuch den Nebenbestandteil darstelle und beide zusammen somit eine einheitliche Leistung ergäben. Der Preis sei für diese beiden Bestandteile zu zahlen, und die Besucher hätten während des Zeitraums, den der bei ihm angefochtene Nacherhebungsbescheid betreffe, nicht die Möglichkeit gehabt, ausschließlich das Museum des AFC Ajax zu besuchen.

16      Das vorlegende Gericht stellt die Frage, ob die Tatsache, dass der geführte Stadionrundgang und der Besuch des Museums des AFC Ajax so eng miteinander zusammenhingen, dass sie für Zwecke der Mehrwertsteuer als eine einheitliche Leistung anzusehen seien, bedeute, dass diese Leistung zwangsläufig ein und demselben Mehrwertsteuersatz unterliege. Nach Ansicht dieses Gerichts scheint sich diese Auslegung zwar aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs und insbesondere aus den Urteilen vom 25. Februar 1999, CPP (C‑349/96, EU:C:1999:93), vom 11. Februar 2010, Graphic Procédé (C‑88/09, EU:C:2010:76), und vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing (C‑224/11, EU:C:2013:15), zu ergeben, aber die Auslegung von Stadion Amsterdam, wonach auf verschiedene Bestandteile einer einheitlichen Leistung unter bestimmten Umständen verschiedene Mehrwertsteuersätze angewandt werden dürften, könnte durch andere Urteile des Gerichtshofs, insbesondere die Urteile vom 6. Juli 2006, Talacre Beach Caravan Sales (C‑251/05, EU:C:2006:451), und vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich (C‑94/09, EU:C:2010:253), gerechtfertigt werden.

17      Das vorlegende Gericht schließt nämlich nicht aus, dass die Urteile vom 6. Juli 2006, Talacre Beach Caravan Sales (C‑251/05, EU:C:2006:451), und vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich (C‑94/09, EU:C:2010:253), dahin ausgelegt werden könnten, dass dann, wenn innerhalb einer einheitlichen Leistung ein konkreter und spezifischer Bestandteil unterschieden werden könne, für den bei gesonderter Erbringung der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gälte, dieser ermäßigte Steuersatz für diesen konkreten und spezifischen Aspekt der Leistung gelte, ohne dass die übrigen Aspekte der Leistung einbezögen würden. Eine selektive Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf einen einzigen Bestandteil einer einheitlichen Leistung setze jedoch voraus, dass hierdurch keine Wettbewerbsverzerrung zwischen den Dienstleistern entstehe und nicht in die Funktionalität des Mehrwertsteuersystems eingegriffen werde. Konkret müsse sichergestellt werden, dass der Preis des konkreten und spezifischen Bestandteils der einheitlichen Leistung bestimmt werden könne und den tatsächlichen Wert dieses Bestandteils widerspiegle, um eine künstliche Erhöhung des diesem Bestandteil zuzurechnenden Preises auszuschließen.

18      Falls die beiden Bestandteile, aus denen die fragliche Dienstleistung bestehe, getrennt werden müssten, betrage der Gesamtpreis dieser Leistung 10 Euro pro Person, wovon 3,50 Euro auf den Eintrittspreis für das Museum des AFC Ajax entfielen.

19      Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 12 Abs. 3 Buchst. a der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass, falls eine Dienstleistung, die für die Erhebung der Mehrwertsteuer eine einheitliche Leistung ist, aus zwei oder mehreren konkreten und spezifischen Bestandteilen besteht, für die, sollten sie als separate Dienstleistungen erbracht werden, verschiedene Mehrwertsteuersätze gälten, die Erhebung der Mehrwertsteuer für dieses Dienstleistungsbündel nach den für die Bestandteile geltenden unterschiedlichen Steuersätzen erfolgen soll, sofern die Vergütung für die Dienstleistung nach einem zutreffenden Verhältnis der Bestandteile aufgespalten werden kann?

 Zur Vorlagefrage

20      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Sechste Richtlinie dahin auszulegen ist, dass eine einheitliche Leistung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die aus zwei separaten Bestandteilen, einem Haupt- und einem Nebenbestandteil, besteht, für die bei getrennter Erbringung unterschiedliche Mehrwertsteuersätze gälten, nach den für diese Bestandteile geltenden Mehrwertsteuersätzen zu besteuern ist, wenn der Preis jedes Bestandteils, der in den vom Verbraucher für die Inanspruchnahme dieser Leistung gezahlten Gesamtpreis einfließt, bestimmt werden kann.

21      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bei einem Umsatz, der verschiedene Einzelleistungen und Handlungen umfasst, eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist, um zu bestimmen, ob dieser Umsatz für Zwecke der Mehrwertsteuer zwei oder mehr getrennte Leistungen oder eine einheitliche Leistung umfasst (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. März 2011, Bog u. a., C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, EU:C:2011:135, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Februar 2013, Žamberk, C‑18/12, EU:C:2013:95, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Der Gerichtshof hat außerdem festgestellt, dass sich zum einen aus Art. 2 der Sechsten Richtlinie ergibt, dass jeder Umsatz in der Regel als eigene, selbständige Leistung zu betrachten ist, und dass zum anderen ein Umsatz, der eine wirtschaftlich einheitliche Leistung darstellt, im Interesse eines funktionierenden Mehrwertsteuersystems nicht künstlich aufgespalten werden darf. Eine einheitliche Leistung liegt dann vor, wenn zwei oder mehr Einzelleistungen oder Handlungen des Steuerpflichtigen für den Kunden so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung bilden, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre (Urteile vom 10. März 2011, Bog u. a., C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, EU:C:2011:135, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 10. November 2016, Baštová, C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23      Eine einheitliche Leistung liegt auch dann vor, wenn ein oder mehrere Teile als die Hauptleistung, andere Teile aber als Nebenleistungen anzusehen sind, die das steuerliche Schicksal der Hauptleistung teilen. Insbesondere ist eine Leistung als Nebenleistung zu einer Hauptleistung anzusehen, wenn sie für die Kundschaft keinen eigenen Zweck, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung des Leistungserbringers unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen (Urteile vom 10. März 2011, Bog u. a., C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, EU:C:2011:135, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung sowie vom 10. November 2016, Baštová, C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Insoweit hat es der Gerichtshof – in der Frage, ob der Zugang zu einem Aquapark, der den Besuchern nicht nur Einrichtungen für sportliche Betätigungen, sondern auch andere Arten der Unterhaltung und Erholung bietet, eine unter Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Richtlinie 2006/112 fallende einheitliche Leistung darstellt – als wichtiges Indiz für das Vorliegen einer solchen Leistung angesehen, wenn der Aquapark nur eine einheitliche Eintrittskarte anbietet, die Zugang zu sämtlichen Einrichtungen eröffnet, ohne dass in irgendeiner Weise hinsichtlich der Art der tatsächlich benutzten Einrichtung sowie der Art und Weise und der Dauer ihrer Benutzung während der Gültigkeit der Eintrittskarte unterschieden wird (Urteil vom 21. Februar 2013, Město Žamberk, C‑18/12, EU:C:2013:95, Rn. 32).

25      Im Ausgangsverfahren hat das vorlegende Gericht gemäß der in den Rn. 21 bis 23 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die Besichtigungstour, die aus den beiden in Rn. 15 des vorliegenden Urteils erwähnten Bestandteilen besteht, als einheitliche Leistung eingestuft und den Besuch des Museums des AFC Ajax als Nebenbestandteil des geführten Stadionrundgangs.

26      Was die Frage betrifft, ob die beiden Bestandteile dieser einheitlichen Leistung, der Haupt- und der Nebenbestandteil, zu unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen besteuert werden dürfen, die für diese Bestandteile gälten, wenn sie getrennt erbracht würden, so liefe eine Auslegung der Sechsten Richtlinie dahin, dass sie eine solche Besteuerung zulässt, der in den Rn. 21 bis 23 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zuwider. Wie Stadion Amsterdam, die niederländische Regierung und die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen eingeräumt haben, leitet sich gerade aus der Einstufung eines aus mehreren Bestandteilen bestehenden Umsatzes als einheitliche Leistung ab, dass dieser Umsatz ein und demselben Mehrwertsteuersatz unterliegen muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing, C‑224/11, EU:C:2013:15, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 10. November 2016, Baštová, C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung). Würde den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt, auf die einzelnen Bestandteile einer einheitlichen Leistung die verschiedenen für diese Bestandteile geltenden Mehrwertsteuersätze anzuwenden, führte dies zu einer künstlichen Aufspaltung der Leistung und könnte die Funktionalität des Mehrwertsteuersystems beeinträchtigen; dies verstieße gegen die in Rn. 22 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung.

27      Das gilt auch für den vom vorlegenden Gericht genannten Fall, dass es möglich ist, den Preis für jeden einzelnen Bestandteil der einheitlichen Leistung zu bestimmen. Dass eine solche Bestimmung möglich ist oder dass die Parteien sich auf diese Preise einigen, kann nämlich eine Ausnahme von den Grundsätzen, die sich aus der in den Rn. 22 und 23 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergeben, nicht rechtfertigen.

28      Außerdem könnte der Grundsatz der steuerlichen Neutralität beeinträchtigt werden, denn auf zwei einheitliche Leistungen, die aus zwei oder mehreren separaten Bestandteilen bestehen und einander in jeder Hinsicht gleichen, könnten in dem genannten Fall unterschiedliche für diese Bestandteile geltende Mehrwertsteuersätze angewandt werden, je nachdem, ob die Bestimmung des Preises der einzelnen Bestandteile möglich ist oder nicht.

29      Es ist noch zu prüfen, ob in dem in der Vorlagefrage angeführten Fall aus den Urteilen vom 25. Februar 1999, CPP (C‑349/96, EU:C:1999:93), vom 8. Mai 2003, Kommission/Frankreich (C‑384/01, EU:C:2003:264), vom 6. Juli 2006, Talacre Beach Caravan Sales (C‑251/05, EU:C:2006:451), und vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich (C‑94/09, EU:C:2010:253), die das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung bzw. Stadion Amsterdam in seinen beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen erwähnt hat, eine Ausnahme von den in den Rn. 21 bis 23 des vorliegenden Urteils genannten Grundsätzen abgeleitet werden kann.

30      Was erstens das Urteil vom 25. Februar 1999, CPP (C‑349/96, EU:C:1999:93), betrifft, hat der Gerichtshof in Rn. 29 jenes Urteils festgestellt, dass das Wesen des fraglichen Umsatzes zu ermitteln ist, um zu bestimmen, ob der Steuerpflichtige dem Verbraucher mehrere selbständige Hauptleistungen oder eine einheitliche Leistung erbringt, wobei auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen ist. Nach Ansicht des Gerichtshofs trägt eine solche Methode den beiden Umständen Rechnung, dass – wie in Rn. 22 des vorliegenden Urteils ausgeführt – sich zum einen aus Art. 2 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie ergibt, dass jede Dienstleistung in der Regel als eigene, selbständige Leistung zu betrachten ist, und zum anderen eine wirtschaftlich einheitliche Dienstleistung im Interesse eines funktionierenden Mehrwertsteuersystems nicht künstlich aufgespalten werden darf. Daher kann Rn. 29 jenes Urteils nicht dahin verstanden werden, dass sie die Anwendung eines eigenen Mehrwertsteuersatzes auf einen spezifischen und konkreten Bestandteil einer einheitlichen Leistung erlaubt. Vielmehr ist dieser Randnummer zu entnehmen, dass eine solche Anwendung darauf hinausliefe, eine einheitliche Leistung künstlich aufzuspalten.

31      Was zweitens das Urteil vom 8. Mai 2003, Kommission/Frankreich (C‑384/01, EU:C:2003:264) betrifft, so ist zum einen klarzustellen, dass dieses Urteil die Vereinbarkeit der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, wonach der ermäßigte Mehrwertsteuersatz auf eine bestimmte Kategorie der in der Sechsten Richtlinie genannten Lieferungen von Gas und Elektrizität, nämlich auf den Festbetragsanteil der Preise für solche Lieferungen über die öffentlichen Netze, beschränkt war, mit Art. 12 Abs. 3 Buchst. a und b der Sechsten Richtlinie betrifft. Zum anderen hat der Gerichtshof in diesem Vertragsverletzungsverfahren festgestellt, dass die Kommission nicht den Nachweis erbracht hatte, dass die Anwendung dieses ermäßigten Steuersatzes auf einen einzigen Aspekt der Lieferung von Gas und Elektrizität gegen den der Sechsten Richtlinie zugrunde liegenden Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstieß, ohne in irgendeiner Weise auf die Frage einzugehen, ob eine einheitliche Leistung vorlag. Aus diesem Urteil lässt sich daher keine Schlussfolgerung zur Möglichkeit der Anwendung eines eigenen Mehrwertsteuersatzes auf separate Bestandteile einer einheitlichen Leistung ziehen.

32      Was drittens das Urteil vom 6. Juli 2006, Talacre Beach Caravan Sales (C‑251/05, EU:C:2006:451), anbelangt, so betrifft es, wie sich aus Rn. 14 des Urteils ergibt, die Frage, ob die Tatsache, dass bestimmte Gegenstände eine einheitliche Lieferung bilden, die zum einen eine Hauptleistung, die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats unter eine die Rückerstattung der gezahlten Steuer vorsehende Ausnahmeregelung im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie fällt, und zum anderen Gegenstände umfasst, die nach dem genannten Recht von dieser Ausnahmeregelung ausgeschlossen sind, den betreffenden Mitgliedstaat daran hindert, auf die Lieferung dieser ausgeschlossenen Gegenstände Mehrwertsteuer zum Normalsatz zu erheben.

33      Der Gerichtshof hat diese Frage verneint und darauf hingewiesen, dass in dem diesem Urteil zugrunde liegenden Fall die Befreiung der zusammen mit dem Hauptgegenstand gelieferten Gegenstände, die nach nationalem Recht ausdrücklich von einer Befreiung ausgenommen waren, gegen den Wortlaut und die Zielsetzung des Art. 28 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie verstieß, wonach die Reichweite der durch die letztere Bestimmung vorgesehenen Ausnahme auf das beschränkt war, was nach nationalem Recht am 1. Januar 1991 ausdrücklich vorgesehen war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juli 2006, Talacre Beach Caravan Sales, C‑251/05, EU:C:2006:451, Rn. 20 bis 22). In diesem Urteil hat der Gerichtshof ausdrücklich festgestellt, dass die Rechtsprechung zur Besteuerung einheitlicher Umsätze nicht für Ausnahmeregelungen, wonach die gezahlte Steuer zurückerstattet wird, im Sinne von Art. 28 der Sechsten Richtlinie gilt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juli 2006, Talacre Beach Caravan Sales, C‑251/05, EU:C:2006:451, Rn. 24).

34      Was viertens das Urteil vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich (C‑94/09, EU:C:2010:253), anbelangt, so betrifft es die Frage, ob eine nationale Regelung, nach der ein Mitgliedstaat den ermäßigten Mehrwertsteuersatz selektiv auf den Leichentransport mit Fahrzeugen von Bestattungsunternehmen anwendet und die anderen Leistungen dieser Unternehmen sowie die damit zusammenhängende Lieferung von Gegenständen davon ausnimmt, mit der Richtlinie 2006/112 vereinbar ist. Im Rahmen der Prüfung, ob die selektive Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes in Einklang mit den Art. 96 bis 99 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 steht, ist der Gerichtshof davon ausgegangen, dass es nicht als entscheidend für die Ausübung des den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nach der Richtlinie 2006/112 belassenen Wertungsspielraums betrachtet werden kann, ob ein Umsatz, der aus mehreren Bestandteilen besteht, als einheitliche Leistung anzusehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich, C‑94/09, EU:C:2010:253, Rn. 33). Es braucht daher nicht untersucht zu werden, ob die von Bestattungsunternehmen erbrachten Dienstleistungen als einheitlicher Umsatz zu betrachten sind, sondern ist vielmehr zu prüfen, ob der Leichentransport mit einem Fahrzeug einen konkreten und spezifischen Aspekt der Kategorie von Leistungen im Sinne von Anhang III Nr. 16 der Richtlinie 2006/112 darstellt, und gegebenenfalls zu prüfen, ob die Anwendung dieses Mehrwertsteuersatzes gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstößt (Urteil vom 6. Mai 2010, Kommission/Frankreich, C‑94/09, EU:C:2010:253, Rn. 34).

35      Der Gerichtshof hat sich in diesem Urteil, wie dessen Rn. 33 zu entnehmen ist, demnach insbesondere zum Umfang des den Mitgliedstaaten in Bezug auf die selektive Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes nach der Richtlinie 2006/112 belassenen Wertungsspielraums geäußert. Im Ausgangsverfahren geht es jedoch um ein Problem anderer Natur.

36      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Sechste Richtlinie dahin auszulegen ist, dass eine einheitliche Leistung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die aus zwei separaten Bestandteilen, einem Haupt- und einem Nebenbestandteil, besteht, für die bei getrennter Erbringung unterschiedliche Mehrwertsteuersätze gälten, nur zu dem für diese einheitliche Leistung geltenden Mehrwertsteuersatz zu besteuern ist, der sich nach dem Hauptbestandteil richtet, und zwar auch dann, wenn der Preis jedes Bestandteils, der in den vom Verbraucher für die Inanspruchnahme dieser Leistung gezahlten Gesamtpreis einfließt, bestimmt werden kann.

 Kosten

37      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2001/4/EG des Rates vom 19. Januar 2001 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine einheitliche Leistung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die aus zwei separaten Bestandteilen, einem Haupt- und einem Nebenbestandteil, besteht, für die bei getrennter Erbringung unterschiedliche Mehrwertsteuersätze gälten, nur zu dem für diese einheitliche Leistung geltenden Mehrwertsteuersatz zu besteuern ist, der sich nach dem Hauptbestandteil richtet, und zwar auch dann, wenn der Preis jedes Bestandteils, der in den vom Verbraucher für die Inanspruchnahme dieser Leistung gezahlten Gesamtpreis einfließt, bestimmt werden kann.

Unterschriften
Verfahrenssprache: Niederländisch.


Direktlink zum Urteil


Antrag (ABl.)       21/10/2016

Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande), eingereicht am 17. August 2016 – Stadion Amsterdam CV/Staatssecretaris van Financiën

(Rechtssache C-463/16)

Verfahrenssprache: Niederländisch

Vorlegendes Gericht

Hoge Raad der Nederlanden

Parteien des Ausgangsverfahrens

Kassationsbeschwerdeführerin: Stadion Amsterdam CV

Kassationsbeschwerdegegner: Staatssecretaris van Financiën

Vorlagefrage

Ist Art. 12 Abs. 3 Buchst. a der Sechsten Richtlinie 1 dahin auszulegen, dass, falls eine Dienstleistung, die für die Erhebung der Mehrwertsteuer eine einheitliche Leistung ist, aus zwei oder mehreren konkreten und spezifischen Bestandteilen besteht, für die, sollten sie als separate Dienstleistungen erbracht werden, verschiedene Mehrwertsteuersätze gälten, die Erhebung der Mehrwertsteuer für dieses Dienstleistungsbündel nach den für die Bestandteile geltenden unterschiedlichen Steuersätzen erfolgen soll, sofern die Vergütung für die Dienstleistung nach einem zutreffenden Verhältnis der Bestandteile aufgespalten werden kann?

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1 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1).

Quelle