Sonntag, 28. Januar 2018
BVerfG Beschluss (2 BvR 424/17) v. 19.12.2018 (Pflicht zur Anrufung des EuGH)
Der EuGH ist die erste Adresse, wenn es um die Auslegung von Unionsrecht geht.
Und wenn er noch nicht präzise genug ausgelegt hat, müssen Gerichte ihn dazu befragen.
Das hat das BVerfG im Fall einer Auslieferung entschieden.
Werden deutsche Gerichte vor unionsrechtliche Fragen gestellt, die noch nicht abschließend geklärt sind, so ist Vorsicht geboten: Eigenständig dürfen sie das EU-Recht nicht fortbilden, betont das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einer nun bekannt gewordenen Entscheidung (Beschl. v. 19.12.2017, Az. 2 BvR 424/17). Anlass waren ein Auslieferungsersuchen aus Rumänien und die Beurteilung der dortigen Haftbedingungen.
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Rechtslupe:
Die unterbliebene Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens Weiter zum vollständigen Artikel
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung der Pflicht zur Anrufung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens
Pressemitteilung Nr. 3/2018 vom 11. Januar 2018
Beschluss vom 19. Dezember 2017
2 BvR 424/17
Wenn Gerichte über die Zulässigkeit eines im unionsrechtlich determinierten Rechtshilfeverkehr gestellten Auslieferungsersuchens befinden, haben sie Zweifelsfragen über die Anwendung und Auslegung von Unionsrecht dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) als gesetzlichem Richter vorzulegen. Zwar ist nicht jeder Verstoß gegen die unionsrechtliche Vorlagepflicht ein Verstoß gegen die Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, aber der gesetzliche Richter ist entzogen, wenn ein Gericht bei einer unvollständigen Rechtsprechung des EuGH den ihm notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen bei der Anwendung und Auslegung von Unionsrecht in unvertretbarer Weise überschreitet. Der EuGH hat die Frage, welche Mindestanforderungen Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh) an Haftbedingungen konkret stellt und nach welchen Maßstäben Haftbedingungen unionsrechtlich zu bewerten sind, bislang nicht abschließend geklärt. Eine unvertretbare Überschreitung des fachgerichtlichen Beurteilungsrahmens liegt in einer solchen Konstellation jedenfalls vor, wenn das Gericht die mit Blick auf Art. 52 Abs. 3 GRCh einzubeziehende Rechtsprechung des EGMR lediglich selektiv auswertet, ihr weitere Gesichtspunkte hinzufügt und so das Unionsrecht eigenständig fortbildet. Mit dieser Begründung hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss einer Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des Hanseatischen Oberlandesgerichts stattgegeben, mit denen dieses die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Rumänien für zulässig erklärt hatte, und die Sache zurückverwiesen. Über die Frage, ob die Beschlüsse, wie durch den Beschwerdeführer gerügt, vor dem Hintergrund der Haftbedingungen in rumänischen Justizvollzugsanstalten einen Verstoß gegen die Garantie der Menschenwürde aus Artikel 1 Abs. 1 GG darstellen, war daher zum derzeitigen Verfahrensstand nicht zu entscheiden.
Sachverhalt:
Gegen den Beschwerdeführer besteht ein Europäischer Haftbefehl, dem ein nationaler Haftbefehl eines Gerichts in Rumänien wegen des Verdachts der Begehung von Vermögens- und Urkundsdelikten in drei Fällen zugrunde liegt. Der Beschwerdeführer verbüßte wegen in Deutschland begangener Straftaten bis zum 24. September 2017 eine Freiheitsstrafe in Hamburg. Seither befindet er sich in Auslieferungshaft. Mit den angegriffenen Beschlüssen vom 3. Januar 2017 und 19. Januar 2017 erklärte das Oberlandesgericht die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Rumänien für zulässig. Zur Begründung führte es insbesondere aus, nach der Rechtsprechung des EuGH sei klargestellt, dass die Mitgliedstaaten zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verpflichtet seien. Eine Ausnahme hiervon sei nur unter außergewöhnlichen Umständen anzunehmen. Im Rahmen der vom EuGH geforderten zweistufigen Prüfung erkenne der Senat zwar substantiierten Anhalt für das Vorliegen von systemischen Mängeln im rumänischen Strafvollzug. Die zweite Voraussetzung, eine „echte Gefahr“ unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung für den Beschwerdeführer, liege jedoch nicht vor. Insbesondere hätten die rumänischen Behörden zugesichert, dass dem Beschwerdeführer ein minimaler persönlicher Raum einschließlich der Möbel von 3 m² bei Vollstreckung in einem geschlossenen Regime und von 2 m² im halboffenen oder offenen Regime zur Verfügung stehen werde. Es sei mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege innerhalb der Europäischen Union zu bedenken, dass die in Rumänien begangenen Straftaten ungesühnt blieben, wenn die Bundesrepublik Deutschland die Auslieferung ablehne. Auch drohe die Schaffung eines „safe haven“ in Deutschland. Trotz der Verurteilungen Rumäniens durch den EGMR wegen Verstoßes gegen Art. 3 EMRK halte der Senat eine Gesamtbetrachtung der Haftsituation in Rumänien für angezeigt, bei der allerdings der Haftraumgröße wesentliche indizielle Bedeutung zukomme. Seit 2014 hätten sich die Haftbedingungen in Rumänien durchgreifend verbessert, auch wenn die Überbelegungsquote immer noch bedenklich hoch sei und die von den rumänischen Behörden zugesicherte individuelle Haftraumgröße bei alleiniger Betrachtung der Quadratmeterzahl bei einer Vollstreckung jedenfalls in einem der offenen Vollzugsregime hinter den Maßgaben des EGMR zurückzubleiben scheine. Es sei allerdings auch zu berücksichtigen, dass die zum Teil insuffizienten Platzverhältnisse in der Zelle durch sehr weitgehende Aufschlusszeiten erheblich abgemildert würden. Überdies seien die baulichen Voraussetzungen für Freigänge geschaffen worden; ferner seien - neben der Verbesserung der baulichen Anlagen im Hinblick auf Heizung, sanitäre Anlagen und Hygiene - die Möglichkeiten für Hafturlaube, den Empfang von Besuch, das Waschen privater Wäsche und den Einkauf persönlicher Dinge verbessert worden.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Insbesondere hat der Beschwerdeführer unter Zugrundelegung der erhöhten Zulässigkeitsvoraussetzungen, die an eine auf eine Identitätskontrolle gerichtete Verfassungsbeschwerde zu stellen sind, substantiiert dargelegt, dass und warum eine Verletzung der Menschenwürdegarantie durch die im Zielstaat konkret in Aussicht stehenden Haftbedingungen möglich erscheint.
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen das grundrechtsgleiche Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Der Beschwerdeführer hat einen solchen Verfassungsverstoß zwar nicht ausdrücklich gerügt, dies hindert das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht, im Rahmen einer zulässigen Verfassungsbeschwerde seine Prüfung hierauf zu erstrecken.
Bei Zweifelsfragen über die Anwendung und Auslegung von Unionsrecht haben die Fachgerichte diese nach Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zunächst dem EuGH vorzulegen. Dieser ist gesetzlicher Richter. Jedoch stellt nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Das Bundesverfassungsgericht überprüft nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Dies ist unter anderem der Fall, wenn ein letztinstanzliches Hauptsachegericht - wie hier - im Falle einer unvollständigen EuGH-Rechtsprechung den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet. Dabei muss sich das Fachgericht hinsichtlich des materiellen Unionsrechts hinreichend kundig machen. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des EuGH muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren. Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig („acte clair“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé“).
Das Oberlandesgericht hat angesichts einer unvollständigen Rechtsprechung des EuGH mit der Nichtvorlage seinen Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten. Zwar hat der EuGH in den Rechtssachen Aranyosi und Căldăraru mit Urteil vom 5. April 2016 klargestellt, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der betroffenen Person im Zielstaat führen dürfe. Daher bestehe eine Verpflichtung der vollstreckenden Justizbehörden, bei Vorliegen von Anhaltspunkten für systemische Mängel im Strafvollzug des Zielstaats zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gebe, die betroffene Person werde im Anschluss an ihre Übergabe der echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in diesem Mitgliedstaat ausgesetzt sein. Der Gerichtshof hat jedoch die hier entscheidungserhebliche Frage, welche Mindestanforderungen an Haftbedingungen aus Art. 4 GRCh konkret erwachsen und nach welchen Maßstäben Haftbedingungen unionsgrundrechtlich zu bewerten sind, bisher nicht abschließend geklärt.
Das Oberlandesgericht hat den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen im Hinblick auf seine Vorlagepflicht in unvertretbarer Weise überschritten und dadurch den Beschwerdeführer in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt. Es stellt in den angegriffenen Entscheidungen grundrechtliche, unionsrechtliche und konventionsrechtliche Prüfungsmaßstäbe nebeneinander, ohne einen Zusammenhang mit den spezifischen Anforderungen von Art. 4 GRCh herzustellen. Ob und warum die sich aus Art. 4 GRCh ergebenden Mindestanforderungen an Haftbedingungen durch den EuGH abschließend geklärt oder so eindeutig sind, dass es einer Klärung durch den EuGH nicht bedarf, wird nicht begründet. Das Oberlandesgericht hat sich zwar an die vom EuGH vorgegebene Struktur einer zweistufigen Prüfung gehalten. Hinsichtlich der vorliegend auf der zweiten Stufe zu prüfenden echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 4 GRCh hat es auch erkannt, dass die von Rumänien im Fall des Beschwerdeführers abgegebenen Zusicherungen hinter den räumlichen Anforderungen, die der EGMR an einen gemäß Art. 3 EMRK konventionsrechtskonformen Strafvollzug stellt, zurückbleiben. Es hat eine unionsrechtlich relevante Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch die mangelhaften Haftbedingungen dennoch verneint. Dabei hat das Oberlandesgericht die Rechtsprechung des EGMR lediglich selektiv zugrunde gelegt und ihr im Rahmen einer „Gesamtbetrachtung“ weitere Gesichtspunkte hinzugefügt, die seiner Ansicht nach geeignet sind, die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Beschwerdeführers zu widerlegen. Nach der Rechtsprechung des EGMR folgt aus einer Unterschreitung des persönlichen Raums von 3 m² pro Gefangenem in einem Gemeinschaftshaftraum die starke Vermutung einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Diese kann normalerweise nur widerlegt werden, wenn es sich lediglich um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums handelt, ausreichende Bewegungsfreiheit und Aktivitäten außerhalb des Haftraums gewährleistet sind und die Strafe in einer geeigneten Haftanstalt vollzogen wird, wobei es keine die Haft erschwerenden Bedingungen geben darf. Es deutet vieles darauf hin, dass die drei genannten Faktoren kumulativ vorliegen müssen, um das Unterschreiten eines persönlichen Raums von 3 m² aufzuwiegen. Das Oberlandesgericht problematisiert in den angegriffenen Beschlüssen schon nicht, ob die durch Rumänien zugesicherten 2 m² persönlicher Raum, die im offenen und halboffenen Regime in einem mehrfachbelegten Haftraum auf den Beschwerdeführer entfallen würden, angesichts der deutlichen Unterschreitung der 3 m² noch eine unerhebliche (sowie kurze und gelegentliche) Reduzierung des persönlichen Raums darstellen würden. Darüber hinaus zieht das Oberlandesgericht im Rahmen einer Gesamtbetrachtung mit dem Verweis auf verbesserte Heizungsanlagen, sanitäre Anlagen und Hygienebedingungen Umstände heran, die vom EGMR zwar als kompensatorische Faktoren angesehen werden, von denen aber unklar ist, inwieweit sie nach seiner neueren Rechtsprechung die starke Vermutung eines Konventionsverstoßes durch räumliche Beengtheit entkräften können, zumal Mängel der sanitären und Heizungsanlagen sowie der Hygienebedingungen selbst dann zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen können, wenn mehr als 3 m² persönlicher Raum auf einen Gefangenen entfallen.
Indem das Oberlandesgericht ausführt, es gebe im rumänischen Strafvollzug verbesserte Möglichkeiten für Hafturlaube, den Empfang von Besuch, das Waschen privater Wäsche und den Einkauf persönlicher Dinge, stellt es zudem auf Umstände ab, die in der Rechtsprechung des EGMR für das Entkräften einer indizierten Verletzung des Art. 3 EMRK aufgrund zu beengter räumlicher Verhältnisse bisher nicht explizit herangezogen worden sind. Über die Rechtsprechung des EGMR hinaus bezieht das Oberlandesgericht in den angegriffenen Entscheidungen schließlich auch Gesichtspunkte wie die Aufrechterhaltung des zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs, die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege innerhalb der Europäischen Union sowie die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens, die potentielle Straflosigkeit mutmaßlicher Straftäter bei Nichtauslieferung und die Schaffung eines „safe haven“ als entscheidungserhebliche Belange in die Prüfung ein. Einige dieser Gesichtspunkte sind in der Rechtsprechung des EuGH zwar im Rahmen der Auslegung der mitgliedstaatlichen Pflichten, die aus dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl folgen, herangezogen worden. Die Frage, ob sie für die Bestimmung des Gewährleistungsumfangs von Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK angesichts deren absoluten Charakters überhaupt eine Rolle spielen können, ist bisher aber weder in der Rechtsprechung des EuGH noch des EGMR beantwortet worden.
Quelle: Pressemitteilung Nr. 3/2018 vom 11. Januar 2018
Beschluss vom 19. Dezember 2017 2 BvR 424/17