16. Juli 2020(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2006/112/EG – Mehrwertsteuer – Art. 9 Abs. 1 – Begriff ,Steuerpflichtiger‘ – Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt – Rechtskräftige gerichtliche Entscheidung – Grundsatz der Rechtskraft – Tragweite dieses Grundsatzes im Fall, dass diese Entscheidung mit dem Unionsrecht unvereinbar ist“
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 15. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Mai 2019, in dem Verfahren
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) und des Richters N. Jääskinen,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
– des Cabinet de avocat UR, vertreten durch D. Rădescu, avocat,
– der rumänischen Regierung, zunächst vertreten durch C. R. Canţăr, R. I. Haţieganu und A. Rotăreanu, dann durch E. Gane, R. I. Haţieganu und A. Rotăreanu als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und A. Armenia als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) und des Grundsatzes der Rechtskraft.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Cabinet de avocat UR (Rechtsanwaltskanzlei UR, im Folgenden: UR) auf der einen Seite und der Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice prin Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti (Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3, vertreten durch die regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Bukarest, Rumänien), der Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice (Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3, Rumänien), MJ und NK auf der anderen Seite darüber, ob UR mehrwertsteuerpflichtig ist.
3 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 lautet:
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;
4 Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“
5 Art. 431 („Wirkungen der Rechtskraft“) des Codul de procedură civilă (Zivilprozessordnung) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:
„(1) Niemand kann zweimal in derselben Eigenschaft, aus demselben Rechtsgrund und mit demselben Gegenstand verklagt werden.
(2) Jede Partei kann die Rechtskraft einer früheren Entscheidung in einem anderen Rechtsstreit einwenden, wenn ein Zusammenhang mit dieser Entscheidung besteht.“
6 Das vorlegende Gericht führt aus, dass die „negative oder auslöschende“ Wirkung der Rechtskraft einer erneuten Entscheidung entgegenstehe, wenn Parteiidentität gegeben sei und es um dieselbe Rechtssache und um denselben Klagegegenstand gehe, während die „positive Wirkung“ der Rechtskraft darin bestehe, dass jede Partei die Rechtskraft einer früheren Entscheidung in einem anderen Rechtsstreit einwenden könne, wenn ein Zusammenhang mit der Entscheidung des Letzteren gegeben sei, wie die Identität der streitigen Fragen.
7 Art. 432 („Einrede der Rechtskraft“) der Zivilprozessordnung sieht vor:
„Die Einrede der Rechtskraft kann vom Gericht oder von den Parteien in jedem Stadium des Verfahrens, auch vor dem Rechtsmittelgericht, geltend gemacht werden. Wird der Einrede stattgegeben, kann dies die Lage der betroffenen Partei im Anschluss an ihre eigene Klage gegenüber der sich aus der angefochtenen Entscheidung ergebenden Lage verschlechtern.“
8 UR, eine Rechtsanwaltskanzlei mit Sitz in Rumänien, beantragte am 28. Mai 2015 beim Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3 ihre Löschung aus dem Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen mit Wirkung ab dem Jahr 2002 und die Erstattung der im Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2014 von diesem Amt vereinnahmten Mehrwertsteuer mit der Begründung, dass sie fälschlicherweise in diesem Register eingetragen worden sei.
9 Da das Amt auf diesen Antrag nicht reagiert hatte, verklagte UR die Beklagten des Ausgangsverfahrens vor dem Tribunalul Bucureşti (Landgericht Bukarest, Rumänien) und beantragte, das Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3 zu verpflichten, sie aus dem Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen zu streichen, und die Beklagten des Ausgangsverfahrens gesamtschuldnerisch zu verurteilen, ihr die erhobene Mehrwertsteuer zu erstatten.
10 Mit Urteil vom 17. Februar 2017 wies das Tribunalul București (Landgericht Bukarest) die Klage von UR ab.
11 Zur Stützung der gegen dieses Urteil bei der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) eingelegten Berufung macht UR die Rechtskraft eines Urteils vom 30. April 2018 geltend, mit dem eben dieses Gericht ein Urteil des Tribunalul Bucureşti (Landgericht Bukarest) vom 21. September 2016 bestätigt und festgestellt hatte, dass ein Steuerpflichtiger wie UR, der den freien Beruf des Rechtsanwalts ausübe, keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübe und daher nicht als Person angesehen werden könne, die Gegenstände liefere oder Dienstleistungen erbringe, da die Verträge, die er mit seinen Mandanten geschlossen habe, keine Dienstleistungsverträge, sondern Verträge über juristischen Beistand seien (im Folgenden: Urteil vom 30. April 2018).
12 Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Umfasst der Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 betreffend den Begriff „Steuerpflichtiger“ auch eine Person, die den Beruf des Rechtsanwalts ausübt?
2. Ist es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zulässig, dass in einem späteren Verfahren von der Rechtskraft einer endgültigen gerichtlichen Entscheidung abgewichen wird, mit der im Wesentlichen festgestellt worden ist, dass in Anwendung und Auslegung des innerstaatlichen Mehrwertsteuerrechts ein Rechtsanwalt keine Gegenstände liefert, keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt und keine Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen abschließt, sondern Verträge über juristischen Beistand?
13 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt, als „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.
14 Nach Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt als „Steuerpflichtiger“, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.
15 Die in dieser Bestimmung verwendeten Begriffe, insbesondere der Begriff „wer“, verleihen dem Begriff „Steuerpflichtiger“ eine weite Definition mit dem Schwerpunkt auf der Selbständigkeit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in dem Sinne, dass alle natürlichen und juristischen Personen, sowohl öffentliche als auch private, sogar Einrichtungen ohne Rechtspersönlichkeit, die objektiv die Kriterien dieser Bestimmung erfüllen, als Mehrwertsteuerpflichtige gelten (Urteile vom 29. September 2015, Gmina Wrocław, C‑276/14, EU:C:2015:635, Rn. 28, sowie vom 12. Oktober 2016, Nigl u. a., C‑340/15, EU:C:2016:764, Rn. 27).
16 Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 definiert den Begriff „wirtschaftliche Tätigkeit“ als alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich u. a. der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe.
17 Da der Rechtsanwaltsberuf ein freier Beruf ist, geht folglich aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 hervor, dass eine Person, die diesen Beruf ausübt, eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt und als „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.
18 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2006/112 der Mehrwertsteuer einen sehr weiten Anwendungsbereich zuerkennt, indem sie in Art. 2, der die steuerbaren Umsätze betrifft, außer der Einfuhr von Gegenständen innergemeinschaftliche Erwerbe von Gegenständen, Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen erfasst, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt (Urteile vom 19. Juli 2012, Rēdlihs, C‑263/11, EU:C:2012:497, Rn. 24, und vom 3. September 2015, Asparuhovo Lake Investment Company, C‑463/14, EU:C:2015:542, Rn. 33).
19 Zudem hat der Gerichtshof in Rn. 49 des Urteils vom 17. Juni 2010, Kommission/Frankreich (C‑492/08, EU:C:2010:348), entschieden, dass ein Mitgliedstaat keinen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Leistungen anwenden darf, die von Rechtsanwälten erbracht werden, und für die diese im Rahmen der Prozesskostenhilfe vollständig oder teilweise durch den Staat entschädigt werden. Diese Beurteilung setzt aber notwendigerweise voraus, dass diese Leistungen als der Mehrwertsteuer unterliegend und diese Rechtsanwälte, die in diesem Urteil als „private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht“ eingestuft werden, als Steuerpflichtige handelnd angesehen werden.
20 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt, als „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.
21 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einem nationalen Gericht verwehrt, den Grundsatz der Rechtskraft in einem Rechtsstreit über die Mehrwertsteuer anzuwenden, wenn die Anwendung dieses Grundsatzes dieses Gericht daran hindern würde, die Vorschriften der Union über die Mehrwertsteuer zu berücksichtigen.
22 In diesem Zusammenhang ist zunächst auf die Bedeutung hinzuweisen, die dem Grundsatz der Rechtskraft sowohl im Unionsrecht als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (Urteile vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 22, vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 26, und vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 64).
23 Daher gebietet es das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte (Urteil vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Insbesondere verlangt das Unionsrecht nicht, dass ein nationales Rechtsprechungsorgan seine rechtskräftig gewordene Entscheidung grundsätzlich rückgängig machen muss, um der Auslegung einer einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmung durch den Gerichtshof Rechnung zu tragen (Urteile vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 28, und vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 66).
25 Aufgrund fehlender unionsrechtlicher Vorschriften in diesem Bereich ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen dieser Staaten, die Modalitäten der Wirkung der Rechtskraft festzulegen. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen internen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Äquivalenz), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (Urteile vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 24, vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 54, und vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 58).
26 Besteht demnach für das nationale Gericht nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, eine rechtskräftig gewordene Entscheidung rückgängig zu machen, um die Situation mit dem nationalen Recht in Einklang zu bringen, muss davon, sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, nach den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität Gebrauch gemacht werden, damit die Vereinbarkeit der betreffenden Situation mit dem Unionsrecht wiederhergestellt wird (Urteil vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens die „positive Wirkung“ der Rechtskraft seines Urteils vom 30. April 2018 geltend macht.
28 Sollte es dieses Urteil als rechtskräftig ansehen, könnten die Erwägungen dieses Urteils einen für den Kläger günstigen steuerlichen Präzedenzfall schaffen und die Grundlage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits bilden.
29 Aus der Vorlageentscheidung geht ferner hervor, dass der Ausgangsrechtsstreit den Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2014 betrifft, während das Urteil vom 30. April 2018 den Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 30. November 2014 betraf. Außerdem unterscheidet sich der Gegenstand dieses Rechtsstreits, nämlich ein Antrag auf Streichung aus dem Register der Mehrwertsteuerpflichtigen mit Wirkung ab dem Jahr 2002 und auf Erstattung der von der rumänischen Finanzverwaltung im fraglichen Zeitraum erhobenen Mehrwertsteuer, von demjenigen der Rechtssache, in der das genannte Urteil ergangen ist.
30 Für den Fall, dass das vorlegende Gericht nach den anzuwendenden Verfahrensvorschriften des rumänischen Rechts die Möglichkeit hat, die Klage des Ausgangsverfahrens abzuweisen, obliegt es ihm, diese zu nutzen und für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts, im vorliegenden Fall der Richtlinie 2006/112, Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls die Auslegung, die es im Urteil vom 30. April 2018 vorgenommen hat, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, wenn sie nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist (vgl. entsprechend Urteil vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 61, und vom 5. März 2020, OPR‑Finance, C‑679/18, EU:C:2020:167, Rn. 44).
31 Sollte das vorlegende Gericht im gegenteiligen Fall der Auffassung sein, dass die Anwendung des Grundsatzes der Rechtskraft der Infragestellung einer gerichtlichen Entscheidung wie dem Urteil vom 30. April 2018 entgegensteht, obwohl diese Entscheidung einen Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt, kann die Anwendung dieses Grundsatzes das vorlegende Gericht auch nicht daran hindern, bei der gerichtlichen Überprüfung einer anderen Entscheidung der zuständigen Steuerbehörde, die denselben Steuerschuldner oder Steuerpflichtigen, aber ein anderes Steuerjahr betrifft, in einer solchen Entscheidung enthaltene Feststellungen zu einem gemeinsamen Punkt in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 29).
32 Eine solche Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft hätte nämlich zur Folge, dass in dem Fall, dass eine in Rechtskraft erwachsene gerichtliche Entscheidung auf einer falschen Auslegung der Unionsregeln auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer beruht, sich die unrichtige Anwendung dieser Regeln für jeden neuen Veranlagungszeitraum wiederholte, ohne dass diese fehlerhafte Auslegung korrigiert werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 30).
33 Eine Behinderung der effektiven Anwendung der Unionsregeln auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer von solcher Reichweite kann nicht durch den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden und muss daher als dem Effektivitätsgrundsatz widersprechend angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 31).
34 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einem nationalen Gericht verwehrt, im Rahmen eines die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreits den Grundsatz der Rechtskraft anzuwenden, wenn sich dieser Rechtsstreit weder auf einen Besteuerungszeitraum bezieht, der mit dem identisch ist, um den es in dem Rechtsstreit ging, der der rechtskräftigen Entscheidung zugrunde lag, noch den gleichen Gegenstand wie dieser hat, und wenn die Anwendung dieses Grundsatzes die Berücksichtigung der unionsrechtlichen Mehrwertsteuerregelung durch dieses Gericht behindern würde.
35 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht
gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat
BFH V. Senat
AO § 110, AO § 155, AO § 172, AO § 355 Abs 1, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 227, AO § 125 Abs 1
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2022/07 U
Leitsätze
Ein Steuerbescheid ist auch bei einem erst nachträglich erkannten Verstoß gegen das Unionsrecht nicht unter günstigeren Bedingungen als bei einer Verletzung innerstaatlichen Rechts
änderbar. Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche abschließend. Nach den Vorgaben des Unionsrechts muss das steuerrechtliche
Verfahrensrecht auch keine weitergehenden Korrekturmöglichkeiten für Steuerbescheide vorsehen (Bestätigung des BFH-Urteils vom 23. November 2006 V R 67/05, BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436) .
Tatbestand
I.
1
Streitig ist, ob der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ein Anspruch auf Änderung bestandskräftiger Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre (1993
bis 1998) zusteht.
2
Die Klägerin betrieb in den Streitjahren eine Spielhalle und führte dort Umsätze durch den Betrieb von Glücksspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit aus.
3
In den Umsatzsteuerbescheiden für die Streitjahre wurden diese Umsätze, den Steuererklärungen der Klägerin folgend, vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ‑‑FA‑‑)
als umsatzsteuerpflichtig behandelt.
4
Mit Urteil vom 17. Februar 2005 entschied der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Linneweber und Akritidis C-453/02 und C-462/02 (Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage
2005, 94), dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) unmittelbare
Wirkung zukomme, so dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten auf die Steuerfreiheit dieser Umsätze berufen könne. Bei Ergehen
dieses Urteils lag für alle Streitjahre bereits Festsetzungsverjährung nach den Bestimmungen der Abgabenordnung (AO) vor. Die Einspruchsfrist für die für die Streitjahre ergangenen Umsatzsteuerjahresbescheide
war bereits seit mehr als einem Jahr abgelaufen.
5
Mit Schreiben unter dem 13. April 2005 legte die Klägerin Einspruch gegen die für die Streitjahre ergangenen Umsatzsteuerfestsetzungen ein und machte die Steuerfreiheit für die
Umsätze mit Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit geltend.
6
Das FA verwarf die Einsprüche wegen Verfristung als unzulässig. Die hiergegen eingelegte Klage zum Finanzgericht (FG) hat das FG aus den in "Entscheidungen der Finanzgerichte"
2010, 364 mitgeteilten Gründen abgewiesen.
7
Hiergegen richtet sich die Revision. Die Klägerin rügt die Verletzung materiellen Bundesrechts sowie des Unionsrechts. Sie regt an, dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsersuchens
folgende Fragen vorzulegen:
8
"1. Kann sich ein Steuerpflichtiger gegenüber dem Finanzamt erfolgreich darauf berufen, dass die Europarechtswidrigkeit einer steuergesetzlichen Norm des nationalen Rechts durch den
EuGH festgestellt worden ist, wenn nach nationalem Recht die Vorschrift der Bestandskraft entgegenstünde?
9
2. Gilt dies insbesondere dann, wenn die Umsetzung einer Richtlinie fehlerhaft geschehen ist, sodass dem Steuerpflichtigen nicht offenbart wurde, dass eine Abweichung des Gemeinschaftsrechts
vom nationalen Recht vorlag und der Steuerpflichtige durch diese Unwissenheit nicht in der Lage war, seine Rechte innerhalb der nationalen Frist geltend zu machen?
10
3. Ist es für die Zumutbarkeit eines Rechtsbehelfs im Sinne der Entscheidung des EuGH vom 24. März 2009 C-445/06, Danske Slagterier von Relevanz, ob es sich um einen Eingriff handelt,
der sich für den Bürger als ungewöhnlich oder selten darstellt, oder ob es sich um einen Eingriff handelt, der bereits vor Inkrafttreten der betreffenden verletzten Richtlinie durchgeführt wurde und auch
bei anderen Steuerpflichtigen durchgeführt wird, sodass der Bürger keinen Anlass einer besonderen Prüfung erkennen kann, wie dies bei der Umsatzsteuerveranlagung der Fall ist und wirkt sich dies bejahendenfalls
auf die Zumutbarkeit aus?
11
4. Muss der Steuerpflichtige ‑‑entgegen der Aussage in der Sache Emmott vom 25. Juli 1991 C-208/90‑‑ die Richtlinien der EG kennen, auf denen nationale Gesetze beruhen,
die für ihn anwendbar sind?
12
5. Falls Frage 3 (gemeint: 4) zu bejahen ist, stellt sich Frage 4 (gemeint: 5): Macht es für den Beginn oder für die Länge der Rechtsmittelfrist einen Unterschied, dass das
nationale Recht voraussetzt, dass der Bürger die nationalen Rechtsvorschriften zumindest kennen muss, er die Vorschriften der EG-Richtlinien aber nicht kennen muss und nicht kennt (Verstoß gegen den Grundsatz der
Effektivität)? Ist der kurze Lauf der Rechtsmittelfrist deshalb im nationalen Recht angemessen, weil Kenntnis vorausgesetzt wird? Bedeutet dies dann, dass beim Verstoß gegen europarechtliche Richtlinien eine längere
Frist oder mangels anwendbarer Regelungen des nationalen Rechts gar keine Frist läuft?
13
6. Kann der Steuerpflichtige trotz entgegenstehender Bestandskraft nach nationalem Recht Rückzahlung der zu Unrecht vereinnahmten Steuer verlangen?
14
7. Unter welchen Voraussetzungen kann der Steuerpflichtige eine entsprechende Rückzahlung verlangen?"
15
Die Klägerin beantragt,
das FG-Urteil sowie die Einspruchsentscheidung vom 20. April 2007 aufzuheben und die angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzungen 1993 bis 1998 in der Weise zu ändern, dass die Umsätze aus Geldspielautomaten
mit Gewinnmöglichkeit steuerfrei belassen und damit im Zusammenhang stehende Vorsteuern nicht berücksichtigt werden,
hilfsweise den Streitfall dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.
16
Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
17
Die Revision der Klägerin ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat zu Recht sowohl
die Nichtigkeit der angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzungen als auch die Änderbarkeit der bestandskräftigen und festsetzungsverjährten Bescheide für die Streitjahre verneint.
18
1. Die angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzungen sind nicht nichtig.
19
Gemäß § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht
kommenden Umstände offenkundig ist. Nach § 125 Abs. 2 AO ist ein Verwaltungsakt z.B. nichtig, der die erlassende Finanzbehörde nicht erkennen lässt, den aus tatsächlichen Gründen niemand befolgen
kann, der die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangt oder der gegen die guten Sitten verstößt.
20
Im Streitfall liegt kein Nichtigkeitsgrund vor. Ein Verwaltungsakt ist nicht allein deswegen nichtig, weil er der gesetzlichen Grundlage entbehrt oder weil die in Betracht kommenden Rechtsvorschriften
‑‑auch diejenigen des formellen Rechts (Verfahrensrechts)‑‑ unrichtig angewendet worden sind. Der erforderliche besonders schwere Fehler liegt nur vor, wenn er die an eine ordnungsmäßige
Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen und offenkundigen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, den Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall
nicht erfüllt, da die Klägerin selbst in ihren Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre die streitigen Umsätze als steuerpflichtig angesehen hat und das FA dem gefolgt ist.
21
Darüber hinaus ist ein Verwaltungsakt nicht allein deswegen nichtig, weil die in Betracht kommenden Rechtsvorschriften unrichtig angewendet worden sind (Urteile des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑
vom 13. Mai 1987 II R 140/84, BFHE 150, 70, BStBl II 1987, 592, und vom 26. September 2006 X R 21/04, BFH/NV 2007, 186). Für Verstöße gegen Unionsrecht ergeben sich insoweit keine Besonderheiten (vgl. EuGH-Urteil
vom 6. Oktober 2009 C-40/08, Asturcom Telecomunicationes SL, Slg. 2009, I-9579, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht ‑‑EWS‑‑ 2009, 475, Europäische Zeitschrift für Wirtschaft ‑‑EuZW‑‑
2009, 852, unter Rdnr. 37; ebenso Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ‑‑BVerwG‑‑ vom 17. Januar 2007 6 C 32/06, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht ‑‑NVwZ‑‑ 2007, 709).
Die Gegenauffassung, nach der ein Verstoß gegen das Unionsrecht stets einen "schweren" Rechtsfehler begründen soll (vgl. de Weerth, Deutsches Steuerrecht ‑‑DStR‑‑ 2008, 1368, 1369
zu § 130 AO), lässt unberücksichtigt, dass für einen unionsrechtswidrigen Bescheid keine andere Behandlung geboten ist als für einen Bescheid, der auf einer nicht verfassungskonformen Rechtsgrundlage
beruht und dessen Bestand hiervon unberührt bleibt (§ 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht; BFH-Urteile vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714; vom 21. März
1996 XI R 36/95, BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399).
22
2. Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin ihren Einspruch verspätet eingelegt hat.
23
Nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO ist der Einspruch (§ 347 Abs. 1 Satz 1 AO) innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Ein Einspruch gegen eine Steueranmeldung
ist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 2 AO innerhalb eines Monats nach Eingang der Steueranmeldung bei der Finanzbehörde, in den Fällen des § 168 Satz 2 AO innerhalb eines Monats nach Bekannt werden der
Zustimmung, zu erheben.
24
Die Klägerin hat mit Schreiben unter dem 13. April 2005 Einspruch gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre (1993 bis 1998) erhoben. Nach den für den Senat bindenden
Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) war zu diesem Zeitpunkt bereits für alle Streitjahre sowohl die Monatsfrist als auch die ‑‑nach Auffassung der Klägerin wegen fehlender Rechtsbehelfsbelehrung
anwendbare‑‑ Jahresfrist für die Einlegung eines Einspruchs abgelaufen. Dies ist im Übrigen auch zwischen den Beteiligten unstreitig.
25
3. Die Versäumung der Einspruchsfrist durch die Klägerin ist nicht aufgrund der sog. "Emmott'schen Fristenhemmung" unbeachtlich.
26
Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 25. Juli 1991 C-208/90, Emmott, Slg. 1991, I-4269 Rdnr. 23) kann sich ein säumiger Mitgliedstaat zwar bis zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen
Umsetzung einer Richtlinie unter bestimmten Voraussetzungen nicht auf die verspätete Einlegung einer Klage berufen (vgl. zuletzt EuGH-Urteil vom 24. März 2009 C-445/06, Danske Slagterier, Slg. 2009, I-2119 Rdnrn.
53 f.). Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht uneingeschränkt, sondern setzt das Vorliegen besonderer Umstände voraus, die sich in der Rechtssache Emmott daraus ergaben, dass ein Bürger eines Mitgliedstaates von
dessen Behörden zunächst von der rechtzeitigen Einlegung einer Klage abgehalten und ihm später der Einwand der verspäteten Klageerhebung entgegen gehalten wurde (EuGH-Urteil Danske Slagterier in Slg. 2009,
I-2119 Rdnr. 54). Eine derartige Fallgestaltung ist im Streitfall nicht gegeben, da die Klägerin nicht daran gehindert war, innerhalb der allgemeinen Fristen ihre Umsatzsteuerfestsetzungen anzufechten (vgl. BFH-Entscheidungen
vom 23. November 2006 V R 67/05, BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; vom 23. November 2006 V R 51/05, BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433; vom 9. Oktober 2008 V R 45/06, BFH/NV 2009, 39; BFH-Urteile in BFHE 179, 563, BStBl II
1996, 399; vom 15. September 2004 I R 83/04, BFH/NV 2005, 229).
27
4. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist nach dem Unionsrecht weder die Dauer der Einspruchsfrist zu beanstanden, noch besteht eine Anlaufhemmung bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie Kenntnis
von der EuGH-Entscheidung Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 erlangt hat. Das FA war auch nicht verpflichtet, ihr die Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist zu gewähren.
28
a) Die Dauer der Einspruchsfrist nach § 355 AO verstößt weder gegen die unionsrechtlichen Vorgaben des Äquivalenz- noch des Effektivitätsprinzips, da nach dem EuGH-Urteil
vom 19. September 2006 C-392/04 und C-422/04, I-21 Germany und Arcor (Slg. 2006, I-8559 Rdnrn. 59, 60 und 62) eine einmonatige Frist zur Einlegung eines Rechtsbehelfs angemessen ist. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist
der Senat auf sein Urteil in BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436.
29
b) Die Einspruchsfrist beginnt ‑‑trotz der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG in nationales Recht‑‑ mit Bekanntgabe des Steuerbescheids
und nicht erst zu dem Zeitpunkt, in dem die Klägerin Kenntnis von der EuGH-Entscheidung Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 erlangen konnte.
30
Das Unionsrecht verlangt auf Grundlage der aus Art. 10 Abs. 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EG) abgeleiteten Prinzipien der Effektivität und der
Äquivalenz (zum Grundsatz der Zusammenarbeit vgl. EuGH-Urteil vom 8. September 2010 C-409/06, Winner Wetten, juris, unter Rdnrn. 55, 58) nur, dass die Mitgliedstaaten die verfahrensrechtlichen Fristen, die zur Durchsetzung
des Unionsrechts einzuhalten sind, nicht ungünstiger ausgestalten als in den nur das innerstaatliche Recht betreffenden Verfahren. Weiter darf es nicht praktisch unmöglich sein, eine auf das Unionsrecht gestützte
Rechtsposition geltend zu machen. Danach sind Verwaltungsakte, die nach Ablauf einer angemessenen Frist nicht mehr anfechtbar sind, selbst wenn sie gegen das Unionsrecht verstoßen, für die Beteiligten bindend (vgl.
EuGH-Entscheidungen vom 13. Januar 2004 C-453/00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837, unter Rdnr. 24; I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnr. 51).
31
Die Klägerin beansprucht demgegenüber für sich eine Besserstellung gegenüber den Steuerpflichtigen, die sich auf eine Rechtsposition des innerstaatlichen Rechts berufen
können, diese aber nicht kennen und sich nach Ablauf der Einspruchsfrist in § 355 Abs. 1 AO die formelle Bestandskraft der Steuerfestsetzung entgegenhalten lassen müssen.
32
Die von der Klägerin für maßgeblich gehaltenen Umstände, dass die Richtlinie 77/388/EWG sich an die Mitgliedstaaten und nicht unmittelbar an den Bürger als Adressaten
wende und es bis zum EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 nicht vorhersehbar gewesen sei, dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbar Anwendung finden könne,
rechtfertigt entgegen ihrer Auffassung nicht den Schluss, dass es "praktisch unmöglich" war, diese Rechtsposition im Rahmen der "normalen" Einspruchsfrist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1
AO durchzusetzen. Denn es kommt nicht darauf an, ob eine nach Erlass eines Bescheids eintretende günstige Rechtsentwicklung auf einer günstigen Richtlinienauslegung durch den EuGH oder auf einer anderen Grundlage
beruht. Ein Steuerpflichtiger, der mit Rücksicht auf die herrschende Rechtsauffassung zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses von einer Klage abgesehen und es unterlassen hat, die Gerichte selbst von einem Verstoß der
Steuerfestsetzung gegen das Unionsrecht zu überzeugen, nimmt den Eintritt der Bestandskraft ‑‑auch für den Fall eines späteren Rechtsprechungswandels‑‑ bewusst in Kauf (vgl. bereits Senatsurteil
vom 29. Mai 2008 V R 45/06, BFH/NV 2008, 1889, unter II.3.b; s. auch weiter unten bei II.5.c bb). Die Rechtsverfolgung innerhalb der allgemeinen gesetzlichen Fristen ist daher auch bei Fragen des Unionsrechts möglich
und zumutbar (BFH-Urteil in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433, unter II.3.).
33
c) Das FG hat weiter zutreffend entschieden, dass der Klägerin keine Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist gemäß § 110 AO zu gewähren war.
34
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass im Zeitpunkt des Einspruchs mit Schreiben unter dem 13. April 2005, den das FG zugleich als Antrag auf Wiedereinsetzung gemäß §
110 Abs. 1 AO behandelte, mehr als ein Jahr seit dem Ende der versäumten Einspruchsfrist verstrichen war. Das FG hat eine Wiedereinsetzung ‑‑sowohl auf Antrag der Klägerin als auch von Amts wegen‑‑
daher zutreffend bereits im Hinblick auf die gemäß § 110 Abs. 3 AO einzuhaltende Jahresfrist verneint.
35
Der Auffassung der Klägerin, die Jahresfrist sei unbeachtlich, da sie bis zum EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 weder habe wissen können
noch müssen, dass die Steuerbefreiung gemäß Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbar zu ihren Gunsten anwendbar sei, schließt sich der Senat nicht an. Die Klägerin kann sich
insoweit nicht auf das BFH-Urteil vom 8. Februar 2001 VII R 59/99 (BFHE 194, 466, BStBl II 2001, 506) berufen. Diese Entscheidung betraf die Wiedereinsetzung in die prozessuale Antragsfrist gemäß § 68 FGO a.F.
Für den Streitfall, in dem es die Klägerin von vornherein unterlassen hat, Rechtsbehelfe gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen einzulegen, lässt sich hieraus nichts ableiten.
36
Die Klägerin beansprucht vielmehr (vgl. bereits oben unter II.4.b) eine verfahrensrechtliche Besserstellung gegenüber den sich aus dem nationalen Recht ergebenden Rechten, um die
auf der Richtlinie 77/388/EWG beruhende Steuerbefreiung durchzusetzen. Das Unionsrecht gebietet es jedoch nicht, die Klägerin verfahrensrechtlich besserzustellen (vgl. oben II.4.a zur Einspruchsfrist und die Senatsentscheidung
in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433, unter II.3.; EuGH-Urteil Asturcom Telecomunicationes SL in Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnr. 37).
37
5. Die Klägerin kann auch keine Änderung der bestandskräftigen Umsatzsteuerfestsetzungen beanspruchen.
38
a) Es ist unionsrechtlich grundsätzlich nicht erforderlich, eine Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder nach Erschöpfen des Rechtswegs
bestandskräftig geworden ist oder durch ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil bestätigt wurde (ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. Urteile Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837, unter Rdnr. 24;
I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnr. 51).
39
b) Zu beachten ist allerdings, dass die für den Erlass einer Verwaltungsentscheidung zuständige Behörde nach dem (für die Streitjahre noch) in Art. 10 EG verankerten Grundsatz
der Zusammenarbeit unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet sein kann, ihre Entscheidung zu überprüfen und zurückzunehmen (EuGH-Urteile Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837, unter Rdnr. 28; vom 16.
März 2006 C-234/04, Kapferer, Slg. 2006, I-2585, unter Rdnr. 23; I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnr. 52; vom 12. Februar 2008 C-2/06, Kempter, Slg. 2008, I-411, unter Rdnrn. 37 bis 39; vom 3. September
2009 C-2/08, Olimpiclub, Slg. 2009, I-7501, EuZW 2009, 739, unter Rdnrn. 23 ff.; Asturcom Telecomunicationes SL in Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnr. 37).
40
Für diesen Überprüfungs- und Aufhebungsanspruch müssen nach der Rechtsprechung des EuGH vier "Voraussetzungen" vorliegen:
41
- Erstens muss die Behörde nach nationalem Recht befugt sein, die bestandskräftige Entscheidung zurückzunehmen.
- Zweitens muss die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts gegenüber dem die Änderung begehrenden Steuerpflichtigen bestandskräftig geworden sein.
- Drittens muss das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des EuGH zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruhen, die erfolgt ist, ohne dass der EuGH um Vorabentscheidung ersucht worden ist, obwohl die Voraussetzungen einer Vorlage gemäß Art. 234 Abs. 3 EG (nunmehr Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ‑‑AEUV‑‑) erfüllt waren.
- Viertens muss der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des EuGH erlangt habe, an die Verwaltungsbehörde gewandt haben.
42
c) Bereits die erste Voraussetzung, nach der eine nationale Behörde zur Aufhebung oder Änderung eines rechtswidrigen bestandskräftigen Steuerbescheids "befugt" sein
muss, ist im Streitfall nicht erfüllt.
43
aa) Steuerbescheide i.S. des § 155 AO können bei nachträglich erkannter Unionsrechtswidrigkeit ‑‑wie auch bei einem nachträglich erkannten Verstoß gegen
innerstaatliches Recht‑‑ auf Grundlage der "Kühne & Heitz-Grundsätze" und den §§ 172 ff. AO nicht geändert werden, da es im steuerrechtlichen Verfahrensrecht an der hierzu
erforderlichen Befugnis fehlt (vgl. BFH-Urteile in BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; vom 23. November 2006 V R 28/05, BFH/NV 2007, 872; in BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399; vom 8. Juli 2009 XI R 41/08, BFH/NV 2010, 1; zustimmend
Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 130 Rz 32 f. und § 172 Rz 4 a; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO vor §§ 172 bis 177 Rz 41.1; de Weerth, Der Betrieb ‑‑DB‑‑ 2009, 2677;
Tehler in Festschrift für Reiss 2008, 81, 94; Leonard/Sczcekalla, Umsatzsteuer-Rundschau ‑‑UR‑‑ 2005, 420, 426 ff.; Birk/Jahndorf, UR 2005, 198, 199 f.; Gosch, DStR 2005, 413 ff., DStR 2004, 1988,
1991).
44
Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH (Urteile Kapferer in Slg. 2006, I-2585, unter Rdnrn. 22 und 23; Asturcom Telecomunicationes SL in Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009,
852, unter Rdnrn. 37 f.), der der Senat folgt, setzt der auf den "Kühne & Heitz-Grundsätzen" beruhende Anspruch auf Überprüfung oder Änderung rechtskräftiger Entscheidungen voraus,
dass das nationale Verfahrensrecht hierfür eine Rechtsgrundlage vorsieht und insoweit das Äquivalenz- sowie das Effektivitätsprinzip beachtet werden. Hiermit stellt der EuGH klar, dass das Unionsrecht weder
verlangt, im nationalen Verfahrensrecht einen entsprechenden Überprüfungs- oder Änderungsanspruch für bestandskräftige unionsrechtswidrige Verwaltungsakte vorzusehen, noch, dass aus dem Unionsrecht
ein eigenständiger (vom nationalen Recht losgelöster) Überprüfungs- und Änderungsanspruch abgeleitet werden kann (unzutreffend daher Jahndorf/Oellerich, DB 2008, 2559, 2563; Meilicke, DStR 2007, 1892,
1893; ders., Betriebs-Berater ‑‑BB‑‑ 2004, 1087; Schacht/Steffens, BB 2008, 1254, 1257).
45
bb) Die fehlende Änderungsmöglichkeit für bestandskräftige unionsrechtswidrige Steuerbescheide in den §§ 172 ff. AO verstößt entgegen der Auffassung
der Klägerin nicht gegen den unionsrechtlichen Äquivalenzgrundsatz.
46
Im Streitfall kann offen bleiben, ob auf Grundlage der "Kühne & Heitz-Grundsätze" im Rahmen des § 130 Abs. 1 AO bei unionsrechtswidrigen Steuerverwaltungsakten
(§ 118 AO) eine Ermessensreduzierung eintreten und ein Überprüfungs- oder Änderungsanspruch bei bestandskräftigen Steuerverwaltungsakten bestehen kann (so Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler,
§ 130 AO Rz 22 ff.; Jahndorf/Oellerich, DB 2008, 2559, 2564). Selbst wenn dies zutreffen sollte, verletzt die abweichende Rechtslage bei Steuerbescheiden (vgl. § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d AO) nicht das Äquivalenzprinzip.
Der nach nationalem Recht bestehende Dualismus der abgabenrechtlichen Korrekturvorschriften mit voneinander unabhängigen Regelungssystemen ‑‑§§ 130, 131 AO einerseits und §§ 172 ff. AO
andererseits‑‑ ist ein Grundprinzip des steuerrechtlichen Verfahrensrechts (vgl. Wernsmann in HHSp, vor §§ 130 bis 133 AO Rz 43, 114 ff.; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Vorbemerkungen
zu §§ 172 bis 177 AO Rz 6; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO vor §§ 130 bis 133 AO Rz 8; Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 172 Rz 1; Pahlke/Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., vor §§
172 bis 177 Rz 5). Dem Äquivalenzprinzip wird genügt, wenn innerhalb der verfahrensrechtlich jeweils eigenständigen Änderungsregelungen für rechtswidrige bestandskräftige Steuerverwaltungsakte
einerseits und für Steuerbescheide andererseits dieselben Änderungsmöglichkeiten zur Durchsetzung der sich aus dem nationalem Recht und dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche bestehen (vgl. z.B. EuGH-Urteil
Asturcom Telecomunicationes SL, Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnrn. 49 f.). Dies ist vorliegend der Fall, da Verstöße gegen innerstaatliches Recht und das Unionsrecht innerhalb der beiden
Änderungssysteme jeweils gleich behandelt werden.
47
cc) Ferner verstößt die fehlende nachträgliche Änderungsmöglichkeit für unionsrechtswidrige Steuerbescheide nicht gegen das Effektivitätsprinzip.
48
Der Grundsatz der Effektivität ist entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin nicht verletzt, wenn der Steuerpflichtige eine Steuerfestsetzung des FA bestandskräftig werden
lässt, weil eine künftige Rechtsprechungsänderung des EuGH oder BFH zu seinen Gunsten nicht absehbar ist (Senatsurteil in BFH/NV 2008, 1889, unter II.1.d). Denn durch das Rechtsinstitut der Bestandskraft bezweckt
der Gesetzgeber den Eintritt der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens. Dieser Zweck würde vereitelt, wenn die Bestandskraft nachträglich durchbrochen werden könnte und dies von der regelmäßig schwierig
zu beurteilenden Vorhersehbarkeit einer Rechtsprechungsänderung des EuGH oder des BFH abhängig gemacht würde. Es ist ‑‑wie bereits unter II.4.b erläutert‑‑ Sache des Steuerpflichtigen,
unter Übernahme des Kostenrisikos seine Chance zur Herbeiführung der Korrektur einer entgegenstehenden Rechtsprechung zu wahren, indem er Rechtsmittel einlegt (Senatsurteil in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433).
Sieht der Steuerpflichtige hiervon ab, nimmt er den Eintritt der Bestandskraft auch für den Fall einer späteren Rechtsprechungsänderung bewusst in Kauf.
49
Dass nach den von der Klägerin angeführten zivilrechtlichen Entscheidungen eine Haftung von Steuerberatern bis zum EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV
Beilage 2005, 94 mangels Verschuldens nicht in Betracht kommen kann, wenn diese auf die Steuerfreiheit der Umsätze nicht hingewiesen hatten, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Der Effektivitätsgrundsatz garantiert
‑‑anders als die Klägerin meint‑‑ nur eine gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeit in angemessener Frist. Er betrifft das Verfahren, nicht aber die Frage, ob es in der Sache schwierig ist, eine
günstige Rechtsentwicklung vorherzusehen und durchzusetzen. Der EuGH hat die deutschen Einspruchs- und Klagefristen und damit die nationalen verfahrensrechtlichen Regelungen zur Durchsetzung des Unionsrechts nicht beanstandet
(EuGH-Urteil I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnrn. 58 bis 60; vgl. auch unter II.4.a und b).
50
dd) Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 4. September 2008 2 BvR 1321/07 (Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst 2009, 60) ergibt sich ebenfalls nichts anderes.
Zwar hat das BVerfG dort ausgeführt, der EuGH habe die Fragen zur Durchbrechung der Bestandskraft unionsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte der Mitgliedstaaten noch nicht erschöpfend beantwortet und es sei
unklar, welche Bedeutung der vom EuGH in der "Kühne und Heitz-Entscheidung" aufgestellten Voraussetzung zukomme, die Behörde müsse nach nationalem Recht befugt sein, die Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen.
Die vom BVerfG hierzu zitierten Schrifttumsauffassungen beziehen sich aber zu Recht ausschließlich auf die ‑‑für Steuerbescheide nicht maßgeblichen‑‑ §§ 48 Abs. 1 Satz 1,
51 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG), die für rechtswidrige unanfechtbare Verwaltungsakte im allgemeinen Verwaltungsrecht wie in § 130 Abs. 1 AO ‑‑anders als die §§ 172 ff. AO‑‑
unter bestimmten Voraussetzungen eine ermessensgebundene Überprüfungs- und Änderungspflicht vorsehen (vgl. im Hinblick auf unionsrechtswidrige Verwaltungsakte zu den §§ 48, 51 VwVfG BVerwG-Urteile
vom 22. Oktober 2009 1 C 26/08, Deutsches Verwaltungsblatt ‑‑DVBl‑‑ 2010, 261; vom 17. Januar 2007 6 C 32/06, NVwZ 2007, 709).
51
d) Die zweite Voraussetzung der "Kühne & Heitz-Rechtsprechung" liegt ebenfalls nicht vor. Die Klägerin hat ‑‑wie sie selbst einräumt‑‑
gegen die bestandskräftigen Umsatzsteuerfestsetzungen nicht die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe (vgl. EuGH-Urteil I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnrn. 53 f.) ausgeschöpft (vgl.
zu diesem Erfordernis BFH-Urteil in BFH/NV 2005, 229; Kanitz/Wendel, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2008, 231, 232; Ludwigs, DVBl 2008, 1164, 1170; Müller/Seer, Internationale Wirtschaftsbriefe
Fach 11, Gruppe 2, 865, 875; Rennert, DVBl 2007, 400, 408; Ruffert, Juristenzeitung 2007, 407, 409). Die Gegenauffassung von Meilicke (DStR 2007, 1892, 1893; ders., BB 2004, 1087 ff., und Schacht/Steffens, BB 2008, 1254, 1255),
nach der die Rechtslage hinsichtlich dieser Voraussetzung nicht abschließend geklärt sein soll, vermag nicht zu begründen, warum und in welcher Hinsicht nach den Ausführungen des EuGH im Urteil I-21 Germany
& Arcor in Slg. 2006, I-8559 noch Klärungsbedarf besteht.
52
Der EuGH hat auch nicht, wie die Klägerin behauptet, im Urteil Danske Slagterier in Slg. 2009, I-2119 von dieser Voraussetzung Abstand genommen, sondern dort lediglich im Bezug auf den
unionsrechtlichen Entschädigungs- und Staatshaftungsanspruch entschieden, es sei nicht in jedem Fall zwingend erforderlich, dass der Geschädigte zuvor im Wege des Primärrechtsschutzes gegen das zum Schaden führende
legislative oder judikative Unrecht vorgehe (vgl. auch EuGH-Urteil vom 26. Januar 2010 C-118/08, Transportes Urbanos y Servicios Generales, BFH/NV Beilage 2010, 578, unter Rdnr. 48). Für die im "Kühne &
Heitz-Urteil" definierten Korrekturvoraussetzungen bei rechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsakten folgt hieraus nichts.
53
6. Im Streitfall sind die von der Klägerin aufgeworfenen Vorlagefragen 6 und 7 zu den Voraussetzungen des unionsrechtlichen Entschädigungsanspruchs nicht entscheidungserheblich,
da sie im vorliegenden Verfahren nur die Änderung der bestandskräftigen Steuerfestsetzungen, nicht aber auch einen Erlass der Steuer begehrt.
54
a) Das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, stellt nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH eine Folge und
eine Ergänzung der Rechte dar, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH erwachsen. Es besteht ein Entschädigungs- oder Staatshaftungsanspruch, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß
gegen die Vorschriften des Unionsrechts Steuern erhoben hat, oder ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht erhobenen Steuer und der Beträge, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt
oder von diesem einbehalten worden sind. Voraussetzung ist, dass die verletzte Rechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen dem Verstoß gegen die
dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den Betroffenen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht (vgl. EuGH-Urteile vom 12. Dezember 2006 C-446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg.
2006, I-11753; vom 13. März 2007 C-524/04, Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107, unter Rdnrn. 110, 111; vom 23. April 2008 C-201/05, Test Claimants in the CFC and Dividend Group Litigation,
Slg. 2008, I-2875; in Transportes Urbanos y Servicios Generales in BFH/NV Beilage 2010, 578, unter Rdnrn. 29 ff.).
55
b) Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Entschädigungsanspruchs nur ein Erlass der Steuer gemäß §
227 AO in Betracht kommt (vgl. BFH-Entscheidungen vom 13. Januar 2005 V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460; in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433; in BFH/NV 2008, 1889; vom 5. Juni 2009 V B 52/08, BFH/NV 2009, 1593).
Mangels einer Unionsregelung über die Erstattung zu Unrecht erhobener inländischer Abgaben ist es Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, insoweit die Verfahrensmodalitäten zu regeln
(vgl. das EuGH-Urteil Test Claimants in the FII Group Litigation in Slg. 2006, I-11753, unter Rdnr. 203).
56
7. Der Senat folgt im Übrigen nicht der Anregung der Klägerin, gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. Die von der Klägerin aufgeworfenen
Fragen zu den Voraussetzungen, unter denen eine Korrektur bestandskräftiger Steuerbescheide auf Grundlage der "Kühne & Heitz-Rechtsprechung" des EuGH in Betracht kommt, sowie zu Beginn und Dauer der
Einspruchs- und Wiedereinsetzungsfrist bei nicht zutreffender Umsetzung einer Richtlinienbestimmung sind ‑‑wie dargelegt‑‑ nach Auffassung des Senats bereits geklärt (vgl. unter II.5.). Unter diesen
Umständen besteht für den Senat keine Vorlagepflicht (vgl. zu den Voraussetzungen EuGH-Urteile vom 6. Oktober 1982 Rs. 283/81, Cilfit u.a., Slg. 1982, 3415, unter Rdnr. 21; vom 6. Dezember 2005 C-461/03, Gaston Schul,
Slg. 2005, I-10513; vom 15. September 2005 C-495/03, Intermodal Transports, Slg. 2005, I-8151).
57
8. Es kommt schließlich keine Aussetzung des Verfahrens und Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) an das BVerfG in Betracht. Die unter II.5. dargelegten möglicherweise
unterschiedlichen Rechtsfolgen für die Aufheb- und Änderbarkeit von bestandskräftigen Steuerverwaltungsakten i.S. des § 118 AO und von Steuerbescheiden gemäß § 155 AO, wenn nachträglich
deren Unionsrechtswidrigkeit festgestellt wird, führen wegen des Dualismus der Korrektursysteme in §§ 130 ff. AO und §§ 172 ff. AO nicht zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung i.S. des Art.
3 Abs. 1 GG.
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201010317/
Urteil vom 16. September 2010, V R 46/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.9.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht -
Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben
hat - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO §172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118,
AO § 110, AO § 125 Abs 1vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 3432/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150052/
Urteil vom 16. September 2010, V R 48/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.9.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht -
Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben
hat - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118,
AO § 110, AO § 125 Abs 1
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2784/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150053/
Urteil vom 16. September 2010, V R 49/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.9.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht -
Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben
hat - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118,
AO § 110, AO § 125 Abs 1
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2659/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150054/
Urteil vom 16. September 2010, V R 51/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.09.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht
- Keine Rechtswirkung eines an einen nach Verschmelzung nicht mehr existierenden Rechtsvorgänger gerichteten Verwaltungsaktes - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen
unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO §
110, AO § 125 Abs 1, UmwG § 17 Abs 2
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2174/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150051/
Urteil vom 16. September 2010, V R 52/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.09.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht
- Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO § 110,
AO § 125 Abs 1
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2447/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150055/
Beschluss vom 26. November 2010, V B 59/10
Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkannter fehlerhafter Richtlinienumsetzung
BFH V. Senat
AO § 110, AO § 155, AO § 172, AO § 355, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, EG Art 10, FGO § 115 Abs 2 Nr 1
vorgehend FG Köln, 11. Mai 2010, Az: 9 K 2741/09
Leitsätze
1. NV: Es ist geklärt, dass das Unionsrecht bei nachträglich erkannter fehlerhafter Umsetzung einer Richtlinie keine günstigere Behandlung des Steuerpflichtigen im Hinblick auf den Lauf und
die Dauer der Einspruchsfrist (§§ 347 Abs. 1 Satz 1, 335 Abs. 1 Satz 1 AO) verlangt.
2. NV: Es ist geklärt, dass nach den Vorgaben des Unionsrechts ein bestandkräftiger Steuerbescheid bei einer erst nachträglich erkannten fehlerhaften Richtlinienumsetzung nicht unter günstigeren
Bedingungen als bei einer Verletzung innerstaatlichen Rechts änderbar sein muss. Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche abschließend.
Gründe
1
Die Beschwerde ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
2
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen. Die von den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) aufgeworfenen Rechtsfragen
zur Auslegung des Unionsrechts sind bereits geklärt.
3
a) Eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung kommt in Betracht, wenn Auslegungszweifel in Bezug auf das anzuwendende Unionsrecht vorhanden sind und im Revisionsverfahren voraussichtlich
eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union einzuholen wäre (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑
vom 9. November 2007 IV B 169/06, BFH/NV 2008, 390).
4
b) Die Kläger benennen in den Schriftsätzen zur Beschwerdebegründung vom 26. August 2010 und 27. September 2010 die folgenden ‑‑ihrer Ansicht nach auslegungsbedürftigen‑‑
Rechtsfragen.
5
aa) Sie halten das Unionsrecht hinsichtlich der Frage für auslegungsbedürftig, ob dem sog. Emmott-Urteil des EuGH vom 25. Juli 1991 C-208/90, Emmott (Slg. 1991, I-4269) der Rechtsgrundsatz zu entnehmen
sei, dass jemand seine durch das Unionsrecht eingeräumten Rechte nur geltend machen könne, wenn er in der Lage sei, sich von diesen in ausreichender Weise Kenntnis zu verschaffen und ob dies erfordere, dass die Einspruchsfrist
(§§ 347 Abs. 1 Satz 1, 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung ‑‑AO‑‑) bei einer fehlerhaften Umsetzung der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften
der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG durch den Gesetzgeber einer Anlaufhemmung unterliegen müsse, bis der Steuerpflichtige durch ein EuGH-Urteil Kenntnis vom Umsetzungsverstoß erlangen könne.
6
bb) Gestützt auf Ausführungen im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. September 2008 2 BvR 1321/07 (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2009, 60) halten die Kläger es außerdem
für unionsrechtlich klärungsbedürftig, ob es bei einer nachträglich erkannten fehlerhaften Richtlinienumsetzung ‑‑wie in der bisherigen Rechtsprechung des BFH angenommen (vgl. Entscheidungen
vom 23. November 2006 V R 67/05, BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; vom 29. Mai 2008 V R 45/06, BFH/NV 2008, 1889; vom 15. Juni 2009 I B 230/08, BFH/NV 2009, 1779)‑‑ unter Anwendung der sog. "Kühne und
Heitz-Rechtsprechung" des EuGH (Urteil vom 13. Januar 2004 C-453/00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837) mit dem Unionsrecht vereinbar sei, dass ein bestandskräftiger und der Festsetzungsverjährung unterliegender
Steuerbescheid nur geändert werden könne, wenn das deutsche Verfahrensrecht hierfür eine Korrekturvorschrift enthalte und ob ein unionsrechtlicher Änderungsanspruch stets verlange, dass der Steuerpflichtige
zuvor erfolglos den Rechtsweg gegen die bestandskräftig gewordene Steuerfestsetzung bis zum Ende beschritten habe.
7
cc) Der EuGH müsse schließlich darüber befinden, ob die Regelung in § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d AO, der eine Änderung rechtswidriger bestandskräftiger Steuerbescheide
nach § 130 AO ausschließe, den Vorgaben des unionsrechtlichen Effektivitätsprinzips zuwiderlaufe.
8
c) Die aufgeworfenen Auslegungsfragen sind jedoch geklärt. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat auf sein Urteil vom 16. September 2010 V R 57/09, BFHE 230, 504; (vgl. auch BFH-Entscheidungen
vom 9. Juni 2010 X B 41/10, BFH/NV 2010, 1783, und vom 8. Juli 2009 XI R 41/08, BFH/NV 2010, 1).
9
2. Eine Zulassung der Revision zur Vermeidung einer drohenden "nachträglichen Divergenz" (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 31. Oktober 2002 IV B 126/01, BFH/NV 2003, 291; Senatsbeschluss vom 26.
Juni 2009 V B 34/08, BFH/NV 2009, 2011) kommt nicht in Betracht. Der Senat hat die von den Klägern angeführten ‑‑bei Beschwerdeeinlegung noch anhängigen‑‑ Verfahren mittlerweile entschieden.
Damit stimmen die tragenden Rechtssätze des angefochtenen Urteils des Finanzgerichts überein.
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150010/
Urteil vom 01. Dezember 2010, XI R 39/09
Keine Durchbrechung der Bestandskraft eines Steuerbescheids bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht
BFH XI. Senat
UStG § 4 Nr 9 Buchst b, UStG § 4 Nr 9 Buchst b, UStG § 4 Nr 9 Buchst b, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 125 Abs 1, AO § 155, AO § 172, AO § 355 Abs 1 S 1, EG Art
10
vorgehend FG Münster, 16. September 2009, Az: 5 K 327/09 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150043/
Beschluss vom 03. Dezember 2010, V B 29/10
Korrektur bestandskräftiger Steuerbescheide bei nachträglich erkannter fehlerhafter Richtlinienumsetzung - Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung bei
voraussichtlichem Vorabentscheidungsersuchen - Rechtsfortbildungsrevision als Spezialtatbestand der Grundsatzrevision
BFH V. Senat
AO § 347 Abs 1 S 1, AO § 355 Abs 1 S 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AEUV Art 267, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 1, EG Art 10
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 03. März 2010, Az: 16 K 230/09
Leitsätze
1. NV: Es ist geklärt, dass das Unionsrecht bei nachträglich erkannter fehlerhafter Umsetzung einer Richtlinie keine günstigere Behandlung des Steuerpflichtigen im
Hinblick auf den Lauf und die Dauer der Einspruchsfrist (§§ 347 Abs. 1 Satz 1, 355 Abs. 1 Satz 1 AO) verlangt.
2. NV: Es ist geklärt, dass nach den Vorgaben des Unionsrechts ein bestandskräftiger Steuerbescheid bei einer erst nachträglich erkannten fehlerhaften Richtlinienumsetzung
nicht unter günstigeren Bedingungen als bei einer Verletzung innerstaatlichen Rechts änderbar sein muss. Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden
Ansprüche abschließend.
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150082/
Beschluss vom 28. Dezember 2010, XI B 33/10
Besteuerung der Umsätze aus Geldspielgeräten
BFH XI. Senat
FGO § 115 Abs 2 Nr 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, UStG § 4 Nr 9 Buchst b
vorgehend FG Köln, 25. Februar 2010, Az: 2 K 1226/07
Leitsätze
NV: Es ist unionsrechtlich grundsätzlich nicht erforderlich, eine auf der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG in nationales Recht beruhende
Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder nach Erschöpfung des Rechtswegs bestandkräftig geworden ist oder durch ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil bestätigt
wurde (Rechtsprechung) .
Gründe
1
Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) ist jedenfalls unbegründet. Die Revision ist nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) wegen
grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
2
a) Wird die Beschwerde ‑‑wie im Streitfall‑‑ mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache begründet, so muss in der Beschwerdebegründung eine bestimmte ‑‑abstrakte‑‑
klärungsbedürftige und in dem angestrebten Revisionsverfahren auch klärbare Rechtsfrage herausgestellt und ‑‑unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur‑‑ deren Bedeutung
für die Allgemeinheit substantiiert dargetan werden (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 116 Rz 26, 32, m.w.N.). Im allgemeinen besteht kein Klärungsbedarf mehr, wenn eine Rechtsfrage bereits
vom Bundesfinanzhof (BFH) geklärt worden ist (Beschlüsse vom 10. Januar 2003 XI B 80/00, BFH/NV 2003, 898, und vom 27. Mai 2005 III B 197/04, BFH/NV 2005, 1486). Nach § 116 Abs. 3 FGO müssen die Voraussetzungen
für die Zulassung der Revision dargelegt werden.
3
b) Es kann dahinstehen, ob die Beschwerdebegründung den Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung genügt. Die aufgeworfene Rechtsfrage ist jedenfalls durch das BFH-Urteil
vom 16. September 2010 V R 57/09, Deutsches Steuerrecht ‑‑DStR‑‑ 2010, 2400) geklärt.
4
aa) Danach beginnt die Einspruchsfrist ‑‑trotz der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften
der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG) in nationales Recht‑‑ mit Bekanntgabe des Steuerbescheids. Auch war insoweit keine Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist
gemäß § 110 der Abgabenordnung zu gewähren.
5
bb) Es ist ferner geklärt, dass es unionsrechtlich grundsätzlich nicht erforderlich ist, eine auf der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG in nationales
Recht beruhende Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder nach Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftig geworden ist oder durch ein rechtskräftiges gerichtliches
Urteil bestätigt wurde. Aus dem vom Kläger angeführten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. September 2008 2 BvR 1321/07 (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2009, 60) ergibt sich nichts anderes
(vgl. BFH-Urteil in DStR 2010, 2400, unter II.5.c dd).
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150105/
Dadurch sind die vielen Entscheidungen deutscher Gerichte nicht mehr haltbar
Urteil vom 16. September 2010, V R 46/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.9.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht -
Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben
hat - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO §172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118,
AO § 110, AO § 125 Abs 1
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 3432/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150052/
Urteil vom 16. September 2010, V R 48/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.9.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht -
Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben
hat - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118,
AO § 110, AO § 125 Abs 1
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2784/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150053/
Urteil vom 16. September 2010, V R 49/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.9.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht -
Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben
hat - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118,
AO § 110, AO § 125 Abs 1
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2659/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150054/
Urteil vom 16. September 2010, V R 51/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.09.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht
- Keine Rechtswirkung eines an einen nach Verschmelzung nicht mehr existierenden Rechtsvorgänger gerichteten Verwaltungsaktes - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen
unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO §
110, AO § 125 Abs 1, UmwG § 17 Abs 2
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2174/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150051/
Urteil vom 16. September 2010, V R 52/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.09.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht
- Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO § 110,
AO § 125 Abs 1
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2447/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150055/
Urteil vom 01. Dezember 2010, XI R 39/09
Keine Durchbrechung der Bestandskraft eines Steuerbescheids bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht
BFH XI. Senat
UStG § 4 Nr 9 Buchst b, UStG § 4 Nr 9 Buchst b, UStG § 4 Nr 9 Buchst b, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 125 Abs 1, AO § 155, AO § 172, AO § 355 Abs 1 S 1, EG Art
10
vorgehend FG Münster, 16. September 2009, Az: 5 K 327/09 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150043/
Beschluss vom 03. Dezember 2010, V B 29/10
Korrektur bestandskräftiger Steuerbescheide bei nachträglich erkannter fehlerhafter Richtlinienumsetzung - Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung bei
voraussichtlichem Vorabentscheidungsersuchen - Rechtsfortbildungsrevision als Spezialtatbestand der Grundsatzrevision
BFH V. Senat
AO § 347 Abs 1 S 1, AO § 355 Abs 1 S 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AEUV Art 267, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 1, EG Art 10
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 03. März 2010, Az: 16 K 230/09
Leitsätze
1. NV: Es ist geklärt, dass das Unionsrecht bei nachträglich erkannter fehlerhafter Umsetzung einer Richtlinie keine günstigere Behandlung des Steuerpflichtigen im
Hinblick auf den Lauf und die Dauer der Einspruchsfrist (§§ 347 Abs. 1 Satz 1, 355 Abs. 1 Satz 1 AO) verlangt.
2. NV: Es ist geklärt, dass nach den Vorgaben des Unionsrechts ein bestandskräftiger Steuerbescheid bei einer erst nachträglich erkannten fehlerhaften Richtlinienumsetzung
nicht unter günstigeren Bedingungen als bei einer Verletzung innerstaatlichen Rechts änderbar sein muss. Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden
Ansprüche abschließend.
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150082/
Beschluss vom 28. Dezember 2010, XI B 33/10
Besteuerung der Umsätze aus Geldspielgeräten
BFH XI. Senat
FGO § 115 Abs 2 Nr 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, UStG § 4 Nr 9 Buchst b
vorgehend FG Köln, 25. Februar 2010, Az: 2 K 1226/07
Leitsätze
NV: Es ist unionsrechtlich grundsätzlich nicht erforderlich, eine auf der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG in nationales Recht beruhende
Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder nach Erschöpfung des Rechtswegs bestandkräftig geworden ist oder durch ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil bestätigt
wurde (Rechtsprechung) .
Gründe
1
Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) ist jedenfalls unbegründet. Die Revision ist nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) wegen
grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
2
a) Wird die Beschwerde ‑‑wie im Streitfall‑‑ mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache begründet, so muss in der Beschwerdebegründung eine bestimmte ‑‑abstrakte‑‑
klärungsbedürftige und in dem angestrebten Revisionsverfahren auch klärbare Rechtsfrage herausgestellt und ‑‑unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur‑‑ deren Bedeutung
für die Allgemeinheit substantiiert dargetan werden (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 116 Rz 26, 32, m.w.N.). Im allgemeinen besteht kein Klärungsbedarf mehr, wenn eine Rechtsfrage bereits
vom Bundesfinanzhof (BFH) geklärt worden ist (Beschlüsse vom 10. Januar 2003 XI B 80/00, BFH/NV 2003, 898, und vom 27. Mai 2005 III B 197/04, BFH/NV 2005, 1486). Nach § 116 Abs. 3 FGO müssen die Voraussetzungen
für die Zulassung der Revision dargelegt werden.
3
b) Es kann dahinstehen, ob die Beschwerdebegründung den Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung genügt. Die aufgeworfene Rechtsfrage ist jedenfalls durch das BFH-Urteil
vom 16. September 2010 V R 57/09, Deutsches Steuerrecht ‑‑DStR‑‑ 2010, 2400) geklärt.
4
aa) Danach beginnt die Einspruchsfrist ‑‑trotz der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften
der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG) in nationales Recht‑‑ mit Bekanntgabe des Steuerbescheids. Auch war insoweit keine Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist
gemäß § 110 der Abgabenordnung zu gewähren.
5
bb) Es ist ferner geklärt, dass es unionsrechtlich grundsätzlich nicht erforderlich ist, eine auf der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG in nationales
Recht beruhende Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder nach Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftig geworden ist oder durch ein rechtskräftiges gerichtliches
Urteil bestätigt wurde. Aus dem vom Kläger angeführten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. September 2008 2 BvR 1321/07 (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2009, 60) ergibt sich nichts anderes
(vgl. BFH-Urteil in DStR 2010, 2400, unter II.5.c dd).
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150105/
Beschluss vom 11. März 2011, V B 45/10
Darlegungserfordernisse bei schwerwiegendem Rechtsfehler - Erlass bestandskräftig festgesetzter Steuern
BFH V. Senat
FGO § 115 Abs 2 Nr 2, FGO § 116 Abs 1, FGO § 116 Abs 3 S 3, AO § 162, AO § 227
vorgehend FG München, 08. Dezember 2009, Az: 3 K 1332/07
Leitsätze
1. NV: Die bloße Behauptung eines erheblichen Rechtsfehlers reicht nicht aus, um eine greifbare Gesetzeswidrigkeit oder eine Willkürlichkeit der angefochtenen Entscheidung
darzulegen.
2. NV: Bestandskräftig festgesetzte Steuern sind nur dann im Billigkeitsverfahren zu erlassen, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es dem
Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich hiergegen in dem dafür vorgesehenen Festsetzungsverfahren zu wehren.
3. NV: Für die Feststellung einer offensichtlich und eindeutig unrichtigen Steuerfestsetzung kommt es auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung an.
4. NV: Im Rahmen eines Billigkeitserlasses nach § 227 AO entspricht es bei unanfechtbar gewordenen Steuerbescheiden der Entscheidung des Gesetzgebers, dass der Grundsatz der
Rechtssicherheit grundsätzlich den Vorrang haben soll vor dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall.
Gründe
1
Die Beschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist unzulässig und durch Beschluss zu verwerfen (§ 116 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
2
Nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO ist die Beschwerde zuzulassen, wenn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfordert. Die Nichtzulassung kann
mit der Beschwerde angefochten werden (§ 116 Abs. 1 FGO). In der Beschwerdebegründung müssen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO "dargelegt" werden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Dies setzt
voraus, dass der Beschwerdeführer das Vorliegen eines der Zulassungsgründe substantiiert und schlüssig vorträgt.
3
1. Die Revision ist nicht wegen eines schwerwiegenden Rechtsfehlers zuzulassen.
4
a) Eine Entscheidung des BFH ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich, wenn ein Rechtsfehler des Finanzgerichts (FG) zu einer "greifbar gesetzeswidrigen" Entscheidung geführt
hat. Voraussetzung hierfür ist, dass die Entscheidung des FG derart fehlerhaft ist, dass das Vertrauen in die Rechtsprechung nur durch eine höchstrichterliche Korrektur der finanzgerichtlichen Entscheidung wiederhergestellt
werden könnte (vgl. BFH-Beschluss vom 29. Mai 2008 V B 160/07, BFH/NV 2008, 1544, m.w.N.). Davon ist nach ständiger Rechtsprechung insbesondere dann auszugehen, wenn das FG eine offensichtlich einschlägige entscheidungserhebliche
Vorschrift übersehen hat oder wenn das Urteil jeglicher gesetzlichen Grundlage entbehrt oder auf einer offensichtlich Wortlaut und Gesetzeszweck widersprechenden Gesetzesauslegung beruht (vgl. BFH-Beschlüsse vom
8. Februar 2006 III B 128/04, BFH/NV 2006, 1116; vom 7. Juli 2005 IX B 13/05, BFH/NV 2005, 2031; vom 28. Juli 2003 V B 72/02, BFH/NV 2003, 1597). Unterhalb dieser Grenze liegende erhebliche Rechtsfehler reichen indes nicht
aus, um eine greifbare Gesetzwidrigkeit oder eine Willkürlichkeit der angefochtenen Entscheidung anzunehmen (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2005, 2031).
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b) Das Vorliegen eines derart schwerwiegenden (qualifizierten) Rechtsfehlers haben die Kläger nicht hinreichend dargelegt.
6
aa) Das FG ist in seiner Entscheidung von der ständigen Rechtsprechung des BFH ausgegangen, wonach bestandskräftig festgesetzte Steuern nur dann im Billigkeitsverfahren zu erlassen sind, wenn die
Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich hiergegen in dem dafür vorgesehenen Festsetzungsverfahren zu wehren (vgl. zuletzt BFH-Beschluss vom 4.
November 2009 VI B 60/08, BFH/NV 2010, 468, sowie BFH-Urteil vom 29. Mai 2008 V R 45/06, BFH/NV 2008, 1889).
7
Ausgehend von dieser Rechtsprechung ist das FG zu dem rechtlich vertretbaren Ergebnis gelangt, dass diese Voraussetzungen nicht vorliegen, da die Steuerfestsetzungen weder offensichtlich und eindeutig falsch
waren noch ersichtlich sei, dass es den Klägern unmöglich oder unzumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit der Steuerfestsetzungen rechtzeitig zu wehren. Soweit die Kläger dagegen vorbringen, die Rechtsbehelfsfristen
seien nicht "schuldhaft" versäumt worden, wenden sie sich im Stile einer Revisionsbegründung lediglich gegen die vom FG vertretene Rechtsauffassung. Mit diesem Vorbringen können sie jedoch im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
nicht gehört werden.
8
bb) Ein qualifizierter Rechtsanwendungsfehler wird auch nicht mit der Behauptung eines Verstoßes gegen Schätzgrundsätze und dem Vorliegen einer Strafschätzung dargelegt.
9
Da Streitgegenstand des FG-Urteils nicht eine im Schätzungswege ergangene Steuerfestsetzung nach § 162 der Abgabenordnung (AO), sondern ein Billigkeitserlass bei bestandskräftiger Steuerfestsetzung
nach § 227 AO ist, kam es u.a. darauf an, ob die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist. Dies hat das FG in vertretbarer Weise verneint, weil die Steuerfestsetzungen auf einer im Wesentlichen korrekten
Schätzung durch die Umsatzsteuer-Sonderprüfung anhand eines "inneren Betriebsvergleichs" beruhten. Dabei hat das FG die höchstrichterliche Rechtsprechung beachtet, wonach es für die Feststellung
einer offensichtlich und eindeutig unrichtigen Steuerfestsetzung auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung und nicht auf einen späteren Zeitpunkt ankommt (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2008, 1889). Ob die Steuerfestsetzung
allein nach den mehrere Jahre später eingereichten Steuererklärungen als "Strafschätzung" erscheinen könnte, war daher schon nicht entscheidungserheblich.
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cc) Ein schwerwiegender Rechtsanwendungsfehler des FG ergibt sich auch nicht aus dem behaupteten Verstoß gegen ein bei Schätzungen zu beachtendes höchstrichterliches "Vernünftigkeits-
und Verhältnismäßigkeitsgebot", wonach Fristenstrenge und überspannter Verschuldensbegriff nicht über der Rechtsrichtigkeit im Einzelfall stehen dürften. Im Rahmen eines Billigkeitserlasses
nach § 227 AO entspricht es vielmehr der Entscheidung des Gesetzgebers, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit grundsätzlich den Vorrang haben soll vor dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall,
wenn ein Steuerbescheid unanfechtbar geworden ist. Diese Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers ist bei der Auslegung des § 227 AO zu berücksichtigen (BFH-Urteil vom 13. Januar 2005 V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl
II 2005, 460, unter II.2.b cc).
11
2. Die Revision kann auch nicht wegen der von den Klägern geltend gemachten Divergenz zugelassen werden.
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a) Rügt der Beschwerdeführer eine Abweichung des angefochtenen FG-Urteils von Entscheidungen des BFH, so muss er tragende und abstrakte Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des FG einerseits
und aus den behaupteten Divergenzentscheidungen des BFH andererseits herausarbeiten und einander gegenüberstellen, um so eine Abweichung zu verdeutlichen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 30. Mai 2005 X B 149/04, BFH/NV 2005,
1618; vom 12. Juli 2002 XI B 152/01, BFH/NV 2002, 1484).
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b) Soweit die Kläger zur Begründung einer Divergenz vortragen, das FG stütze seine Entscheidung auf den Rechtssatz, "dass es grundsätzlich im Wesen einer Schätzung nach §
162 Abs. 1 AO liege, dass die durch eine Schätzung ermittelten Größen von den tatsächlichen Verhältnissen mehr oder weniger abweichen", handelt es sich um keine tragende (divergenzbegründende)
Urteilserwägung, sondern um ein obiter dictum (vgl. BFH-Beschluss vom 24. Juli 1997 VII B 140/97, BFH/NV 1998, 60). Ausweislich der Urteilsgründe auf Seite 9 unter b) hat das FG die Ablehnung eines Erlasses der streitigen
Steuern aus sachlichen Billigkeitsgründen deshalb als ermessensfehlerfrei erachtet, weil die Umsatzsteuer- und Einkommensteuerbescheide 2001 weder offenkundig unrichtig noch die Kläger verhindert gewesen seien, gegen
diese Bescheide mit dem Einspruch vorzugehen oder rechtzeitig den in ihren Steuererklärungen behaupteten tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Steuererklärungen abzugeben.
14
c) Darüber hinaus haben die Kläger auch nicht dargelegt, dass der dem Urteil des FG entnommene Rechtssatz im Widerspruch zu dem Rechtssatz aus dem BFH-Urteil vom 29. Mai 2008 VI R 11/07 (BFHE 221,
182, BStBl II 2008, 933) und dem Urteil des FG München vom 26. März 2009 14 K 4667/06 steht, wonach die durch eine Schätzung gewonnenen Ergebnisse schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig
sein müssten. Es liegt vielmehr auf der Hand, dass auch eine diese Grundsätze beachtende Schätzung bei Fehlen überprüfbarer Angaben mehr oder weniger von den tatsächlichen Verhältnissen abweichen
kann.
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150259/
Obenstehende BFH Entscheidungen widersprechen dem Gemeinschaftsrecht!
Der EuGH hat mit dem o.a. Urteil Cabinet de avocat UR unter der Rz. 32 entschieden: