Freitag, 17. Juli 2020

EuGH vom 11.06.2020 "Vodafone Portugal" (C‑43/19) zum Leistungsaustausch


s.u.a. Rnn. 31, 32, 33, 44

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)
11. Juni 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 2 Abs. 1 Buchst. c – Geltungsbereich – Steuerbare Umsätze – Entgeltlich erbrachte Dienstleistung – Zahlung einer Entschädigung im Fall der Nichteinhaltung der vertraglichen Mindestbindungsfrist durch die Kunden – Einstufung“

In der Rechtssache C‑43/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Arbitral Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa) (Schiedsgericht für Steuerangelegenheiten [Zentralstelle für Verwaltungsschiedsgerichtsbarkeit], Portugal) mit Entscheidung vom 2. Januar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Januar 2019, in dem Verfahren

Vodafone Portugal – Comunicações Pessoais SA

gegen

Autoridade Tributária e Aduaneira

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin, des Richters D. Šváby und der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin),
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Januar 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–        der Vodafone Portugal – Comunicações Pessoais SA, vertreten durch S. Fernandes de Almeida, J. Lobato Heitor und A. Costa, advogados,
–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, T. Larsen, R. Campos Laires und P. Barros da Costa als Bevollmächtigte,
–        der irischen Regierung, vertreten durch J. Quaney und M. Browne als Bevollmächtigte im Beistand von N. Travers, SC,
–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Z. Lavery als Bevollmächtigte im Beistand von E. Mitrophanous, Barrister,
–        der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch L. Lozano Palacios und A. Caeiros, dann durch L. Lozano Palacios und I. Melo Sampaio als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c und der Art. 9, 24, 72 und 73 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Vodafone Portugal – Comunicações Pessoais SA (im Folgenden: Vodafone) und der Autoridade Tributária e Aduaneira (Steuer- und Zollbehörde, Portugal) über die Mehrwertsteuer-Selbstveranlagung für November 2016.

 Rechtlicher Rahmen
 Unionsrecht

3        Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor, dass „Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt“, der Mehrwertsteuer unterliegen.

4        Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

5        Art. 24 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Als ‚Dienstleistung‘ gilt jeder Umsatz, der keine Lieferung von Gegenständen ist.

(2)      Als ‚Telekommunikationsdienstleistung‘ gelten Dienstleistungen zum Zweck der Übertragung, Ausstrahlung oder des Empfangs von Signalen, Schrift, Bild und Ton oder Informationen jeglicher Art über Draht, Funk, optische oder andere elektromagnetische Medien, einschließlich der damit im Zusammenhang stehenden Abtretung oder Einräumung von Nutzungsrechten an Einrichtungen zur Übertragung, Ausstrahlung oder zum Empfang, einschließlich der Bereitstellung des Zugangs zu globalen Informationsnetzen.“

6        In Art. 64 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:

„Geben Lieferungen von Gegenständen … und Dienstleistungen zu aufeinander folgenden Abrechnungen oder Zahlungen Anlass, gelten sie jeweils als mit Ablauf des Zeitraums bewirkt, auf den sich diese Abrechnungen oder Zahlungen beziehen.“

7        Art. 72 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt als ‚Normalwert‘ der gesamte Betrag, den ein Empfänger einer Lieferung oder ein Dienstleistungsempfänger auf derselben Absatzstufe, auf der die Lieferung der Gegenstände oder die Dienstleistung erfolgt, an einen selbständigen Lieferer oder Dienstleistungserbringer in dem Mitgliedstaat, in dem der Umsatz steuerpflichtig ist, zahlen müsste, um die betreffenden Gegenstände oder Dienstleistungen zu diesem Zeitpunkt unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs zu erhalten.

Kann keine vergleichbare Lieferung von Gegenständen oder Erbringung von Dienstleistungen ermittelt werden, ist der Normalwert wie folgt zu bestimmen:

(1)      bei Gegenständen, ein Betrag nicht unter dem Einkaufspreis der Gegenstände oder gleichartiger Gegenstände oder mangels eines Einkaufspreises nicht unter dem Selbstkostenpreis, und zwar jeweils zu den Preisen, die zum Zeitpunkt der Bewirkung dieser Umsätze festgestellt werden;

(2)      bei Dienstleistungen, ein Betrag nicht unter dem Betrag der Ausgaben des Steuerpflichtigen für die Erbringung der Dienstleistung.“

8        Art. 73 dieser Richtlinie bestimmt:

„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“

 Portugiesisches Recht
 Mehrwertsteuergesetzbuch

9        Nach Art. 1 Abs. 1 Buchst. a des Código do Imposto sobre o Valor Acrescentado (Mehrwertsteuergesetzbuch) unterliegen die Lieferung von Gegenständen und die Erbringung von Dienstleistungen, die von einem Steuerpflichtigen in seiner Eigenschaft als solcher im Inland gegen Entgelt durchgeführt werden, der Mehrwertsteuer.

10      Art. 4 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzbuchs sieht vor, dass entgeltliche Umsätze, die keine Lieferungen, innergemeinschaftliche Erwerbe oder Einfuhren von Gegenständen darstellen, als Dienstleistungen angesehen werden.

11      Art. 16 Abs. 6 Buchst. a des Mehrwertsteuergesetzbuchs bestimmt:

„In die Steuerbemessungsgrundlage im Sinne von Abs. 5 sind folgende Elemente nicht einzubeziehen:

a)      die Zinsen bei zeitversetzter Zahlung der Gegenleistung und die wegen ganzer oder teilweiser Nichterfüllung von Verpflichtungen gerichtlich festgestellten erhaltenen Schadensersatzbeträge“.

 Das Gesetz über elektronische Kommunikation

12      Art. 47 Abs. 1 und 2 Buchst. c der Lei n.° 5/2004 das Comunicações Eletrónicas (Gesetz Nr. 5/2004 über die elektronische Kommunikation) vom 10. Februar 2004 (Diário da República I, Reihe I‑A, Nr. 34, vom 10. Februar 2004) in der Fassung der Lei n.° 15/2016 (Gesetz Nr. 15/2016) vom 17. Juni 2016 (Diário da República, Reihe I, Nr. 115, vom 17. Juni 2016) bestimmt:

„(1)      Unternehmen, die öffentliche Kommunikationsnetze oder öffentlich zugängliche elektronische Kommunikationsdienste anbieten, sind verpflichtet, der Öffentlichkeit und demjenigen, der die Absicht bekundet, einen Vertrag über die Erbringung der von ihnen bereitgestellten Dienstleistungen zu schließen, angemessene, transparente, vergleichbare und aktuelle Informationen über die Bedingungen für den Zugang und die Nutzung der Dienste, die sie für Endnutzer und Verbraucher bereitstellen, zur Verfügung zu stellen, wobei ihre Preise und sonstigen Kosten sowie gegebenenfalls diejenigen in Bezug auf die Kündigung der Verträge im Einzelnen anzugeben sind.

(2)      Für die Anwendung des vorstehenden Absatzes müssen diese Unternehmen … die folgenden Informationen veröffentlichen, die auch jedem, der mit ihnen einen Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen abschließen will, im Voraus mitgeteilt werden müssen:

c)      die normalen Preise, wobei die für die einzelnen Dienstleistungen geschuldeten Beträge sowie der Inhalt jedes Preisbestandteils anzugeben ist, insbesondere für

i)      die Kosten im Zusammenhang mit der Aktivierung des Dienstes, dem Zugang, der Nutzung und der Handhabung;
ii)      ausführliche Informationen über die normalen Ermäßigungen und spezielle oder spezifische Tarifsysteme sowie etwaige zusätzliche Kosten;
iii)      die Kosten im Zusammenhang mit Endgeräten, die gemietet werden oder in das Eigentum des Kunden übergehen;
iv)      die Kosten, die sich aus der Beendigung des Vertrags ergeben, einschließlich der Rückgabe von Geräten, oder Strafen bei vorzeitiger Beendigung auf Veranlassung der Teilnehmer“.

13      Art. 48 des Gesetzes über elektronische Kommunikation sieht vor:

„(1)      Unbeschadet der zum Schutz der Verbraucher anwendbaren Rechtsvorschriften ist die Bereitstellung öffentlicher Kommunikationsnetze oder öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste in einem Vertrag zu regeln, der in klarer, verständlicher und leicht zugänglicher Form folgende Elemente enthalten muss:

g)      Vertragslaufzeit, Bedingungen für eine Verlängerung, Aussetzung und Beendigung der Dienste und des Vertragsverhältnisses;

(2)      Die Informationen über die Vertragslaufzeit, einschließlich der Bedingungen für eine Verlängerung und Beendigung, müssen klar, verständlich und auf einem dauerhaften Datenträger zur Verfügung gestellt werden sowie folgende Angaben enthalten:

a)      eine eventuelle Mindestbindungsfrist, deren Vorliegen von der Gewährung von benannten und quantifizierten Vorteilen für den Verbraucher abhängt, die mit der Subventionierung von Endgeräten, der Installierung und Aktivierung des Dienstes oder anderen Vorzugskonditionen zusammenhängen;
b)      eventuelle Entgelte für die Übertragbarkeit von Nummern und anderen Teilnehmerkennungen;
c)      eventuelle Entgelte für die vorzeitige Beendigung des Vertrags während der Mindestbindungsfrist auf Veranlassung des Teilnehmers, insbesondere zur Wiedererlangung der Kosten, die mit der Subventionierung von Endgeräten, der Installierung und Aktivierung der Dienste oder anderen Vorzugskonditionen zusammenhängen.

(4)      Unternehmen, die elektronische Kommunikationsnetze und/oder ‑dienste anbieten, dürfen der Kündigung von Verträgen auf Veranlassung der Teilnehmer nicht mit der Begründung widersprechen, dass es eine Mindestbindungsfrist gebe, noch dürfen sie eine Zahlung für die Nichteinhaltung einer Mindestbindungsfrist verlangen, wenn ihnen kein Nachweis über die im vorstehenden Absatz genannte Willensäußerung des Verbrauchers vorliegt.

(11)      Während der Mindestbindungsfrist dürfen die Beträge, die dem Teilnehmer in Rechnung gestellt werden, wenn er den Vertrag kündigt, nicht die Kosten übersteigen, die der Lieferant für die Inbetriebnahme hatte, wobei die Einziehung jeglicher Gegenleistung als Schadensersatz oder Kompensation verboten ist.

(12)      Die für die vorzeitige Beendigung eines Vertrags mit Mindestbindungsfrist auf Veranlassung des Teilnehmers in Rechnung gestellten Beträge müssen im Verhältnis zu dem ihm verschafften Vorteil stehen, der im Vertrag benannt und quantifiziert wurde, und dürfen folglich nicht automatisch der Summe des Werts der zum Zeitpunkt der Beendigung noch fälligen Leistungen entsprechen.

(13)      Für die Zwecke des vorstehenden Absatzes sind die in Rechnung gestellten Beträge im Fall der Subventionierung von Endgeräten gemäß den anwendbaren Rechtsvorschriften zu berechnen und dürfen in den übrigen Fällen nicht höher als der Wert des verschafften Vorteils sein, den das dienstleistende Unternehmen im Verhältnis zur festgelegten Vertragsdauer zum Zeitpunkt, zu dem die vorzeitige Beendigung wirksam wird, noch wiederzuerlangen hat.“

14      In Art. 52-A („Aussetzung und Erlöschen der Dienstleistung für Teilnehmer, die Verbraucher sind“) des Gesetzes über elektronische Kommunikation heißt es:

„(1)      Wenn es sich um Dienstleistungen für Teilnehmer handelt, die Verbraucher sind, müssen die Unternehmen, die öffentliche Kommunikationsnetze oder öffentlich zugängliche elektronische Kommunikationsdienste anbieten, dem Verbraucher bei Nichtzahlung der in der Rechnung angegebenen Beträge ein Mahnschreiben schicken, in dem ihm eine zusätzliche Zahlungsfrist von 30 Tagen eingeräumt und die Aussetzung der Dienstleistung und gegebenenfalls die automatische Auflösung des Vertrags nach den Abs. 3 bzw. 7 angedroht wird.

(3)      Die Unternehmen, die öffentliche Kommunikationsnetze oder öffentlich zugängliche elektronische Kommunikationsdienste anbieten, müssen zwingend innerhalb von 10 Tagen nach Ablauf der in Abs. 1 vorgesehenen zusätzlichen Frist die Dienstleistung für einen Zeitraum von 30 Tagen aussetzen, wenn der Verbraucher bei Ablauf der zusätzlichen Frist die Zahlung nicht vorgenommen oder mit dem Unternehmen keine schriftliche Zahlungsvereinbarung im Hinblick auf die Entrichtung der ausstehenden Beträge vereinbart hat.

(7)      Wenn der Verbraucher nach Ablauf der 30‑tägigen Aussetzungsfrist nicht den gesamten ausstehenden Betrag gezahlt oder keine schriftliche Zahlungsvereinbarung abgeschlossen hat, gilt der Vertrag als automatisch gekündigt.

(8)      Die in Abs. 7 vorgesehene Kündigung berührt nicht die Geltendmachung eines Betrags als Schadensersatz oder Ausgleich für die Kündigung des Vertrags während der Mindestbindungsfrist nach und innerhalb der Grenzen der Bestimmungen der Decreto Lei [(Gesetzesdekret)] Nr. 56/2010 vom 1. Juni 2010 (Diário da República, Reihe I, Nr. 106 vom 1. Juni 2010).

(9)      Die Nichtzahlung jeglicher in der Zahlungsvereinbarung enthaltenen Leistung führt zwingend zur Kündigung des Vertrags durch schriftliche Kündigungserklärung an den Verbraucher innerhalb der in Art. 52 Abs. 5 vorgesehenen Frist, wobei dann der vorstehende Absatz anzuwenden ist.

(10)      Die Nichteinhaltung der Bestimmungen in diesem Artikel durch das Unternehmen, das öffentliche Kommunikationsnetze oder öffentlich zugängliche elektronische Kommunikationsdienste anbietet, namentlich die Fortführung der Dienstleistung entgegen Abs. 3 oder die Ausstellung von Rechnungen nach dem Zeitpunkt, zu dem die Dienstleistung ausgesetzt werden muss, führt dazu, dass die für die Dienstleistung geschuldeten Beträge vom Verbraucher nicht verlangt werden können, und zur Haftung [des Unternehmens] für die Zahlung der für die Einziehung der Forderung geschuldeten Verfahrenskosten.

(11)      Abs. 10 ist auf die Ausstellung von Rechnungen nach der Aussetzung der Dienstleistung, die die vor der Aussetzung tatsächlich geleisteten Dienste oder die bei einer vorzeitigen Kündigung des Vertrags gesetzlich vorgesehenen Gegenleistungen berücksichtigen, nicht anwendbar.
…“
 Das Gesetzesdekret Nr. 56/2010

15      Art. 1 des Gesetzesdekrets Nr. 56/2010 lautet:

„Dieses Gesetzesdekret legt Grenzen für die Erhebung von Gebühren für die Erbringung der Dienstleistung der Freischaltung von Geräten für den Zugang zu elektronischen Kommunikationsdiensten und für die Kündigung des Vertrags während der Mindestbindungsfrist fest, wodurch die Rechte der Nutzer auf elektronische Kommunikation gewährleistet und ein stärkerer Wettbewerb in diesem Sektor gefördert werden.“

16      Art. 2 Abs. 2 und 3 dieses Gesetzesdekrets bestimmt:

„(2)      Während der Mindestbindungsfrist ist es verboten, für die Kündigung des Vertrags und die Freischaltung von Geräten eine Gegenleistung zu erhalten, die höher ist als

a)      100 % des Wertes der Geräte zum Zeitpunkt des Erwerbs oder der Verschaffung des Besitzes daran ohne Ermäßigung, Abschläge oder Zuschüsse während der ersten sechs Monate dieser Frist, nach Abzug des vom Teilnehmer bereits gezahlten Betrags und einer etwaigen Forderung des Verbrauchers gegenüber dem Mobilfunkbetreiber;
b)      80 % des Wertes der Geräte zum Zeitpunkt des Erwerbs oder der Verschaffung des Besitzes daran ohne Ermäßigung, Abschläge oder Zuschüsse nach den ersten sechs Monaten dieser Frist, nach Abzug des vom Teilnehmer bereits gezahlten Betrags und einer etwaigen Forderung des Verbrauchers gegenüber dem Mobilfunkbetreiber;
c)      50 % des Wertes der Geräte zum Zeitpunkt des Erwerbs oder der Verschaffung des Besitzes daran ohne Ermäßigung, Abschläge oder Zuschüsse während des letzten Jahres der Mindestbindungsfrist, nach Abzug des vom Teilnehmer bereits gezahlten Betrags und einer etwaigen Forderung des Verbrauchers gegenüber dem Mobilfunkbetreiber.

(3)      Es ist verboten, als Entschädigung oder Ausgleich für die Kündigung des Vertrags während der Mindestbindungsfrist eine höhere als die im vorstehenden Absatz genannte Gegenleistung zu erhalten.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17      Vodafone, eine Gesellschaft mit Sitz in Lissabon (Portugal), hat ihren Gesellschaftszweck in der Erbringung von Diensten im Bereich der elektronischen Kommunikation, der Festnetztelefonie und des drahtlosen Internetzugangs.

18      Im Rahmen ihrer Tätigkeit schließt Vodafone mit ihren Kunden Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen ab, von denen einige spezielle Werbeklauseln enthalten, die Bedingungen hinsichtlich der Bindung dieser Kunden während eines im Voraus festgelegten Mindestzeitraums (im Folgenden: Mindestbindungsfrist) unterliegen. Nach diesen Klauseln verpflichten sich die Kunden, ein Vertragsverhältnis mit Vodafone aufrechtzuerhalten und die von ihr bereitgestellten Waren und Dienstleistungen während dieser Frist als Gegenleistung für vorteilhafte Konditionen, insbesondere in Bezug auf den für die vereinbarten Dienstleistungen zu zahlenden Preis, zu nutzen.

19      Die Mindestbindungsfrist kann je nach diesen Dienstleistungen unterschiedlich sein. Sie soll es Vodafone ermöglichen, einen Teil der Investitionen in Geräte und Infrastruktur sowie andere Kosten, wie die Aktivierung des Dienstes und die den Kunden gewährten Vorzugskonditionen wiederzuerlangen. Die Nichteinhaltung der Mindestbindungsfrist durch die Kunden aus Gründen, die diesen Kunden zuzuschreiben sind, führt zur Zahlung der in den Verträgen vorgesehenen Beträge durch die Kunden. Diese Beträge sollen der Nichteinhaltung der Mindestbindungsfrist durch die Kunden entgegenwirken.

20      Nach der durch das Gesetz Nr. 15/2016 erfolgten Änderung bestimmte Vodafone im August 2016 den im Fall der Nichteinhaltung der Mindestbindungsfrist von den Kunden zu zahlenden Betrag gemäß Art. 48 des Gesetzes über elektronische Kommunikation auf der Grundlage der Berechnung der den Kunden vertragsgemäß gewährten Vorteile, für die Vodafone zum Zeitpunkt der Vertragskündigung noch nicht entschädigt worden war. Nach nationalem Recht wird nämlich der bei Nichteinhaltung der Mindestbindungsfrist zu zahlende Betrag im Verhältnis zum Anteil der abgelaufenen Mindestbindungsfrist auf der Grundlage der den Kunden nach dem Vertrag gewährten und darin benannten und quantifizierten Vorteile berechnet. Dieser Betrag darf nicht höher sein als die Kosten, die Vodafone bei der Inbetriebnahme entstanden sind.

21      Vodafone nahm für November 2016 eine Mehrwertsteuer-Selbstveranlagung auf der Grundlage der für die Nichteinhaltung der Mindestbindungsfrist erhaltenen Beträge vor (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehende Beträge). Am 13. Oktober 2017 erhob sie dann einen Einspruch gegen den genannten Mehrwertsteuer-Selbstveranlagungsbescheid, da sie der Ansicht war, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beträge nicht der Mehrwertsteuer unterlägen.

22      Nachdem dieser Einspruch von der Steuer- und Zollbehörde mit Entscheidung vom 8. Januar 2018 zurückgewiesen worden war, wandte sich Vodafone an das vorlegende Gericht, das Tribunal Arbitral Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa) (Schiedsgericht für Steuerangelegenheiten [Zentralstelle für Verwaltungsschiedsgerichtsbarkeit], Portugal), und beantragte die Feststellung, dass die Mehrwertsteuer-Selbstveranlagung in Bezug auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beträge für November 2016 rechtswidrig sei.

23      Das Verfahren vor diesem Gericht wurde bis zum Abschluss des Verfahrens, das zu dem Urteil vom 22. November 2018, MEO – Serviços de Comunicações e Multimedia, (C‑295/17, EU:C:2018:942), führte, ausgesetzt und am 28. November 2018 fortgesetzt.

24      Das Tribunal Arbitragem Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa) (Schiedsgericht für Steuerangelegenheiten [Zentralstelle für Verwaltungsschiedsgerichtsbarkeit] weist zunächst darauf hin, dass die vorzeitige Beendigung von Verträgen einen wirtschaftlichen Schaden für Vodafone darstelle, was offensichtlich sei, wenn eine solche Beendigung zu Beginn der Vertragserfüllung erfolge und der Betreiber dem Kunden Vorzugskonditionen gewährt habe. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist vom Vorliegen eines Schadens für diesen Betreiber auszugehen. Außerdem ergebe sich aus Art. 48 Abs. 2 Buchst. c und Art. 52‑A Abs. 8 des Gesetzes über elektronische Kommunikation, dass die Kündigung des Vertrags während der Mindestbindungsfrist eine Gegenleistung als Ausgleich rechtfertige, um die „Kosten, die mit der Subventionierung von Endgeräten, der Installierung und Aktivierung der Dienste oder anderen Vorzugskonditionen zusammenhängen“, wiederzuerlangen. Das vorlegende Gericht geht daher davon aus, dass Vodafone diese Kosten trage und die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beträge deren Deckung bezweckten.

25      Weiter hält es das vorlegende Gericht für erwiesen, dass die Mindestbindungsfrist als Voraussetzung für den Zugang des Kunden zu vorteilhaften Konditionen unerlässlich dafür sei, dass Vodafone einen Teil ihrer mit der Gesamtinfrastruktur (Netze, Geräte und Anlagen), der Kundengewinnung (Handels- und Marketingkampagnen und Zahlung von Provisionen an Partnereinrichtungen), der Aktivierung des abonnierten Dienstes, der in Form von Ermäßigungen oder kostenlosen Dienstleistungen gewährten Vorteile oder der für die Installation und den Erwerb von Geräten erforderlichen Kosten zusammenhängenden Investition wiedererlangen könne.

26      Schließlich weist das vorlegende Gericht in Bezug auf die Notwendigkeit, in Anbetracht des Urteils vom 22. November 2018, MEO – Serviços de Comunicações e Multimédia (C‑295/17, EU:C:2018:942), ein Vorabentscheidungsersuchen zu stellen, darauf hin, dass zum einen die im Ausgangsverfahren und in der Rechtssache, die zu diesem Urteil führte, in Rede stehenden Beträge unterschiedlich berechnet würden.

27      Zum anderen scheine der Gerichtshof im Urteil vom 22. November 2018, MEO – Serviços de Comunicações e Multimedia (C‑295/17, EU:C:2018:942), der Tatsache Bedeutung beigemessen zu haben, dass in diesem Fall eine Übereinstimmung bestanden habe zwischen dem Betrag, der für die Nichteinhaltung der Mindestbindungsfrist gezahlt worden sei, und dem Betrag, den der betreffende Betreiber ohne die Kündigung des Vertrags während des verbleibenden Zeitraums erhalten hätte. Das vorlegende Gericht hielt es daher für erforderlich, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen, um zu klären, ob der Umstand, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beträge nicht mit den Beträgen übereinstimmten, die während der verbleibenden Dauer der Mindestbindungsfrist ohne Vertragskündigung gezahlt worden wären, für die Beurteilung der Frage relevant sei, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beträge die Vergütung für eine entgeltliche, mehrwertsteuerpflichtige Dienstleistung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellten.

28      Unter diesen Umständen hat das Tribunal Arbitral Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa) (Schiedsgericht für Steuerangelegenheiten [Zentralstelle für Verwaltungsschiedsgerichtsbarkeit]) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 2 Abs. 1 Buchst. c, sowie die Art. 9, 24, 72 und 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass eine mehrwertsteuerpflichtige Dienstleistung vorliegt, wenn ein Anbieter von elektronischer Kommunikation von seinen früheren Kunden (denen er Vorzugskonditionen in Form der kostenlosen Installierung und Aktivierung der Dienste, der Übertragbarkeit, Geräten oder Sonderkonditionen bei den Tarifen eingeräumt hatte, wobei die Gegenleistung die Einhaltung einer Mindestbindungsfrist darstellt, die von den Kunden aus ihnen zurechenbaren Gründen nicht eingehalten wurde) einen Betrag verlangt, der aufgrund gesetzlicher Vorgaben nicht die Kosten überschreiten darf, die der Lieferant für die Inbetriebnahme hatte, und proportional zu dem dem Kunden verschafften und als solcher im geschlossenen Vertrag benannten und quantifizierten Vorteil sein muss und folglich nicht automatisch der Summe des Werts der zum Zeitpunkt der Beendigung noch fälligen Leistungen entsprechen darf?
2.      Steht angesichts der genannten Rechtsvorschriften der Qualifizierung des genannten Betrags als Gegenleistung für Dienstleistungen die Tatsache entgegen, dass sie erst nach der Beendigung der Verträge gefordert wird, wenn der Anbieter ihnen keine Dienste mehr leistet, und es nach der Kündigung der Verträge keine Verbrauchshandlung mehr gibt?
3.      Kann angesichts der genannten Rechtsvorschriften der genannte Betrag deswegen nicht als Gegenleistung für Dienstleistungen qualifiziert werden, weil der Anbieter und seine früheren Kunden aufgrund gesetzlicher Verpflichtung im Rahmen eines vorformulierten Standardvertrags die Formel zur Berechnung des Betrags festgelegt haben, der von den früheren Kunden geschuldet wird, wenn diese die im Dienstleistungsvertrag festgelegte Mindestbindungsfrist nicht einhalten?
4.      Kann angesichts der genannten Rechtsvorschriften der genannte Betrag nicht als Gegenleistung für Dienstleistungen qualifiziert werden, wenn er nicht dem Betrag entspricht, den der Anbieter ohne diese vorzeitige Kündigung des Vertrags während der restlichen Mindestbindungsfrist erhalten hätte?

 Zu den Vorlagefragen

29      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass Beträge, die ein Wirtschaftsteilnehmer erhält, falls ein Dienstleistungsvertrag, der als Gegenleistung für die Gewährung vorteilhafter Konditionen an einen Kunden die Einhaltung einer Mindestbindungsfrist vorsieht, aus bei diesem Kunden liegenden Gründen vorzeitig beendet wird, als Vergütung für die Erbringung einer entgeltlichen Dienstleistung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind.

30      Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie, der den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer definiert, unterliegen Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer.

31      Eine Dienstleistung wird nur dann „gegen Entgelt“ im Sinne dieser Bestimmung erbracht, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für eine dem Leistungsempfänger erbrachte bestimmbare Dienstleistung bildet. Dies ist dann der Fall, wenn zwischen der erbrachten Dienstleistung und dem erhaltenen Gegenwert ein unmittelbarer Zusammenhang besteht (Urteil vom 22. November 2018, MEO – Serviços de Comunicações e Multimédia, C‑295/17, EU:C:2018:942, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Was den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der dem Leistungsempfänger erbrachten Dienstleistung und dem tatsächlich erhaltenen Gegenwert angeht, hat der Gerichtshof entschieden, dass der Gegenwert des beim Abschluss eines Dienstleistungsvertrags entrichteten Preises in dem sich daraus ergebenden Recht des Kunden besteht, in den Genuss der Erfüllung der sich aus diesem Vertrag ergebenden Verpflichtungen zu kommen, unabhängig davon, ob er dieses Recht auch wahrnimmt. So erbringt der Dienstleister diese Leistung bereits, sobald er den Kunden in die Lage versetzt, diese Leistung in Anspruch zu nehmen, so dass das Bestehen des erwähnten unmittelbaren Zusammenhangs nicht durch den Umstand beeinträchtigt wird, dass der Kunde dieses Recht nicht wahrnimmt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2018, MEO – Serviços de Comunicações e Multimédia, C‑295/17, EU:C:2018:942, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Der Gerichtshof hat festgestellt, dass ein im Vorhinein festgelegter Betrag, den ein Wirtschaftsteilnehmer im Fall der vorzeitigen Beendigung eines Dienstleistungsvertrags mit einer Mindestbindungsfrist durch seinen Kunden oder aus einem diesem zuzurechnenden Grund bezieht und der dem Betrag entspricht, den dieser Wirtschaftsteilnehmer ohne diese vorzeitige Beendigung für die restliche Laufzeit erhalten hätte, als Gegenleistung für eine gegen Entgelt erbrachte Dienstleistung anzusehen ist und als solche der Mehrwertsteuer unterliegt, selbst wenn diese Beendigung die Deaktivierung der vertragsgegenständlichen Produkte oder Dienste vor dem Ende der vereinbarten Mindestbindungsfrist impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. November 2018, MEO – Serviços de Comunicações e Multimédia, C‑295/17, EU:C:2018:942, Rn. 12, 45 und 57, und vom 3. Juli 2019, UniCredit Leasing, C‑242/18, EU:C:2019:558, Rn. 70).

34      Im vorliegenden Fall werden die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beträge nach den Angaben des vorlegenden Gerichts nach einer vertraglich festgelegten Formel unter Beachtung der im nationalen Recht vorgesehenen Voraussetzungen berechnet. Aus diesen Angaben geht hervor, dass diese Beträge die Kosten, die dem Leistenden bei der Erbringung dieser Dienstleistungen entstehen, nicht übersteigen dürfen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem dem Kunden gewährten Vorteil stehen müssen, der als solcher in dem mit dem Dienstleistungserbringer geschlossenen Vertrag benannt und quantifiziert worden ist. Somit entsprechen diese Beträge weder automatisch dem Wert der Leistungen, die zum Zeitpunkt der Kündigung des Vertrags noch fällig sind, noch den Beträgen, die der Leistungserbringer während der restlichen Mindestbindungsfrist ohne eine solche Kündigung erhalten hätte.

35      Erstens ist davon auszugehen, dass unter den in der vorstehenden Randnummer dargelegten Umständen der Gegenwert des vom Kunden an Vodafone entrichteten Betrags in dem Anspruch des Kunden auf Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Dienstleistungsvertrag durch diesen Betreiber besteht, auch wenn der Kunde diesen Anspruch aus einem ihm zuzurechnenden Grund nicht wahrnehmen will oder kann (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2018, MEO – Serviços de Comunicações e Multimédia, C‑295/17, EU:C:2018:942, Rn. 45).

36      Vodafone versetzt den Kunden nämlich in die Lage, diese Leistung im Sinne der in Rn. 32 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung in Anspruch zu nehmen, und die Beendigung dieser Dienstleistung ist Vodafone nicht zuzurechnen.

37      Einerseits verpflichtet sich Vodafone, ihren Kunden die in den mit ihnen geschlossenen Verträgen vereinbarten Dienstleistungen zu den darin vorgesehenen Bedingungen zu erbringen. Andererseits verpflichten sich diese Kunden, die in diesen Verträgen vorgesehenen Monatsraten und gegebenenfalls die Beträge zu zahlen, die geschuldet werden, wenn diese Verträge aus bei den Kunden liegenden Gründen vor dem Ende der Mindestbindungsfrist gekündigt werden sollten.

38      Insoweit entsprechen diese Beträge, wie das vorlegende Gericht ausführt, der Wiedererlangung eines Teils der mit der Erbringung der Dienstleistungen, die dieser Betreiber ihnen erbracht hat, verbundenen Kosten, zu deren Erstattung sich diese Kunden für den Fall einer solchen Kündigung verpflichtet haben.

39      Folglich sind diese Beträge als Teil des Preises der Dienstleistung anzusehen, zu deren Erbringung sich der Leistende gegenüber den Kunden verpflichtet hat und der zum Preis der Monatsraten hinzugerechnet wird, wenn die Mindestbindungsfrist von diesen Kunden nicht eingehalten wird. Unter diesen Umständen haben diese Beträge einen ähnlichen Zweck wie die Monatsraten, die grundsätzlich geschuldet worden wären, wenn die Kunden nicht vorteilhafte Konditionen erhalten hätten, die die Einhaltung der Mindestbindungsfrist voraussetzten.

40      Daher ist davon auszugehen, dass im Hinblick auf die wirtschaftliche Realität, die ein grundlegendes Kriterium für die Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems darstellt, der anlässlich der vorzeitigen Beendigung des Vertrags geschuldete Betrag dem Betreiber eine vertraglich vorgesehene Mindestvergütung der erbrachten Dienstleistung sicherstellen soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2018, MEO – Serviços de Comunicações e Multimédia, C‑295/17, EU:C:2018:942, Rn. 61).

41      Wie die irische und die portugiesische Regierung sowie die Kommission in ihren Erklärungen ausführen, ist daher in dem Fall, in dem diese Kunden die Mindestbindungsfrist nicht einhalten, die Erbringung der Dienstleistungen als erfolgt anzusehen, sobald die Kunden in der Lage sind, diese Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen.

42      Unter diesen Umständen sind die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beträge als Teil der Vergütung anzusehen, die der Betreiber für die Dienstleistungen erhält. Dabei ist unerheblich, dass im Gegensatz zu den Beträgen, die Gegenstand der Rechtssache waren, in der das Urteil vom 22. November 2018, MEO – Serviços de Comunicações e Multimédia (C‑295/17, EU:C:2018:942), ergangen ist, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beträge es Vodafone nicht erlauben, die gleichen Einnahmen zu erzielen, die sie gehabt hätte, wenn der Kunde den Vertrag nicht vorzeitig gekündigt hätte.

43      Zweitens ist zu der Voraussetzung, die sich aus der in Rn. 31 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, wonach die gezahlten Beträge die tatsächliche Gegenleistung für eine bestimmbare Dienstleistung darstellen müssen, festzustellen, dass sowohl die zu erbringende Dienstleistung als auch die Gegenleistung für das Recht auf Nutzung dieser Dienstleistung bei Abschluss des Vertrags zwischen Vodafone und ihren Kunden bestimmt werden. Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts geht insbesondere hervor, dass die Gegenleistung für die Dienstleistung nach genau festgelegten Kriterien bestimmt wird, die sowohl die Monatsraten als auch die Art und Weise, wie der Betrag für die vorzeitige Beendigung zu berechnen ist, festlegen.

44      Die vom Kunden erbrachte Gegenleistung ist daher weder unentgeltlich noch vom Zufall abhängig (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. März 1994, Tolsma, C‑16/93, EU:C:1994:80, Rn. 19), noch schwer zu quantifizieren und ungewiss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Baštová, C‑432/15, EU:C:2016:855, Rn. 35).

45      Entgegen dem Vorbringen von Vodafone ist dieser Betrag auch nicht einer gesetzlich vorgeschriebenen Zahlung im Sinne des Urteils vom 8. März 1988, Apple and Pear Development Council (102/86, EU:C:1988:120), gleichzustellen und soll den Betreiber auch nicht nach der Kündigung des Vertrags durch den Kunden im Sinne des Urteils vom 18. Juli 2007, Société thermale d’Eugénie-les-Bains (C‑277/05, EU:C:2007:440), entschädigen.

46      Auch wenn die Berechnung dieses Betrags durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften geregelt ist, steht zum einen nämlich dennoch fest, dass die Zahlung dieses Betrags im Rahmen eines Rechtsverhältnisses erfolgt, das durch einen Austausch gegenseitiger Leistungen zwischen dem Leistungserbringer und seinem Kunden gekennzeichnet ist, und dass diese Zahlung in diesem Zusammenhang eine vertragliche Verpflichtung des Kunden ist.

47      Zum anderen ist in Bezug auf das Vorbringen von Vodafone, wonach der für die Nichteinhaltung der Mindestbindungsfrist geschuldete Betrag einem Ausgleich für den ihr entstandenen Schaden gleichkomme, erstens darauf hinzuweisen, dass dieses Vorbringen im Widerspruch zu der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden tatsächlichen nationalen Rechtslage steht, da ein Betreiber nach diesem Recht – vorbehaltlich einer entsprechenden Überprüfung durch das vorlegende Gericht – nicht in der Lage ist, dem Kunden im Fall einer vorzeitigen Vertragsbeendigung Entschädigungs- oder Ausgleichsbeträge in Rechnung zu stellen.

48      Zweitens kann auch dieses Vorbringen in Anbetracht der wirtschaftlichen Realität der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Geschäfte keinen Erfolg haben.

49      Im Rahmen einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise bestimmt der Betreiber nämlich den Preis für seine Dienstleistung und die Monatsraten unter Berücksichtigung der Kosten für diese Dienstleistung und der Mindestlaufzeit der vertraglichen Verpflichtung. Wie in Rn. 39 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, ist der im Fall einer vorzeitigen Beendigung geschuldete Betrag als integraler Bestandteil des Preises zu betrachten, zu dessen Zahlung sich der Kunde für die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen durch den Dienstleistungserbringer verpflichtet hat.

50      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass Beträge, die ein Wirtschaftsteilnehmer erhält, falls ein Dienstleistungsvertrag, der als Gegenleistung für die Gewährung vorteilhafter Konditionen an einen Kunden die Einhaltung einer Mindestbindungsfrist vorsieht, aus bei diesem Kunden liegenden Gründen vorzeitig beendet wird, als Vergütung für die Erbringung einer entgeltlichen Dienstleistung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind.

 Kosten

51      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass Beträge, die ein Wirtschaftsteilnehmer erhält, falls ein Dienstleistungsvertrag, der als Gegenleistung für die Gewährung vorteilhafter Konditionen an einen Kunden die Einhaltung einer Mindestbindungsfrist vorsieht, aus bei diesem Kunden liegenden Gründen vorzeitig beendet wird, als Vergütung für die Erbringung einer entgeltlichen Dienstleistung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind.

Unterschriften

*      Verfahrenssprache: Portugiesisch.

Quelle: http://curia.europa.eu/

EuGH Urteil "IO" (C‑420/18) vom 13. Juni 2019 zum autonomen Begriff „Steuerpflichtiger“ - Wirtschaftliche Tätigkeit, die selbständig ausgeübt wird

s. Rn. 39

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

13. Juni 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 9 und 10 – Steuerpflichtiger – Wirtschaftliche Tätigkeit, die ‚selbständig‘ ausgeübt wird – Begriff – Tätigkeit als Mitglied des Aufsichtsrats einer Stiftung“

In der Rechtssache C‑420/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Gerechtshof ’s-Hertogenbosch (Gerichtshof Herzogenbusch, Niederlande) mit Entscheidung vom 21. Juni 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juni 2018, in dem Verfahren

IO

gegen

Inspecteur van de rijksbelastingdienst

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev sowie der Richter T. von Danwitz, C. Vajda, P. G. Xuereb und A. Kumin (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der IO, vertreten durch J. L. Delleman,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, H. Shev, J. Lundberg und H. Eklinder als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und P. Vanden Heede als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 9 und 10 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2        Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen IO und dem Inspecteur van de rijksbelastingdienst (Inspektor der Finanzverwaltung, Niederlande) über die Frage, ob die Tätigkeit von IO als Mitglied des Aufsichtsrats einer Stiftung der Mehrwertsteuer unterliegt.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

4        Art. 10 dieser Richtlinie sieht vor:

„Die selbständige Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des Artikels 9 Absatz 1 schließt Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.“

 Niederländisches Recht

5        Art. 7 der Wet op de omzetbelasting 1968 (Umsatzsteuergesetz von 1968) bestimmt:

„1.      Unternehmer ist, wer selbständig eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.

2.      Unter wirtschaftlicher Tätigkeit im Sinne dieses Gesetzes ist auch zu verstehen:

a)      berufliche Tätigkeit;

…“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

6        IO ist Mitglied des Aufsichtsrats einer Stiftung, deren Haupttätigkeit darin besteht, hilfsbedürftigen Personen dauerhaft Wohnraum zur Verfügung zu stellen.

7        Nach der Satzung dieser Stiftung besteht dieser Aufsichtsrat aus mindestens fünf und höchstens zehn Mitgliedern, die für eine Amtszeit von vier Jahren ernannt werden. Eine Person, die einen Arbeitsvertrag mit der Stiftung geschlossen hat, kann dem Aufsichtsrat nicht angehören. Die Mitglieder des Aufsichtsrats können nur wegen Fahrlässigkeit bei der Ausübung ihrer Aufgaben oder anderer schwerwiegender Gründe suspendiert oder entlassen werden, und zwar durch Beschluss des Aufsichtsrats, der mit einer Dreiviertelmehrheit der abgegebenen Stimmen in einer Sitzung mit mindestens drei Vierteln seiner Mitglieder gefasst wird, wobei das betroffene Mitglied bzw. die betroffenen Mitglieder nicht mitgezählt werden.

8        Die Befugnisse des Aufsichtsrats der Stiftung umfassen insbesondere die Ernennung, Suspendierung und Entlassung der Mitglieder des Vorstands, die Festlegung ihrer Arbeitsbedingungen, die Aussetzung des Vollzugs der Entscheidungen des Vorstands, die Beratung des Vorstands, die Feststellung der Jahresabschlüsse, die Ernennung, Suspendierung und Entlassung der Mitglieder des Aufsichtsrats und die Bestimmung ihrer festen Vergütung.

9        Die Stiftung wird in rechtlicher und sonstiger Hinsicht von ihrem Vorstand vertreten. Im Fall eines Interessenskonflikts zwischen dem Vorstand oder einem seiner Mitglieder und der Stiftung wird sie jedoch vom Vorsitzenden und einem oder mehreren Mitgliedern des Aufsichtsrats gemeinsam vertreten. Ferner wird die Stiftung, wenn sämtliche Mitglieder des Vorstands ausscheiden, vom Aufsichtsrat geleitet, bis ein neuer Vorstand ernannt ist.

10      In Bezug auf die Aufgaben des Aufsichtsrats sieht Art. 18 der Satzung der Stiftung vor:

„1.      Der Aufsichtsrat hat zur Aufgabe, die Strategie des Vorstands sowie den allgemeinen Geschäftsgang der Stiftung und des mit ihr verbundenen Unternehmens zu kontrollieren. Die Mitglieder des Aufsichtsrats nehmen ihre Aufgabe ohne Auftrag desjenigen, der sie vorgeschlagen hat, und unabhängig von den vom Unternehmen betroffenen Sonderinteressen wahr. Der Aufsichtsrat berät den Vorstand. Bei der Erfüllung ihrer Aufgabe konzentrieren sich die Mitglieder des Aufsichtsrats auf das Interesse der Stiftung und des mit ihr verbundenen Unternehmens.

2.      Der Aufsichtsrat muss seine Handlungen nicht gegenüber dem Vorstand rechtfertigen.

3.      Der Aufsichtsrat legt extern Rechenschaft für seine Handlungen ab, indem er im Jahresbericht über seine Tätigkeit berichtet.

4.      Der Aufsichtsrat regelt seine Arbeitsweise in einer Geschäftsordnung, die keine Bestimmungen enthalten darf, die gegen das Gesetz oder die vorliegende Satzung verstoßen.“

11      Für seine Tätigkeit als Mitglied des Aufsichtsrats der Stiftung erhält IO eine Bruttovergütung in Höhe von 14 912 Euro pro Jahr, von der Lohnsteuer einbehalten wird. Diese Vergütung wurde vom Aufsichtsrat gemäß den in der Wet Normering Bezoldiging topfunctionarissen publieke en semipublieke sector (Gesetz zur Normierung der Bezüge von Führungskräften im öffentlichen und halböffentlichen Sektor) aufgestellten Regeln festgesetzt und hängt weder von der Teilnahme von IO an Sitzungen noch von seinen tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden ab.

12      IO ist ferner auch in einem Dienstverhältnis als Kommunalbeamter tätig. Seine Funktion als Aufsichtsratsmitglied hat jedoch nichts mit der Gemeinde zu tun, die ihn beschäftigt, so dass sich die Frage etwaiger Interessenskonflikte nicht stellt.

13      Bis zum 1. Januar 2013 galt nach einem Erlass des Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande) vom 5. Oktober 2006 die Tätigkeit von IO als Mitglied des Aufsichtsrats der Stiftung nicht als mehrwertsteuerpflichtig. Dieser Erlass wurde jedoch zurückgenommen.

14      Am 8. Juli 2014 gab IO im Rahmen der Ausübung seiner Tätigkeit als Mitglied dieses Aufsichtsrats eine Umsatzsteuererklärung für den Zeitraum vom 1. April bis zum 30. Juni 2014 über 782 Euro ab, die er auch zahlte. Mit Schreiben vom 9. Juli 2014 legte er jedoch Einspruch hinsichtlich dieser Steuer ein, der mit Bescheid der Steuerverwaltung zurückgewiesen wurde. Die von IO gegen diesen Bescheid erhobene Klage wurde mit Urteil der Rechtbank Zeeland-West-Brabant (Gericht Zeeland-West-Brabant, Niederlande) als unbegründet abgewiesen.

15      IO legte gegen dieses Urteil Berufung beim Gerechtshof ’s‑Hertogenbosch (Gerichtshof Herzogenbusch, Niederlande) ein. Dieses Gericht führt aus, dass die Parteien des bei ihm anhängigen Rechtsstreits darüber uneinig seien, ob IO aufgrund seiner Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied als „Unternehmer“ im Sinne von Art. 7 des Umsatzsteuergesetzes von 1968 und „Steuerpflichtiger“ im Sinne von Art. 9 und 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie einzustufen sei. Zwar sei unstreitig, dass IO als Mitglied dieses Aufsichtsrats dauerhaft am Wirtschaftsverkehr teilnehme und somit eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübe. Uneinig seien die Parteien jedoch hinsichtlich der Frage, ob diese Tätigkeit selbständig ausgeübt werde.

16      Gegen die Annahme, dass IO eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig ausübe, sprächen insbesondere folgende Gesichtspunkte:

–        Die Mitglieder des Aufsichtsrats der Stiftung würden vom Aufsichtsrat ernannt, suspendiert und entlassen;

–        der Aufsichtsrat setze die feste Vergütung seiner Mitglieder fest, die nicht von ihrer Teilnahme an Sitzungen oder den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden abhänge;

–        ein Aufsichtsratsmitglied könne nicht allein die dem Aufsichtsrat übertragenen Befugnisse ausüben, so dass er nicht in seinem eigenen Namen, für seine eigene Rechnung und in eigener Verantwortung handle, sondern für Rechnung und unter Verantwortung des Aufsichtsrats.

17      Für eine selbständige Tätigkeit sprächen dagegen insbesondere folgende Gesichtspunkte:

–        Eine Person, die einen Arbeitsvertrag mit der Stiftung geschlossen habe, könne nicht Mitglied des Aufsichtsrats sein;

–        obwohl der Aufsichtsrat seine Mitglieder ernenne, äußere sich diese Ernennung im Abschluss eines Dienstleistungsvertrags zwischen dem betreffenden Mitglied und der Stiftung, da nur diese als juristische Person einen solchen Vertrag schließen könne;

–        beim Abschluss dieses Vertrags sei die Stiftung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts nicht frei, von den insoweit vom Aufsichtsrat erlassenen Bestimmungen abzuweichen, und sie übernehme auch keine Verantwortlichkeiten, die ein Arbeitgeber gewöhnlicherweise trage;

–        die Mitglieder des Aufsichtsrats der Stiftung seien innerhalb des Aufsichtsrats unabhängig und müssten gegenüber den anderen Aufsichtsratsmitgliedern und dem Vorstand der Stiftung kritisch handeln.

18      Daraus sei zu schließen, dass ein Mitglied des Aufsichtsrats der Stiftung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts dem Aufsichtsrat untergeordnet sei, auch wenn im Übrigen kein Unterordnungsverhältnis zwischen ihm und dem Aufsichtsrat oder zwischen ihm und der Stiftung bestehe. Dies deute darauf hin, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende wirtschaftliche Tätigkeit hier nicht selbständig ausgeübt werde und IO daher nicht als „Steuerpflichtiger“ eingestuft werden könne.

19      Da der Gerechtshof ’s‑Hertogenbosch (Gerichtshof Herzogenbusch) jedoch Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie hat, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Übt ein Mitglied des Aufsichtsrats einer Stiftung, das hinsichtlich seiner Arbeitsbedingungen und seines Arbeitsentgelts diesem Aufsichtsrat untergeordnet ist, im Übrigen aber in keinem Unterordnungsverhältnis zum Aufsichtsrat oder zur Stiftung steht, seine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig im Sinne von Art. 9 und 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie aus?

 Zur Vorlagefrage

20      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 9 und 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass ein Mitglied des Aufsichtsrats einer Stiftung wie der Kläger des Ausgangsverfahrens eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmungen selbständig ausübt und damit als Mehrwertsteuerpflichtiger einzustufen ist.

21      Zur Beantwortung dieser Frage ist daran zu erinnern, dass Steuerpflichtiger ist, wer eine der in Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten, u. a. alle Tätigkeiten eines Dienstleistenden, selbständig ausübt. Die in dieser Bestimmung verwendeten Begriffe verleihen dem Begriff „Steuerpflichtiger“ eine weite Definition mit dem Schwerpunkt auf der Selbständigkeit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in dem Sinne, dass alle Personen, die objektiv die Kriterien dieser Bestimmung erfüllen, als Mehrwertsteuerpflichtige gelten (Urteil vom 12. Oktober 2016, Nigl u. a., C‑340/15, EU:C:2016:764, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Insoweit präzisiert Art. 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass die Voraussetzung der selbständigen Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung ausschließt, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.

23      Es ist somit zu prüfen, ob eine Tätigkeit als Mitglied des Aufsichtsrats einer Stiftung wie die vom Kläger des Ausgangsverfahrens ausgeübte als „wirtschaftlich“ einzustufen ist, und danach gegebenenfalls, ob sie „selbständig“ ausgeübt wird.

 Zur Frage, ob die Tätigkeit „wirtschaftlich“ ist

24      Wie von den Parteien des Ausgangsrechtsstreits nicht bestritten, ist im vorliegenden Fall eine Tätigkeit wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende als „wirtschaftlich“ einzustufen, da sie nachhaltig ist und gegen ein Entgelt ausgeübt wird, das derjenige erhält, der die Leistung erbringt (Urteil vom 13. Juni 2018, Polfarmex, C‑421/17, EU:C:2018:432, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      So erhält der Kläger des Ausgangsverfahrens für seine Tätigkeit als Mitglied des Aufsichtsrats der Stiftung eine Bruttovergütung von 14 912 Euro pro Jahr, wobei insoweit unerheblich ist, dass diese Vergütung nicht nach Maßgabe individueller Leistungen, sondern pauschal und auf jährlicher Basis festgesetzt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2018, Nagyszénás Településszolgáltatási Nonprofit Kft., C‑182/17, EU:C:2018:91, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Da außerdem diese Vergütung gemäß den im Gesetz zur Normierung der Bezüge von Führungskräften im öffentlichen und halböffentlichen Sektor aufgestellten Regeln festgesetzt wurde, entsprechen die Umstände, unter denen der Kläger des Ausgangsverfahrens die fragliche Dienstleistung erbringt, den Umständen, unter denen eine derartige Dienstleistung gewöhnlich erbracht wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Mai 2016, Gemeente Borsele und Staatssecretaris van Financiën, C‑520/14, EU:C:2016:334, Rn. 29 und 30).

27      Ferner werden die Mitglieder des Aufsichtsrats der Stiftung, wie sich aus deren Satzung ergibt, für eine Amtszeit von vier Jahren ernannt, was der erhaltenen Vergütung einen nachhaltigen Charakter verleiht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juni 2016, Lajvér, C‑263/15, EU:C:2016:392, Rn. 33).

28      Nicht gefolgt werden kann dagegen der Auffassung der schwedischen Regierung, wonach allein daraus, dass ein Aufsichtsratsmitglied nur ein oder einige wenige Mandate wahrnehme, nicht geschlossen werden könne, dass es sich um eine Tätigkeit handele, die ausgeübt werde, um damit nachhaltig Einnahmen zu erzielen. Insoweit sei erforderlich, dass der Betreffende aktive Schritte unternehme, um Einnahmen in Form einer Vergütung für erbrachte Dienstleistungen zu erzielen, und folglich, dass die Tätigkeit gewerbsmäßig ausgeübt werde.

29      Es trifft zwar zu, dass der Gerichtshof zur steuerlichen Behandlung des Verkaufs von dem Privatvermögen zugeordneten Grundstücken entschieden hat, dass die bloße Ausübung des Eigentumsrechts durch seinen Inhaber als solche nicht als wirtschaftliche Tätigkeit angesehen werden kann, dies jedoch anders ist, wenn der Betreffende aktive Schritte zur Vermarktung von Grund und Boden unternommen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. September 2011, Słaby u. a., C‑180/10 und C‑181/10, EU:C:2011:589, Rn. 36 und 39, und vom 9. Juli 2015, Trgovina Prizma, C‑331/14, EU:C:2015:456, Rn. 23 und 24, sowie zu aktiven Schritten der Forstwirtschaft Urteil vom 19. Juli 2012, Rēdlihs, C‑263/11, EU:C:2012:497, Rn. 36). Diese Rechtsprechung bezieht sich jedoch nicht nur speziell auf die steuerliche Behandlung des Verkaufs von dem Privatvermögen zugeordneten Grundstücken, sondern lässt auch jedenfalls nicht den Schluss zu, dass das Unternehmen solcher Schritte eine Voraussetzung dafür ist, eine Tätigkeit als zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen ausgeübt ansehen und damit als „wirtschaftlich“ einstufen zu können.

30      Daraus folgt, dass die wirtschaftliche Natur der Tätigkeit als Mitglied des Aufsichtsrats einer Stiftung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht dadurch in Frage gestellt wird, dass dieses Mitglied nur ein einziges Mandat ausübt, sofern diese Tätigkeit nachhaltig ist und gegen Entgelt ausgeübt wird.

31      Soweit die schwedische Regierung in diesem Zusammenhang geltend macht, dass die Tätigkeit, die in der Wahrnehmung eines oder einiger weniger Aufsichtsratsmandate bestehe, nicht darauf abziele, nachhaltig Dienstleistungen zu verkaufen, ist ferner daran zu erinnern, dass der Begriff „wirtschaftliche Tätigkeit“ nach ständiger Rechtsprechung objektiv festgelegt ist, da die Tätigkeit an sich, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, betrachtet wird (Urteil vom 5. Juli 2018, Marle Participations, C‑320/17, EU:C:2018:537, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 Zur Frage, ob die Tätigkeit selbständig ausgeübt wird

32      Um feststellen zu können, ob eine Tätigkeit wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende selbständig ausgeübt wird, ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob eine Person wie der Kläger des Ausgangsverfahrens nach Art. 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie als Lohn- oder Gehaltsempfänger oder sonstige Person, die an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft, von der Besteuerung ausgeschlossen ist.

33      Hierzu ist erstens festzustellen, dass im vorliegenden Fall der Kläger des Ausgangsverfahrens kein Lohn- oder Gehaltsempfänger ist. Denn von seiner Vergütung wird zwar, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, „Lohnsteuer“ einbehalten. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts wird das Verhältnis zwischen einem Mitglied des Aufsichtsrats einer juristischen Person und dieser juristischen Person im Kontext des Ausgangsrechtsstreits aber lediglich aufgrund einer Gesetzesfiktion als Arbeitsverhältnis eingestuft, da bei einem solchen Aufsichtsratsmitglied die Kriterien eines Arbeitsverhältnisses nicht erfüllt sind.

34      Zweitens übt der Kläger des Ausgangsverfahrens dem vorlegenden Gericht zufolge seine Tätigkeit nicht auf der Grundlage eines Arbeitsvertrags, sondern auf der Grundlage eines Dienstleistungsvertrags aus.

35      Drittens ist zur Frage, ob ein sonstiges Rechtsverhältnis vorliegt, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft, festzustellen, dass hinsichtlich der Arbeitsbedingungen kein Unterordnungsverhältnis besteht, da zum einen die Mitglieder eines solchen Aufsichtsrats keinen Weisungen des Vorstands der Stiftung unterliegen, insbesondere wenn sie die Modalitäten der Ausübung ihrer Tätigkeit regeln. Die Aufsichtsratsmitglieder sollen die Strategie des Vorstands und den allgemeinen Geschäftsgang der Stiftung auf unabhängige Weise kontrollieren. Diese Aufsichtsfunktion lässt sich nicht mit einem Unterordnungsverhältnis vereinbaren.

36      Zum anderen legt nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen der Aufsichtsrat zwar seine Arbeitsweise in einer Geschäftsordnung fest, er scheint aber seinen Mitgliedern nicht vorschreiben zu dürfen, wie sie ihr Mandat jeweils wahrnehmen. Nach diesen Angaben sind die Aufsichtsratsmitglieder nämlich innerhalb des Aufsichtsrats unabhängig und müssen gegenüber den anderen Aufsichtsratsmitgliedern kritisch handeln.

37      Fehlt es aber an einem Unterordnungsverhältnis hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, stehen die Mitglieder eines solchen Aufsichtsrats in keinem anderen Rechtsverhältnis, das im Sinne von Art. 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie ein Verhältnis der Unterordnung schafft. Daher ist in einem zweiten Schritt anhand Art. 9 dieser Richtlinie zu prüfen, ob eine Tätigkeit wie die des Ausgangsverfahrens selbständig ausgeübt wird.

38      Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass, um zu bestimmen, ob eine Person eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig ausübt, zu prüfen ist, ob sie sich bei der Ausübung dieser Tätigkeit in einem Unterordnungsverhältnis befindet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. September 2015, Gmina Wrocław, C‑276/14, EU:C:2015:635, Rn. 33 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Für die Beurteilung des Vorliegens dieses Unterordnungsverhältnisses ist zu prüfen, ob der Betroffene seine Tätigkeiten im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung ausübt und ob er das mit der Ausübung dieser Tätigkeiten einhergehende wirtschaftliche Risiko trägt. Zur Feststellung der Selbständigkeit der in Rede stehenden Tätigkeiten hat der Gerichtshof daher das Fehlen jeglichen hierarchischen Unterordnungsverhältnisses berücksichtigt sowie den Umstand, dass die betreffende Person für eigene Rechnung und in eigener Verantwortung handelt, dass sie die Modalitäten der Ausübung ihrer Arbeit frei regelt und dass sie das Entgelt, das ihr Einkommen darstellt, selbst vereinnahmt (Urteil vom 29. September 2015, Gmina Wrocław, C‑276/14, EU:C:2015:635, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Wie in den Rn. 35 und 36 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist die Situation eines Mitglieds des Aufsichtsrats einer Stiftung wie des Klägers des Ausgangsverfahrens dadurch gekennzeichnet, dass hinsichtlich der Ausübung der Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied kein hierarchisches Unterordnungsverhältnis gegenüber dem Vorstand dieser Stiftung und dem Aufsichtsrat besteht.

41      Allerdings handelt der Kläger des Ausgangsverfahrens nach den Angaben des vorlegenden Gerichts in der Ausübung seiner Aufgaben als Mitglied des Aufsichtsrats der Stiftung weder in eigenem Namen noch für eigene Rechnung oder in eigener Verantwortung. Wie sich aus der Satzung der Stiftung ergibt, besteht die Tätigkeit als Mitglied dieses Aufsichtsrats in bestimmten Fällen in der rechtlichen Vertretung der Stiftung, was die Befugnis impliziert, die Stiftung insoweit zu verpflichten. Das vorlegende Gericht erläutert außerdem, dass die Aufsichtsratsmitglieder die dem Aufsichtsrat übertragenen Befugnisse nicht individuell ausüben könnten und für Rechnung und unter Verantwortung des Aufsichtsrats handelten. Somit erweist sich, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats der Stiftung individuell weder die Verantwortung tragen, die sich aus den in gesetzlicher Vertretung der Stiftung vorgenommenen Handlungen des Aufsichtsrats ergibt, noch für Schäden haften, die sie Dritten in Wahrnehmung ihrer Aufgaben verursachen, und damit nicht in eigener Verantwortung handeln (vgl. entsprechend Urteil vom 25. Juli 1991, Ayuntamiento de Sevilla, C‑202/90, EU:C:1991:332, Rn. 15).

42      Die Situation eines Aufsichtsratsmitglieds wie des Klägers des Ausgangsverfahrens zeichnet sich außerdem im Gegensatz zu der eines Unternehmers dadurch aus, dass mit der ausgeübten Tätigkeit keinerlei wirtschaftliches Risiko einhergeht. Dem vorlegenden Gericht zufolge bezieht ein solches Aufsichtsratsmitglied nämlich eine feste Vergütung, die weder von seiner Teilnahme an Sitzungen noch von seinen tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden abhängt. Daher übt er im Unterschied zu einem Unternehmer keinen nennenswerten Einfluss auf seine Einnahmen oder Ausgaben aus (vgl. im Umkehrschluss Urteil vom 12. November 2009, Kommission/Spanien, C‑154/08, nicht veröffentlicht, EU:C:2009:695, Rn. 107 und die dort angeführte Rechtsprechung). Überdies scheint eine von einem solchen Aufsichtsratsmitglied in Ausübung seiner Tätigkeit begangene Fahrlässigkeit keine unmittelbaren Auswirkungen auf seine Vergütung zu haben, da sie nach der Stiftungssatzung nur dann zu seiner Entlassung führen kann, wenn zuvor ein besonderes Verfahren durchgeführt wird.

43      Bei einer Person, die kein derartiges wirtschaftliches Risiko trägt, kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass sie eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie selbständig ausübt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. März 2006, FCE Bank, C‑210/04, EU:C:2006:196, Rn. 35 bis 37, vom 18. Oktober 2007, van der Steen, C‑355/06, EU:C:2007:615, Rn. 24 bis 26, und vom 24. Januar 2019, Morgan Stanley & Co International, C‑165/17, EU:C:2019:58, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 9 und 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass ein Mitglied des Aufsichtsrats einer Stiftung wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, der zwar hinsichtlich der Ausübung seiner Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied weder dem Vorstand noch dem Aufsichtsrat dieser Stiftung hierarchisch untergeordnet ist, jedoch nicht in eigenem Namen, für eigene Rechnung und in eigener Verantwortung, sondern für Rechnung und unter Verantwortung des Aufsichtsrats handelt und auch nicht das wirtschaftliche Risiko seiner Tätigkeit trägt, da er eine feste Vergütung erhält, die weder von der Teilnahme an Sitzungen noch von seinen tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden abhängt, nicht selbständig eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.

 Kosten

45      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 9 und 10 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass ein Mitglied des Aufsichtsrats einer Stiftung wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, der zwar hinsichtlich der Ausübung seiner Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied weder dem Vorstand noch dem Aufsichtsrat dieser Stiftung hierarchisch untergeordnet ist, jedoch nicht in eigenem Namen, für eigene Rechnung und in eigener Verantwortung, sondern für Rechnung und unter Verantwortung des Aufsichtsrats handelt und auch nicht das wirtschaftliche Risiko seiner Tätigkeit trägt, da er eine feste Vergütung erhält, die weder von der Teilnahme an Sitzungen noch von seinen tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden abhängt, nicht selbständig eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.

Unterschriften

Quelle: http://curia.europa.eu/



EuGH vom 16.07.2020 "Cabinet de avocat UR" (C-424/19) zum autonomen Begriff „Steuerpflichtiger“ zur Rechtskraft und zum Besteuerungszeitraum

s.u.a. Rn 4, 15, 16, 34, Tenor 2

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

16. Juli 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2006/112/EG – Mehrwertsteuer – Art. 9 Abs. 1 – Begriff ,Steuerpflichtiger‘ – Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt – Rechtskräftige gerichtliche Entscheidung – Grundsatz der Rechtskraft – Tragweite dieses Grundsatzes im Fall, dass diese Entscheidung mit dem Unionsrecht unvereinbar ist“

In der Rechtssache C‑424/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 15. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Mai 2019, in dem Verfahren

Cabinet de avocat UR

gegen

Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice prin Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti,

Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice,

MJ,

NK

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) und des Richters N. Jääskinen,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Cabinet de avocat UR, vertreten durch D. Rădescu, avocat,

–        der rumänischen Regierung, zunächst vertreten durch C. R. Canţăr, R. I. Haţieganu und A. Rotăreanu, dann durch E. Gane, R. I. Haţieganu und A. Rotăreanu als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und A. Armenia als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) und des Grundsatzes der Rechtskraft.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Cabinet de avocat UR (Rechtsanwaltskanzlei UR, im Folgenden: UR) auf der einen Seite und der Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice prin Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti (Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3, vertreten durch die regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Bukarest, Rumänien), der Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice (Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3, Rumänien), MJ und NK auf der anderen Seite darüber, ob UR mehrwertsteuerpflichtig ist.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 lautet:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:



c)      Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;

…“

4        Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

 Nationales Recht

5        Art. 431 („Wirkungen der Rechtskraft“) des Codul de procedură civilă (Zivilprozessordnung) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:

„(1)      Niemand kann zweimal in derselben Eigenschaft, aus demselben Rechtsgrund und mit demselben Gegenstand verklagt werden.

(2)      Jede Partei kann die Rechtskraft einer früheren Entscheidung in einem anderen Rechtsstreit einwenden, wenn ein Zusammenhang mit dieser Entscheidung besteht.“

6        Das vorlegende Gericht führt aus, dass die „negative oder auslöschende“ Wirkung der Rechtskraft einer erneuten Entscheidung entgegenstehe, wenn Parteiidentität gegeben sei und es um dieselbe Rechtssache und um denselben Klagegegenstand gehe, während die „positive Wirkung“ der Rechtskraft darin bestehe, dass jede Partei die Rechtskraft einer früheren Entscheidung in einem anderen Rechtsstreit einwenden könne, wenn ein Zusammenhang mit der Entscheidung des Letzteren gegeben sei, wie die Identität der streitigen Fragen.

7        Art. 432 („Einrede der Rechtskraft“) der Zivilprozessordnung sieht vor:

„Die Einrede der Rechtskraft kann vom Gericht oder von den Parteien in jedem Stadium des Verfahrens, auch vor dem Rechtsmittelgericht, geltend gemacht werden. Wird der Einrede stattgegeben, kann dies die Lage der betroffenen Partei im Anschluss an ihre eigene Klage gegenüber der sich aus der angefochtenen Entscheidung ergebenden Lage verschlechtern.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8        UR, eine Rechtsanwaltskanzlei mit Sitz in Rumänien, beantragte am 28. Mai 2015 beim Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3 ihre Löschung aus dem Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen mit Wirkung ab dem Jahr 2002 und die Erstattung der im Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2014 von diesem Amt vereinnahmten Mehrwertsteuer mit der Begründung, dass sie fälschlicherweise in diesem Register eingetragen worden sei.

9        Da das Amt auf diesen Antrag nicht reagiert hatte, verklagte UR die Beklagten des Ausgangsverfahrens vor dem Tribunalul Bucureşti (Landgericht Bukarest, Rumänien) und beantragte, das Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3 zu verpflichten, sie aus dem Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen zu streichen, und die Beklagten des Ausgangsverfahrens gesamtschuldnerisch zu verurteilen, ihr die erhobene Mehrwertsteuer zu erstatten.

10      Mit Urteil vom 17. Februar 2017 wies das Tribunalul București (Landgericht Bukarest) die Klage von UR ab.

11      Zur Stützung der gegen dieses Urteil bei der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) eingelegten Berufung macht UR die Rechtskraft eines Urteils vom 30. April 2018 geltend, mit dem eben dieses Gericht ein Urteil des Tribunalul Bucureşti (Landgericht Bukarest) vom 21. September 2016 bestätigt und festgestellt hatte, dass ein Steuerpflichtiger wie UR, der den freien Beruf des Rechtsanwalts ausübe, keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübe und daher nicht als Person angesehen werden könne, die Gegenstände liefere oder Dienstleistungen erbringe, da die Verträge, die er mit seinen Mandanten geschlossen habe, keine Dienstleistungsverträge, sondern Verträge über juristischen Beistand seien (im Folgenden: Urteil vom 30. April 2018).

12      Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Umfasst der Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 betreffend den Begriff „Steuerpflichtiger“ auch eine Person, die den Beruf des Rechtsanwalts ausübt?

2.      Ist es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zulässig, dass in einem späteren Verfahren von der Rechtskraft einer endgültigen gerichtlichen Entscheidung abgewichen wird, mit der im Wesentlichen festgestellt worden ist, dass in Anwendung und Auslegung des innerstaatlichen Mehrwertsteuerrechts ein Rechtsanwalt keine Gegenstände liefert, keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt und keine Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen abschließt, sondern Verträge über juristischen Beistand?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

13      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt, als „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.

14      Nach Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt als „Steuerpflichtiger“, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.

15      Die in dieser Bestimmung verwendeten Begriffe, insbesondere der Begriff „wer“, verleihen dem Begriff „Steuerpflichtiger“ eine weite Definition mit dem Schwerpunkt auf der Selbständigkeit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in dem Sinne, dass alle natürlichen und juristischen Personen, sowohl öffentliche als auch private, sogar Einrichtungen ohne Rechtspersönlichkeit, die objektiv die Kriterien dieser Bestimmung erfüllen, als Mehrwertsteuerpflichtige gelten (Urteile vom 29. September 2015, Gmina Wrocław, C‑276/14, EU:C:2015:635, Rn. 28, sowie vom 12. Oktober 2016, Nigl u. a., C‑340/15, EU:C:2016:764, Rn. 27).

16      Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 definiert den Begriff „wirtschaftliche Tätigkeit“ als alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich u. a. der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe.

17      Da der Rechtsanwaltsberuf ein freier Beruf ist, geht folglich aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 hervor, dass eine Person, die diesen Beruf ausübt, eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt und als „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.

18      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2006/112 der Mehrwertsteuer einen sehr weiten Anwendungsbereich zuerkennt, indem sie in Art. 2, der die steuerbaren Umsätze betrifft, außer der Einfuhr von Gegenständen innergemeinschaftliche Erwerbe von Gegenständen, Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen erfasst, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt (Urteile vom 19. Juli 2012, Rēdlihs, C‑263/11, EU:C:2012:497, Rn. 24, und vom 3. September 2015, Asparuhovo Lake Investment Company, C‑463/14, EU:C:2015:542, Rn. 33).

19      Zudem hat der Gerichtshof in Rn. 49 des Urteils vom 17. Juni 2010, Kommission/Frankreich (C‑492/08, EU:C:2010:348), entschieden, dass ein Mitgliedstaat keinen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Leistungen anwenden darf, die von Rechtsanwälten erbracht werden, und für die diese im Rahmen der Prozesskostenhilfe vollständig oder teilweise durch den Staat entschädigt werden. Diese Beurteilung setzt aber notwendigerweise voraus, dass diese Leistungen als der Mehrwertsteuer unterliegend und diese Rechtsanwälte, die in diesem Urteil als „private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht“ eingestuft werden, als Steuerpflichtige handelnd angesehen werden.

20      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt, als „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.

 Zur zweiten Frage

21      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einem nationalen Gericht verwehrt, den Grundsatz der Rechtskraft in einem Rechtsstreit über die Mehrwertsteuer anzuwenden, wenn die Anwendung dieses Grundsatzes dieses Gericht daran hindern würde, die Vorschriften der Union über die Mehrwertsteuer zu berücksichtigen.

22      In diesem Zusammenhang ist zunächst auf die Bedeutung hinzuweisen, die dem Grundsatz der Rechtskraft sowohl im Unionsrecht als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (Urteile vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 22, vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 26, und vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 64).

23      Daher gebietet es das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte (Urteil vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Insbesondere verlangt das Unionsrecht nicht, dass ein nationales Rechtsprechungsorgan seine rechtskräftig gewordene Entscheidung grundsätzlich rückgängig machen muss, um der Auslegung einer einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmung durch den Gerichtshof Rechnung zu tragen (Urteile vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 28, und vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 66).

25      Aufgrund fehlender unionsrechtlicher Vorschriften in diesem Bereich ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen dieser Staaten, die Modalitäten der Wirkung der Rechtskraft festzulegen. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen internen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Äquivalenz), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (Urteile vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 24, vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 54, und vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 58).

26      Besteht demnach für das nationale Gericht nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, eine rechtskräftig gewordene Entscheidung rückgängig zu machen, um die Situation mit dem nationalen Recht in Einklang zu bringen, muss davon, sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, nach den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität Gebrauch gemacht werden, damit die Vereinbarkeit der betreffenden Situation mit dem Unionsrecht wiederhergestellt wird (Urteil vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens die „positive Wirkung“ der Rechtskraft seines Urteils vom 30. April 2018 geltend macht.

28      Sollte es dieses Urteil als rechtskräftig ansehen, könnten die Erwägungen dieses Urteils einen für den Kläger günstigen steuerlichen Präzedenzfall schaffen und die Grundlage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits bilden.

29      Aus der Vorlageentscheidung geht ferner hervor, dass der Ausgangsrechtsstreit den Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2014 betrifft, während das Urteil vom 30. April 2018 den Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 30. November 2014 betraf. Außerdem unterscheidet sich der Gegenstand dieses Rechtsstreits, nämlich ein Antrag auf Streichung aus dem Register der Mehrwertsteuerpflichtigen mit Wirkung ab dem Jahr 2002 und auf Erstattung der von der rumänischen Finanzverwaltung im fraglichen Zeitraum erhobenen Mehrwertsteuer, von demjenigen der Rechtssache, in der das genannte Urteil ergangen ist.

30      Für den Fall, dass das vorlegende Gericht nach den anzuwendenden Verfahrensvorschriften des rumänischen Rechts die Möglichkeit hat, die Klage des Ausgangsverfahrens abzuweisen, obliegt es ihm, diese zu nutzen und für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts, im vorliegenden Fall der Richtlinie 2006/112, Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls die Auslegung, die es im Urteil vom 30. April 2018 vorgenommen hat, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, wenn sie nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist (vgl. entsprechend Urteil vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 61, und vom 5. März 2020, OPR‑Finance, C‑679/18, EU:C:2020:167, Rn. 44).

31      Sollte das vorlegende Gericht im gegenteiligen Fall der Auffassung sein, dass die Anwendung des Grundsatzes der Rechtskraft der Infragestellung einer gerichtlichen Entscheidung wie dem Urteil vom 30. April 2018 entgegensteht, obwohl diese Entscheidung einen Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt, kann die Anwendung dieses Grundsatzes das vorlegende Gericht auch nicht daran hindern, bei der gerichtlichen Überprüfung einer anderen Entscheidung der zuständigen Steuerbehörde, die denselben Steuerschuldner oder Steuerpflichtigen, aber ein anderes Steuerjahr betrifft, in einer solchen Entscheidung enthaltene Feststellungen zu einem gemeinsamen Punkt in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 29).

32      Eine solche Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft hätte nämlich zur Folge, dass in dem Fall, dass eine in Rechtskraft erwachsene gerichtliche Entscheidung auf einer falschen Auslegung der Unionsregeln auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer beruht, sich die unrichtige Anwendung dieser Regeln für jeden neuen Veranlagungszeitraum wiederholte, ohne dass diese fehlerhafte Auslegung korrigiert werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 30).

33      Eine Behinderung der effektiven Anwendung der Unionsregeln auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer von solcher Reichweite kann nicht durch den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden und muss daher als dem Effektivitätsgrundsatz widersprechend angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 31).

34      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einem nationalen Gericht verwehrt, im Rahmen eines die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreits den Grundsatz der Rechtskraft anzuwenden, wenn sich dieser Rechtsstreit weder auf einen Besteuerungszeitraum bezieht, der mit dem identisch ist, um den es in dem Rechtsstreit ging, der der rechtskräftigen Entscheidung zugrunde lag, noch den gleichen Gegenstand wie dieser hat, und wenn die Anwendung dieses Grundsatzes die Berücksichtigung der unionsrechtlichen Mehrwertsteuerregelung durch dieses Gericht behindern würde.

 Kosten

35      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass eine Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt, als „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.

2.      Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es einem nationalen Gericht verwehrt, im Rahmen eines die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreits den Grundsatz der Rechtskraft anzuwenden, wenn sich dieser Rechtsstreit weder auf einen Besteuerungszeitraum bezieht, der mit dem identisch ist, um den es in dem Rechtsstreit ging, der der rechtskräftigen Entscheidung zugrunde lag, noch den gleichen Gegenstand wie dieser hat, und wenn die Anwendung dieses Grundsatzes die Berücksichtigung der unionsrechtlichen Mehrwertsteuerregelung durch dieses Gericht behindern würde.

Unterschriften

*      Verfahrenssprache: Rumänisch.

Quelle: http://curia.europa.eu/

Demnach verwehrt das Unionsrecht einem nationalen Gericht im Rahmen eines die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreits den Grundsatz der Rechtskraft anzuwenden, ........"wenn die Anwendung dieses Grundsatzes die Berücksichtigung der unionsrechtlichen Mehrwertsteuerregelung durch dieses Gericht behindern würde."

Dadurch sind die vielen Entscheidungen deutscher Gerichte nicht mehr haltbar

Auf das nachfolgende BFH Urteil BFH, 16.09.2010 - V R 57/09 stützen sich bis 2021 bereits 59 Entscheidungen. (eine kleine Auswahl finden Sie weiter unten)


Urteil vom 16. September 2010, V R 57/09

Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat

BFH V. Senat

AO § 110, AO § 155, AO § 172, AO § 355 Abs 1, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 227, AO § 125 Abs 1

vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2022/07 U

Leitsätze

Ein Steuerbescheid ist auch bei einem erst nachträglich erkannten Verstoß gegen das Unionsrecht nicht unter günstigeren Bedingungen als bei einer Verletzung innerstaatlichen Rechts änderbar. Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche abschließend. Nach den Vorgaben des Unionsrechts muss das steuerrechtliche Verfahrensrecht auch keine weitergehenden Korrekturmöglichkeiten für Steuerbescheide vorsehen (Bestätigung des BFH-Urteils vom 23. November 2006 V R 67/05, BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436) .

Tatbestand

I.

1
Streitig ist, ob der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ein Anspruch auf Änderung bestandskräftiger Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre (1993 bis 1998) zusteht.

2
Die Klägerin betrieb in den Streitjahren eine Spielhalle und führte dort Umsätze durch den Betrieb von Glücksspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit aus.

3
In den Umsatzsteuerbescheiden für die Streitjahre wurden diese Umsätze, den Steuererklärungen der Klägerin folgend, vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ‑‑FA‑‑) als umsatzsteuerpflichtig behandelt.

4
Mit Urteil vom 17. Februar 2005 entschied der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Linneweber und Akritidis C-453/02 und C-462/02 (Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94), dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) unmittelbare Wirkung zukomme, so dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten auf die Steuerfreiheit dieser Umsätze berufen könne. Bei Ergehen dieses Urteils lag für alle Streitjahre bereits Festsetzungsverjährung nach den Bestimmungen der Abgabenordnung (AO) vor. Die Einspruchsfrist für die für die Streitjahre ergangenen Umsatzsteuerjahresbescheide war bereits seit mehr als einem Jahr abgelaufen.

5
Mit Schreiben unter dem 13. April 2005 legte die Klägerin Einspruch gegen die für die Streitjahre ergangenen Umsatzsteuerfestsetzungen ein und machte die Steuerfreiheit für die Umsätze mit Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit geltend.

6
Das FA verwarf die Einsprüche wegen Verfristung als unzulässig. Die hiergegen eingelegte Klage zum Finanzgericht (FG) hat das FG aus den in "Entscheidungen der Finanzgerichte" 2010, 364 mitgeteilten Gründen abgewiesen.

7
Hiergegen richtet sich die Revision. Die Klägerin rügt die Verletzung materiellen Bundesrechts sowie des Unionsrechts. Sie regt an, dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsersuchens folgende Fragen vorzulegen:

8
"1. Kann sich ein Steuerpflichtiger gegenüber dem Finanzamt erfolgreich darauf berufen, dass die Europarechtswidrigkeit einer steuergesetzlichen Norm des nationalen Rechts durch den EuGH festgestellt worden ist, wenn nach nationalem Recht die Vorschrift der Bestandskraft entgegenstünde?

9
2. Gilt dies insbesondere dann, wenn die Umsetzung einer Richtlinie fehlerhaft geschehen ist, sodass dem Steuerpflichtigen nicht offenbart wurde, dass eine Abweichung des Gemeinschaftsrechts vom nationalen Recht vorlag und der Steuerpflichtige durch diese Unwissenheit nicht in der Lage war, seine Rechte innerhalb der nationalen Frist geltend zu machen?

10
3. Ist es für die Zumutbarkeit eines Rechtsbehelfs im Sinne der Entscheidung des EuGH vom 24. März 2009 C-445/06, Danske Slagterier von Relevanz, ob es sich um einen Eingriff handelt, der sich für den Bürger als ungewöhnlich oder selten darstellt, oder ob es sich um einen Eingriff handelt, der bereits vor Inkrafttreten der betreffenden verletzten Richtlinie durchgeführt wurde und auch bei anderen Steuerpflichtigen durchgeführt wird, sodass der Bürger keinen Anlass einer besonderen Prüfung erkennen kann, wie dies bei der Umsatzsteuerveranlagung der Fall ist und wirkt sich dies bejahendenfalls auf die Zumutbarkeit aus?

11
4. Muss der Steuerpflichtige ‑‑entgegen der Aussage in der Sache Emmott vom 25. Juli 1991 C-208/90‑‑ die Richtlinien der EG kennen, auf denen nationale Gesetze beruhen, die für ihn anwendbar sind?

12
5. Falls Frage 3 (gemeint: 4) zu bejahen ist, stellt sich Frage 4 (gemeint: 5): Macht es für den Beginn oder für die Länge der Rechtsmittelfrist einen Unterschied, dass das nationale Recht voraussetzt, dass der Bürger die nationalen Rechtsvorschriften zumindest kennen muss, er die Vorschriften der EG-Richtlinien aber nicht kennen muss und nicht kennt (Verstoß gegen den Grundsatz der Effektivität)? Ist der kurze Lauf der Rechtsmittelfrist deshalb im nationalen Recht angemessen, weil Kenntnis vorausgesetzt wird? Bedeutet dies dann, dass beim Verstoß gegen europarechtliche Richtlinien eine längere Frist oder mangels anwendbarer Regelungen des nationalen Rechts gar keine Frist läuft?

13
6. Kann der Steuerpflichtige trotz entgegenstehender Bestandskraft nach nationalem Recht Rückzahlung der zu Unrecht vereinnahmten Steuer verlangen?

14
7. Unter welchen Voraussetzungen kann der Steuerpflichtige eine entsprechende Rückzahlung verlangen?"

15
Die Klägerin beantragt,

das FG-Urteil sowie die Einspruchsentscheidung vom 20. April 2007 aufzuheben und die angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzungen 1993 bis 1998 in der Weise zu ändern, dass die Umsätze aus Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit steuerfrei belassen und damit im Zusammenhang stehende Vorsteuern nicht berücksichtigt werden,

hilfsweise den Streitfall dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.

16
Das FA beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

17
Die Revision der Klägerin ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat zu Recht sowohl die Nichtigkeit der angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzungen als auch die Änderbarkeit der bestandskräftigen und festsetzungsverjährten Bescheide für die Streitjahre verneint.

18
1. Die angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzungen sind nicht nichtig.

19
Gemäß § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Nach § 125 Abs. 2 AO ist ein Verwaltungsakt z.B. nichtig, der die erlassende Finanzbehörde nicht erkennen lässt, den aus tatsächlichen Gründen niemand befolgen kann, der die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangt oder der gegen die guten Sitten verstößt.

20
Im Streitfall liegt kein Nichtigkeitsgrund vor. Ein Verwaltungsakt ist nicht allein deswegen nichtig, weil er der gesetzlichen Grundlage entbehrt oder weil die in Betracht kommenden Rechtsvorschriften ‑‑auch diejenigen des formellen Rechts (Verfahrensrechts)‑‑ unrichtig angewendet worden sind. Der erforderliche besonders schwere Fehler liegt nur vor, wenn er die an eine ordnungsmäßige Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen und offenkundigen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, den Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt, da die Klägerin selbst in ihren Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre die streitigen Umsätze als steuerpflichtig angesehen hat und das FA dem gefolgt ist.

21
Darüber hinaus ist ein Verwaltungsakt nicht allein deswegen nichtig, weil die in Betracht kommenden Rechtsvorschriften unrichtig angewendet worden sind (Urteile des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 13. Mai 1987 II R 140/84, BFHE 150, 70, BStBl II 1987, 592, und vom 26. September 2006 X R 21/04, BFH/NV 2007, 186). Für Verstöße gegen Unionsrecht ergeben sich insoweit keine Besonderheiten (vgl. EuGH-Urteil vom 6. Oktober 2009 C-40/08, Asturcom Telecomunicationes SL, Slg. 2009, I-9579, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht ‑‑EWS‑‑ 2009, 475, Europäische Zeitschrift für Wirtschaft ‑‑EuZW‑‑ 2009, 852, unter Rdnr. 37; ebenso Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ‑‑BVerwG‑‑ vom 17. Januar 2007 6 C 32/06, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht ‑‑NVwZ‑‑ 2007, 709). Die Gegenauffassung, nach der ein Verstoß gegen das Unionsrecht stets einen "schweren" Rechtsfehler begründen soll (vgl. de Weerth, Deutsches Steuerrecht ‑‑DStR‑‑ 2008, 1368, 1369 zu § 130 AO), lässt unberücksichtigt, dass für einen unionsrechtswidrigen Bescheid keine andere Behandlung geboten ist als für einen Bescheid, der auf einer nicht verfassungskonformen Rechtsgrundlage beruht und dessen Bestand hiervon unberührt bleibt (§ 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht; BFH-Urteile vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714; vom 21. März 1996 XI R 36/95, BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399).

22
2. Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin ihren Einspruch verspätet eingelegt hat.

23
Nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO ist der Einspruch (§ 347 Abs. 1 Satz 1 AO) innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Ein Einspruch gegen eine Steueranmeldung ist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 2 AO innerhalb eines Monats nach Eingang der Steueranmeldung bei der Finanzbehörde, in den Fällen des § 168 Satz 2 AO innerhalb eines Monats nach Bekannt werden der Zustimmung, zu erheben.

24
Die Klägerin hat mit Schreiben unter dem 13. April 2005 Einspruch gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre (1993 bis 1998) erhoben. Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) war zu diesem Zeitpunkt bereits für alle Streitjahre sowohl die Monatsfrist als auch die ‑‑nach Auffassung der Klägerin wegen fehlender Rechtsbehelfsbelehrung anwendbare‑‑ Jahresfrist für die Einlegung eines Einspruchs abgelaufen. Dies ist im Übrigen auch zwischen den Beteiligten unstreitig.

25
3. Die Versäumung der Einspruchsfrist durch die Klägerin ist nicht aufgrund der sog. "Emmott'schen Fristenhemmung" unbeachtlich.

26
Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 25. Juli 1991 C-208/90, Emmott, Slg. 1991, I-4269 Rdnr. 23) kann sich ein säumiger Mitgliedstaat zwar bis zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung einer Richtlinie unter bestimmten Voraussetzungen nicht auf die verspätete Einlegung einer Klage berufen (vgl. zuletzt EuGH-Urteil vom 24. März 2009 C-445/06, Danske Slagterier, Slg. 2009, I-2119 Rdnrn. 53 f.). Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht uneingeschränkt, sondern setzt das Vorliegen besonderer Umstände voraus, die sich in der Rechtssache Emmott daraus ergaben, dass ein Bürger eines Mitgliedstaates von dessen Behörden zunächst von der rechtzeitigen Einlegung einer Klage abgehalten und ihm später der Einwand der verspäteten Klageerhebung entgegen gehalten wurde (EuGH-Urteil Danske Slagterier in Slg. 2009, I-2119 Rdnr. 54). Eine derartige Fallgestaltung ist im Streitfall nicht gegeben, da die Klägerin nicht daran gehindert war, innerhalb der allgemeinen Fristen ihre Umsatzsteuerfestsetzungen anzufechten (vgl. BFH-Entscheidungen vom 23. November 2006 V R 67/05, BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; vom 23. November 2006 V R 51/05, BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433; vom 9. Oktober 2008 V R 45/06, BFH/NV 2009, 39; BFH-Urteile in BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399; vom 15. September 2004 I R 83/04, BFH/NV 2005, 229).

27
4. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist nach dem Unionsrecht weder die Dauer der Einspruchsfrist zu beanstanden, noch besteht eine Anlaufhemmung bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie Kenntnis von der EuGH-Entscheidung Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 erlangt hat. Das FA war auch nicht verpflichtet, ihr die Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist zu gewähren.

28
a) Die Dauer der Einspruchsfrist nach § 355 AO verstößt weder gegen die unionsrechtlichen Vorgaben des Äquivalenz- noch des Effektivitätsprinzips, da nach dem EuGH-Urteil vom 19. September 2006 C-392/04 und C-422/04, I-21 Germany und Arcor (Slg. 2006, I-8559 Rdnrn. 59, 60 und 62) eine einmonatige Frist zur Einlegung eines Rechtsbehelfs angemessen ist. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat auf sein Urteil in BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436.

29
b) Die Einspruchsfrist beginnt ‑‑trotz der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG in nationales Recht‑‑ mit Bekanntgabe des Steuerbescheids und nicht erst zu dem Zeitpunkt, in dem die Klägerin Kenntnis von der EuGH-Entscheidung Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 erlangen konnte.

30
Das Unionsrecht verlangt auf Grundlage der aus Art. 10 Abs. 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EG) abgeleiteten Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz (zum Grundsatz der Zusammenarbeit vgl. EuGH-Urteil vom 8. September 2010 C-409/06, Winner Wetten, juris, unter Rdnrn. 55, 58) nur, dass die Mitgliedstaaten die verfahrensrechtlichen Fristen, die zur Durchsetzung des Unionsrechts einzuhalten sind, nicht ungünstiger ausgestalten als in den nur das innerstaatliche Recht betreffenden Verfahren. Weiter darf es nicht praktisch unmöglich sein, eine auf das Unionsrecht gestützte Rechtsposition geltend zu machen. Danach sind Verwaltungsakte, die nach Ablauf einer angemessenen Frist nicht mehr anfechtbar sind, selbst wenn sie gegen das Unionsrecht verstoßen, für die Beteiligten bindend (vgl. EuGH-Entscheidungen vom 13. Januar 2004 C-453/00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837, unter Rdnr. 24; I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnr. 51).

31
Die Klägerin beansprucht demgegenüber für sich eine Besserstellung gegenüber den Steuerpflichtigen, die sich auf eine Rechtsposition des innerstaatlichen Rechts berufen können, diese aber nicht kennen und sich nach Ablauf der Einspruchsfrist in § 355 Abs. 1 AO die formelle Bestandskraft der Steuerfestsetzung entgegenhalten lassen müssen.

32
Die von der Klägerin für maßgeblich gehaltenen Umstände, dass die Richtlinie 77/388/EWG sich an die Mitgliedstaaten und nicht unmittelbar an den Bürger als Adressaten wende und es bis zum EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 nicht vorhersehbar gewesen sei, dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbar Anwendung finden könne, rechtfertigt entgegen ihrer Auffassung nicht den Schluss, dass es "praktisch unmöglich" war, diese Rechtsposition im Rahmen der "normalen" Einspruchsfrist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO durchzusetzen. Denn es kommt nicht darauf an, ob eine nach Erlass eines Bescheids eintretende günstige Rechtsentwicklung auf einer günstigen Richtlinienauslegung durch den EuGH oder auf einer anderen Grundlage beruht. Ein Steuerpflichtiger, der mit Rücksicht auf die herrschende Rechtsauffassung zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses von einer Klage abgesehen und es unterlassen hat, die Gerichte selbst von einem Verstoß der Steuerfestsetzung gegen das Unionsrecht zu überzeugen, nimmt den Eintritt der Bestandskraft ‑‑auch für den Fall eines späteren Rechtsprechungswandels‑‑ bewusst in Kauf (vgl. bereits Senatsurteil vom 29. Mai 2008 V R 45/06, BFH/NV 2008, 1889, unter II.3.b; s. auch weiter unten bei II.5.c bb). Die Rechtsverfolgung innerhalb der allgemeinen gesetzlichen Fristen ist daher auch bei Fragen des Unionsrechts möglich und zumutbar (BFH-Urteil in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433, unter II.3.).

33
c) Das FG hat weiter zutreffend entschieden, dass der Klägerin keine Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist gemäß § 110 AO zu gewähren war.

34
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass im Zeitpunkt des Einspruchs mit Schreiben unter dem 13. April 2005, den das FG zugleich als Antrag auf Wiedereinsetzung gemäß § 110 Abs. 1 AO behandelte, mehr als ein Jahr seit dem Ende der versäumten Einspruchsfrist verstrichen war. Das FG hat eine Wiedereinsetzung ‑‑sowohl auf Antrag der Klägerin als auch von Amts wegen‑‑ daher zutreffend bereits im Hinblick auf die gemäß § 110 Abs. 3 AO einzuhaltende Jahresfrist verneint.

35
Der Auffassung der Klägerin, die Jahresfrist sei unbeachtlich, da sie bis zum EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 weder habe wissen können noch müssen, dass die Steuerbefreiung gemäß Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbar zu ihren Gunsten anwendbar sei, schließt sich der Senat nicht an. Die Klägerin kann sich insoweit nicht auf das BFH-Urteil vom 8. Februar 2001 VII R 59/99 (BFHE 194, 466, BStBl II 2001, 506) berufen. Diese Entscheidung betraf die Wiedereinsetzung in die prozessuale Antragsfrist gemäß § 68 FGO a.F. Für den Streitfall, in dem es die Klägerin von vornherein unterlassen hat, Rechtsbehelfe gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen einzulegen, lässt sich hieraus nichts ableiten.

36
Die Klägerin beansprucht vielmehr (vgl. bereits oben unter II.4.b) eine verfahrensrechtliche Besserstellung gegenüber den sich aus dem nationalen Recht ergebenden Rechten, um die auf der Richtlinie 77/388/EWG beruhende Steuerbefreiung durchzusetzen. Das Unionsrecht gebietet es jedoch nicht, die Klägerin verfahrensrechtlich besserzustellen (vgl. oben II.4.a zur Einspruchsfrist und die Senatsentscheidung in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433, unter II.3.; EuGH-Urteil Asturcom Telecomunicationes SL in Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnr. 37).

37
5. Die Klägerin kann auch keine Änderung der bestandskräftigen Umsatzsteuerfestsetzungen beanspruchen.

38
a) Es ist unionsrechtlich grundsätzlich nicht erforderlich, eine Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder nach Erschöpfen des Rechtswegs bestandskräftig geworden ist oder durch ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil bestätigt wurde (ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. Urteile Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837, unter Rdnr. 24; I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnr. 51).

39
b) Zu beachten ist allerdings, dass die für den Erlass einer Verwaltungsentscheidung zuständige Behörde nach dem (für die Streitjahre noch) in Art. 10 EG verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet sein kann, ihre Entscheidung zu überprüfen und zurückzunehmen (EuGH-Urteile Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837, unter Rdnr. 28; vom 16. März 2006 C-234/04, Kapferer, Slg. 2006, I-2585, unter Rdnr. 23; I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnr. 52; vom 12. Februar 2008 C-2/06, Kempter, Slg. 2008, I-411, unter Rdnrn. 37 bis 39; vom 3. September 2009 C-2/08, Olimpiclub, Slg. 2009, I-7501, EuZW 2009, 739, unter Rdnrn. 23 ff.; Asturcom Telecomunicationes SL in Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnr. 37).

40
Für diesen Überprüfungs- und Aufhebungsanspruch müssen nach der Rechtsprechung des EuGH vier "Voraussetzungen" vorliegen:

41
- Erstens muss die Behörde nach nationalem Recht befugt sein, die bestandskräftige Entscheidung zurückzunehmen.

- Zweitens muss die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts gegenüber dem die Änderung begehrenden Steuerpflichtigen bestandskräftig geworden sein.

- Drittens muss das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des EuGH zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruhen, die erfolgt ist, ohne dass der EuGH um Vorabentscheidung ersucht worden ist, obwohl die Voraussetzungen einer Vorlage gemäß Art. 234 Abs. 3 EG (nunmehr Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ‑‑AEUV‑‑) erfüllt waren.

- Viertens muss der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des EuGH erlangt habe, an die Verwaltungsbehörde gewandt haben.

42
c) Bereits die erste Voraussetzung, nach der eine nationale Behörde zur Aufhebung oder Änderung eines rechtswidrigen bestandskräftigen Steuerbescheids "befugt" sein muss, ist im Streitfall nicht erfüllt.

43
aa) Steuerbescheide i.S. des § 155 AO können bei nachträglich erkannter Unionsrechtswidrigkeit ‑‑wie auch bei einem nachträglich erkannten Verstoß gegen innerstaatliches Recht‑‑ auf Grundlage der "Kühne & Heitz-Grundsätze" und den §§ 172 ff. AO nicht geändert werden, da es im steuerrechtlichen Verfahrensrecht an der hierzu erforderlichen Befugnis fehlt (vgl. BFH-Urteile in BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; vom 23. November 2006 V R 28/05, BFH/NV 2007, 872; in BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399; vom 8. Juli 2009 XI R 41/08, BFH/NV 2010, 1; zustimmend Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 130 Rz 32 f. und § 172 Rz 4 a; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO vor §§ 172 bis 177 Rz 41.1; de Weerth, Der Betrieb ‑‑DB‑‑ 2009, 2677; Tehler in Festschrift für Reiss 2008, 81, 94; Leonard/Sczcekalla, Umsatzsteuer-Rundschau ‑‑UR‑‑ 2005, 420, 426 ff.; Birk/Jahndorf, UR 2005, 198, 199 f.; Gosch, DStR 2005, 413 ff., DStR 2004, 1988, 1991).

44
Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH (Urteile Kapferer in Slg. 2006, I-2585, unter Rdnrn. 22 und 23; Asturcom Telecomunicationes SL in Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnrn. 37 f.), der der Senat folgt, setzt der auf den "Kühne & Heitz-Grundsätzen" beruhende Anspruch auf Überprüfung oder Änderung rechtskräftiger Entscheidungen voraus, dass das nationale Verfahrensrecht hierfür eine Rechtsgrundlage vorsieht und insoweit das Äquivalenz- sowie das Effektivitätsprinzip beachtet werden. Hiermit stellt der EuGH klar, dass das Unionsrecht weder verlangt, im nationalen Verfahrensrecht einen entsprechenden Überprüfungs- oder Änderungsanspruch für bestandskräftige unionsrechtswidrige Verwaltungsakte vorzusehen, noch, dass aus dem Unionsrecht ein eigenständiger (vom nationalen Recht losgelöster) Überprüfungs- und Änderungsanspruch abgeleitet werden kann (unzutreffend daher Jahndorf/Oellerich, DB 2008, 2559, 2563; Meilicke, DStR 2007, 1892, 1893; ders., Betriebs-Berater ‑‑BB‑‑ 2004, 1087; Schacht/Steffens, BB 2008, 1254, 1257).

45
bb) Die fehlende Änderungsmöglichkeit für bestandskräftige unionsrechtswidrige Steuerbescheide in den §§ 172 ff. AO verstößt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht gegen den unionsrechtlichen Äquivalenzgrundsatz.

46
Im Streitfall kann offen bleiben, ob auf Grundlage der "Kühne & Heitz-Grundsätze" im Rahmen des § 130 Abs. 1 AO bei unionsrechtswidrigen Steuerverwaltungsakten (§ 118 AO) eine Ermessensreduzierung eintreten und ein Überprüfungs- oder Änderungsanspruch bei bestandskräftigen Steuerverwaltungsakten bestehen kann (so Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 130 AO Rz 22 ff.; Jahndorf/Oellerich, DB 2008, 2559, 2564). Selbst wenn dies zutreffen sollte, verletzt die abweichende Rechtslage bei Steuerbescheiden (vgl. § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d AO) nicht das Äquivalenzprinzip. Der nach nationalem Recht bestehende Dualismus der abgabenrechtlichen Korrekturvorschriften mit voneinander unabhängigen Regelungssystemen ‑‑§§ 130, 131 AO einerseits und §§ 172 ff. AO andererseits‑‑ ist ein Grundprinzip des steuerrechtlichen Verfahrensrechts (vgl. Wernsmann in HHSp, vor §§ 130 bis 133 AO Rz 43, 114 ff.; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Vorbemerkungen zu §§ 172 bis 177 AO Rz 6; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO vor §§ 130 bis 133 AO Rz 8; Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 172 Rz 1; Pahlke/Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., vor §§ 172 bis 177 Rz 5). Dem Äquivalenzprinzip wird genügt, wenn innerhalb der verfahrensrechtlich jeweils eigenständigen Änderungsregelungen für rechtswidrige bestandskräftige Steuerverwaltungsakte einerseits und für Steuerbescheide andererseits dieselben Änderungsmöglichkeiten zur Durchsetzung der sich aus dem nationalem Recht und dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche bestehen (vgl. z.B. EuGH-Urteil Asturcom Telecomunicationes SL, Slg. 2009, I-9579, EWS 2009, 475, EuZW 2009, 852, unter Rdnrn. 49 f.). Dies ist vorliegend der Fall, da Verstöße gegen innerstaatliches Recht und das Unionsrecht innerhalb der beiden Änderungssysteme jeweils gleich behandelt werden.

47
cc) Ferner verstößt die fehlende nachträgliche Änderungsmöglichkeit für unionsrechtswidrige Steuerbescheide nicht gegen das Effektivitätsprinzip.

48
Der Grundsatz der Effektivität ist entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin nicht verletzt, wenn der Steuerpflichtige eine Steuerfestsetzung des FA bestandskräftig werden lässt, weil eine künftige Rechtsprechungsänderung des EuGH oder BFH zu seinen Gunsten nicht absehbar ist (Senatsurteil in BFH/NV 2008, 1889, unter II.1.d). Denn durch das Rechtsinstitut der Bestandskraft bezweckt der Gesetzgeber den Eintritt der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens. Dieser Zweck würde vereitelt, wenn die Bestandskraft nachträglich durchbrochen werden könnte und dies von der regelmäßig schwierig zu beurteilenden Vorhersehbarkeit einer Rechtsprechungsänderung des EuGH oder des BFH abhängig gemacht würde. Es ist ‑‑wie bereits unter II.4.b erläutert‑‑ Sache des Steuerpflichtigen, unter Übernahme des Kostenrisikos seine Chance zur Herbeiführung der Korrektur einer entgegenstehenden Rechtsprechung zu wahren, indem er Rechtsmittel einlegt (Senatsurteil in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433). Sieht der Steuerpflichtige hiervon ab, nimmt er den Eintritt der Bestandskraft auch für den Fall einer späteren Rechtsprechungsänderung bewusst in Kauf.

49
Dass nach den von der Klägerin angeführten zivilrechtlichen Entscheidungen eine Haftung von Steuerberatern bis zum EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94 mangels Verschuldens nicht in Betracht kommen kann, wenn diese auf die Steuerfreiheit der Umsätze nicht hingewiesen hatten, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Der Effektivitätsgrundsatz garantiert ‑‑anders als die Klägerin meint‑‑ nur eine gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeit in angemessener Frist. Er betrifft das Verfahren, nicht aber die Frage, ob es in der Sache schwierig ist, eine günstige Rechtsentwicklung vorherzusehen und durchzusetzen. Der EuGH hat die deutschen Einspruchs- und Klagefristen und damit die nationalen verfahrensrechtlichen Regelungen zur Durchsetzung des Unionsrechts nicht beanstandet (EuGH-Urteil I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnrn. 58 bis 60; vgl. auch unter II.4.a und b).

50
dd) Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 4. September 2008 2 BvR 1321/07 (Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst 2009, 60) ergibt sich ebenfalls nichts anderes. Zwar hat das BVerfG dort ausgeführt, der EuGH habe die Fragen zur Durchbrechung der Bestandskraft unionsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte der Mitgliedstaaten noch nicht erschöpfend beantwortet und es sei unklar, welche Bedeutung der vom EuGH in der "Kühne und Heitz-Entscheidung" aufgestellten Voraussetzung zukomme, die Behörde müsse nach nationalem Recht befugt sein, die Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen. Die vom BVerfG hierzu zitierten Schrifttumsauffassungen beziehen sich aber zu Recht ausschließlich auf die ‑‑für Steuerbescheide nicht maßgeblichen‑‑ §§ 48 Abs. 1 Satz 1, 51 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG), die für rechtswidrige unanfechtbare Verwaltungsakte im allgemeinen Verwaltungsrecht wie in § 130 Abs. 1 AO ‑‑anders als die §§ 172 ff. AO‑‑ unter bestimmten Voraussetzungen eine ermessensgebundene Überprüfungs- und Änderungspflicht vorsehen (vgl. im Hinblick auf unionsrechtswidrige Verwaltungsakte zu den §§ 48, 51 VwVfG BVerwG-Urteile vom 22. Oktober 2009 1 C 26/08, Deutsches Verwaltungsblatt ‑‑DVBl‑‑ 2010, 261; vom 17. Januar 2007 6 C 32/06, NVwZ 2007, 709).

51
d) Die zweite Voraussetzung der "Kühne & Heitz-Rechtsprechung" liegt ebenfalls nicht vor. Die Klägerin hat ‑‑wie sie selbst einräumt‑‑ gegen die bestandskräftigen Umsatzsteuerfestsetzungen nicht die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe (vgl. EuGH-Urteil I-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, unter Rdnrn. 53 f.) ausgeschöpft (vgl. zu diesem Erfordernis BFH-Urteil in BFH/NV 2005, 229; Kanitz/Wendel, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2008, 231, 232; Ludwigs, DVBl 2008, 1164, 1170; Müller/Seer, Internationale Wirtschaftsbriefe Fach 11, Gruppe 2, 865, 875; Rennert, DVBl 2007, 400, 408; Ruffert, Juristenzeitung 2007, 407, 409). Die Gegenauffassung von Meilicke (DStR 2007, 1892, 1893; ders., BB 2004, 1087 ff., und Schacht/Steffens, BB 2008, 1254, 1255), nach der die Rechtslage hinsichtlich dieser Voraussetzung nicht abschließend geklärt sein soll, vermag nicht zu begründen, warum und in welcher Hinsicht nach den Ausführungen des EuGH im Urteil I-21 Germany & Arcor in Slg. 2006, I-8559 noch Klärungsbedarf besteht.

52
Der EuGH hat auch nicht, wie die Klägerin behauptet, im Urteil Danske Slagterier in Slg. 2009, I-2119 von dieser Voraussetzung Abstand genommen, sondern dort lediglich im Bezug auf den unionsrechtlichen Entschädigungs- und Staatshaftungsanspruch entschieden, es sei nicht in jedem Fall zwingend erforderlich, dass der Geschädigte zuvor im Wege des Primärrechtsschutzes gegen das zum Schaden führende legislative oder judikative Unrecht vorgehe (vgl. auch EuGH-Urteil vom 26. Januar 2010 C-118/08, Transportes Urbanos y Servicios Generales, BFH/NV Beilage 2010, 578, unter Rdnr. 48). Für die im "Kühne & Heitz-Urteil" definierten Korrekturvoraussetzungen bei rechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsakten folgt hieraus nichts.

53
6. Im Streitfall sind die von der Klägerin aufgeworfenen Vorlagefragen 6 und 7 zu den Voraussetzungen des unionsrechtlichen Entschädigungsanspruchs nicht entscheidungserheblich, da sie im vorliegenden Verfahren nur die Änderung der bestandskräftigen Steuerfestsetzungen, nicht aber auch einen Erlass der Steuer begehrt.

54
a) Das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, stellt nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH erwachsen. Es besteht ein Entschädigungs- oder Staatshaftungsanspruch, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts Steuern erhoben hat, oder ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht erhobenen Steuer und der Beträge, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind. Voraussetzung ist, dass die verletzte Rechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den Betroffenen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht (vgl. EuGH-Urteile vom 12. Dezember 2006 C-446/04, Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753; vom 13. März 2007 C-524/04, Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107, unter Rdnrn. 110, 111; vom 23. April 2008 C-201/05, Test Claimants in the CFC and Dividend Group Litigation, Slg. 2008, I-2875; in Transportes Urbanos y Servicios Generales in BFH/NV Beilage 2010, 578, unter Rdnrn. 29 ff.).

55
b) Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Entschädigungsanspruchs nur ein Erlass der Steuer gemäß § 227 AO in Betracht kommt (vgl. BFH-Entscheidungen vom 13. Januar 2005 V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460; in BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433; in BFH/NV 2008, 1889; vom 5. Juni 2009 V B 52/08, BFH/NV 2009, 1593). Mangels einer Unionsregelung über die Erstattung zu Unrecht erhobener inländischer Abgaben ist es Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, insoweit die Verfahrensmodalitäten zu regeln (vgl. das EuGH-Urteil Test Claimants in the FII Group Litigation in Slg. 2006, I-11753, unter Rdnr. 203).

56
7. Der Senat folgt im Übrigen nicht der Anregung der Klägerin, gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. Die von der Klägerin aufgeworfenen Fragen zu den Voraussetzungen, unter denen eine Korrektur bestandskräftiger Steuerbescheide auf Grundlage der "Kühne & Heitz-Rechtsprechung" des EuGH in Betracht kommt, sowie zu Beginn und Dauer der Einspruchs- und Wiedereinsetzungsfrist bei nicht zutreffender Umsetzung einer Richtlinienbestimmung sind ‑‑wie dargelegt‑‑ nach Auffassung des Senats bereits geklärt (vgl. unter II.5.). Unter diesen Umständen besteht für den Senat keine Vorlagepflicht (vgl. zu den Voraussetzungen EuGH-Urteile vom 6. Oktober 1982 Rs. 283/81, Cilfit u.a., Slg. 1982, 3415, unter Rdnr. 21; vom 6. Dezember 2005 C-461/03, Gaston Schul, Slg. 2005, I-10513; vom 15. September 2005 C-495/03, Intermodal Transports, Slg. 2005, I-8151).

57
8. Es kommt schließlich keine Aussetzung des Verfahrens und Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) an das BVerfG in Betracht. Die unter II.5. dargelegten möglicherweise unterschiedlichen Rechtsfolgen für die Aufheb- und Änderbarkeit von bestandskräftigen Steuerverwaltungsakten i.S. des § 118 AO und von Steuerbescheiden gemäß § 155 AO, wenn nachträglich deren Unionsrechtswidrigkeit festgestellt wird, führen wegen des Dualismus der Korrektursysteme in §§ 130 ff. AO und §§ 172 ff. AO nicht zu einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung i.S. des Art. 3 Abs. 1 GG.

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201010317/


Urteil vom 16. September 2010, V R 46/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.9.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO §172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO § 110, AO § 125 Abs 1vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 3432/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150052/

Urteil vom 16. September 2010, V R 48/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.9.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO § 110, AO § 125 Abs 1
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2784/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150053/

Urteil vom 16. September 2010, V R 49/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.9.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO § 110, AO § 125 Abs 1
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2659/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150054/

Urteil vom 16. September 2010, V R 51/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.09.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht - Keine Rechtswirkung eines an einen nach Verschmelzung nicht mehr existierenden Rechtsvorgänger gerichteten Verwaltungsaktes - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO § 110, AO § 125 Abs 1, UmwG § 17 Abs 2
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2174/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150051/

Urteil vom 16. September 2010, V R 52/09
Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.09.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Dualismus der Korrektursysteme
BFH V. Senat
AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO § 110, AO § 125 Abs 1
vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2447/07 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150055/

Beschluss vom 26. November 2010, V B 59/10
Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkannter fehlerhafter Richtlinienumsetzung
BFH V. Senat
AO § 110, AO § 155, AO § 172, AO § 355, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, EG Art 10, FGO § 115 Abs 2 Nr 1
vorgehend FG Köln, 11. Mai 2010, Az: 9 K 2741/09

Leitsätze
1. NV: Es ist geklärt, dass das Unionsrecht bei nachträglich erkannter fehlerhafter Umsetzung einer Richtlinie keine günstigere Behandlung des Steuerpflichtigen im Hinblick auf den Lauf und die Dauer der Einspruchsfrist (§§ 347 Abs. 1 Satz 1, 335 Abs. 1 Satz 1 AO) verlangt.

2. NV: Es ist geklärt, dass nach den Vorgaben des Unionsrechts ein bestandkräftiger Steuerbescheid bei einer erst nachträglich erkannten fehlerhaften Richtlinienumsetzung nicht unter günstigeren Bedingungen als bei einer Verletzung innerstaatlichen Rechts änderbar sein muss. Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche abschließend.

Gründe

1
Die Beschwerde ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).

2
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen. Die von den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) aufgeworfenen Rechtsfragen zur Auslegung des Unionsrechts sind bereits geklärt.

3
a) Eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung kommt in Betracht, wenn Auslegungszweifel in Bezug auf das anzuwendende Unionsrecht vorhanden sind und im Revisionsverfahren voraussichtlich eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union einzuholen wäre (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 9. November 2007 IV B 169/06, BFH/NV 2008, 390).

4
b) Die Kläger benennen in den Schriftsätzen zur Beschwerdebegründung vom 26. August 2010 und 27. September 2010 die folgenden ‑‑ihrer Ansicht nach auslegungsbedürftigen‑‑ Rechtsfragen.

5
aa) Sie halten das Unionsrecht hinsichtlich der Frage für auslegungsbedürftig, ob dem sog. Emmott-Urteil des EuGH vom 25. Juli 1991 C-208/90, Emmott (Slg. 1991, I-4269) der Rechtsgrundsatz zu entnehmen sei, dass jemand seine durch das Unionsrecht eingeräumten Rechte nur geltend machen könne, wenn er in der Lage sei, sich von diesen in ausreichender Weise Kenntnis zu verschaffen und ob dies erfordere, dass die Einspruchsfrist (§§ 347 Abs. 1 Satz 1, 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung ‑‑AO‑‑) bei einer fehlerhaften Umsetzung der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG durch den Gesetzgeber einer Anlaufhemmung unterliegen müsse, bis der Steuerpflichtige durch ein EuGH-Urteil Kenntnis vom Umsetzungsverstoß erlangen könne.

6
bb) Gestützt auf Ausführungen im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. September 2008 2 BvR 1321/07 (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2009, 60) halten die Kläger es außerdem für unionsrechtlich klärungsbedürftig, ob es bei einer nachträglich erkannten fehlerhaften Richtlinienumsetzung ‑‑wie in der bisherigen Rechtsprechung des BFH angenommen (vgl. Entscheidungen vom 23. November 2006 V R 67/05, BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; vom 29. Mai 2008 V R 45/06, BFH/NV 2008, 1889; vom 15. Juni 2009 I B 230/08, BFH/NV 2009, 1779)‑‑ unter Anwendung der sog. "Kühne und Heitz-Rechtsprechung" des EuGH (Urteil vom 13. Januar 2004 C-453/00, Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837) mit dem Unionsrecht vereinbar sei, dass ein bestandskräftiger und der Festsetzungsverjährung unterliegender Steuerbescheid nur geändert werden könne, wenn das deutsche Verfahrensrecht hierfür eine Korrekturvorschrift enthalte und ob ein unionsrechtlicher Änderungsanspruch stets verlange, dass der Steuerpflichtige zuvor erfolglos den Rechtsweg gegen die bestandskräftig gewordene Steuerfestsetzung bis zum Ende beschritten habe.

7
cc) Der EuGH müsse schließlich darüber befinden, ob die Regelung in § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d AO, der eine Änderung rechtswidriger bestandskräftiger Steuerbescheide nach § 130 AO ausschließe, den Vorgaben des unionsrechtlichen Effektivitätsprinzips zuwiderlaufe.

8
c) Die aufgeworfenen Auslegungsfragen sind jedoch geklärt. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat auf sein Urteil vom 16. September 2010 V R 57/09, BFHE 230, 504; (vgl. auch BFH-Entscheidungen vom 9. Juni 2010 X B 41/10, BFH/NV 2010, 1783, und vom 8. Juli 2009 XI R 41/08, BFH/NV 2010, 1).

9
2. Eine Zulassung der Revision zur Vermeidung einer drohenden "nachträglichen Divergenz" (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 31. Oktober 2002 IV B 126/01, BFH/NV 2003, 291; Senatsbeschluss vom 26. Juni 2009 V B 34/08, BFH/NV 2009, 2011) kommt nicht in Betracht. Der Senat hat die von den Klägern angeführten ‑‑bei Beschwerdeeinlegung noch anhängigen‑‑ Verfahren mittlerweile entschieden. Damit stimmen die tragenden Rechtssätze des angefochtenen Urteils des Finanzgerichts überein.

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150010/           

Urteil vom 01. Dezember 2010, XI R 39/09
Keine Durchbrechung der Bestandskraft eines Steuerbescheids bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht
BFH XI. Senat
UStG § 4 Nr 9 Buchst b, UStG § 4 Nr 9 Buchst b, UStG § 4 Nr 9 Buchst b, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 125 Abs 1, AO § 155, AO § 172, AO § 355 Abs 1 S 1, EG Art 10
vorgehend FG Münster, 16. September 2009, Az: 5 K 327/09 U
Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150043/

Beschluss vom 03. Dezember 2010, V B 29/10
Korrektur bestandskräftiger Steuerbescheide bei nachträglich erkannter fehlerhafter Richtlinienumsetzung - Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung bei voraussichtlichem Vorabentscheidungsersuchen - Rechtsfortbildungsrevision als Spezialtatbestand der Grundsatzrevision
BFH V. Senat
AO § 347 Abs 1 S 1, AO § 355 Abs 1 S 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AEUV Art 267, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 1, EG Art 10
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 03. März 2010, Az: 16 K 230/09

Leitsätze

1. NV: Es ist geklärt, dass das Unionsrecht bei nachträglich erkannter fehlerhafter Umsetzung einer Richtlinie keine günstigere Behandlung des Steuerpflichtigen im Hinblick auf den Lauf und die Dauer der Einspruchsfrist (§§ 347 Abs. 1 Satz 1, 355 Abs. 1 Satz 1 AO) verlangt.

2. NV: Es ist geklärt, dass nach den Vorgaben des Unionsrechts ein bestandskräftiger Steuerbescheid bei einer erst nachträglich erkannten fehlerhaften Richtlinienumsetzung nicht unter günstigeren Bedingungen als bei einer Verletzung innerstaatlichen Rechts änderbar sein muss. Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche abschließend.

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150082/


Beschluss vom 28. Dezember 2010, XI B 33/10
Besteuerung der Umsätze aus Geldspielgeräten 

BFH XI. Senat

FGO § 115 Abs 2 Nr 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, UStG § 4 Nr 9 Buchst b
vorgehend FG Köln, 25. Februar 2010, Az: 2 K 1226/07 

Leitsätze

NV: Es ist unionsrechtlich grundsätzlich nicht erforderlich, eine auf der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG in nationales Recht beruhende Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder nach Erschöpfung des Rechtswegs bestandkräftig geworden ist oder durch ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil bestätigt wurde (Rechtsprechung) .

Gründe

1
Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) ist jedenfalls unbegründet. Die Revision ist nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. 

2
a) Wird die Beschwerde ‑‑wie im Streitfall‑‑ mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache begründet, so muss in der Beschwerdebegründung eine bestimmte ‑‑abstrakte‑‑ klärungsbedürftige und in dem angestrebten Revisionsverfahren auch klärbare Rechtsfrage herausgestellt und ‑‑unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur‑‑ deren Bedeutung für die Allgemeinheit substantiiert dargetan werden (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 116 Rz 26, 32, m.w.N.). Im allgemeinen besteht kein Klärungsbedarf mehr, wenn eine Rechtsfrage bereits vom Bundesfinanzhof (BFH) geklärt worden ist (Beschlüsse vom 10. Januar 2003 XI B 80/00, BFH/NV 2003, 898, und vom 27. Mai 2005 III B 197/04, BFH/NV 2005, 1486). Nach § 116 Abs. 3 FGO müssen die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision dargelegt werden. 

3
b) Es kann dahinstehen, ob die Beschwerdebegründung den Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung genügt. Die aufgeworfene Rechtsfrage ist jedenfalls durch das BFH-Urteil vom 16. September 2010 V R 57/09, Deutsches Steuerrecht ‑‑DStR‑‑ 2010, 2400) geklärt. 

4
aa) Danach beginnt die Einspruchsfrist ‑‑trotz der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG) in nationales Recht‑‑ mit Bekanntgabe des Steuerbescheids. Auch war insoweit keine Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist gemäß § 110 der Abgabenordnung zu gewähren. 

5
bb) Es ist ferner geklärt, dass es unionsrechtlich grundsätzlich nicht erforderlich ist, eine auf der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG in nationales Recht beruhende Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder nach Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftig geworden ist oder durch ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil bestätigt wurde. Aus dem vom Kläger angeführten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. September 2008 2 BvR 1321/07 (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2009, 60) ergibt sich nichts anderes (vgl. BFH-Urteil in DStR 2010, 2400, unter II.5.c dd).

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150105/

  

Dadurch sind die vielen Entscheidungen deutscher Gerichte nicht mehr haltbar

 

Urteil vom 16. September 2010, V R 46/09

Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.9.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat - Dualismus der Korrektursysteme

BFH V. Senat

AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO §172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO § 110, AO § 125 Abs 1

vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 3432/07 U

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150052/

 

Urteil vom 16. September 2010, V R 48/09

Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.9.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat - Dualismus der Korrektursysteme

BFH V. Senat

AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO § 110, AO § 125 Abs 1

vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2784/07 U

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150053/

 

Urteil vom 16. September 2010, V R 49/09

Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.9.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat - Dualismus der Korrektursysteme

BFH V. Senat

AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO § 110, AO § 125 Abs 1

vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2659/07 U

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150054/

 

Urteil vom 16. September 2010, V R 51/09

Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.09.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht - Keine Rechtswirkung eines an einen nach Verschmelzung nicht mehr existierenden Rechtsvorgänger gerichteten Verwaltungsaktes - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat - Dualismus der Korrektursysteme

BFH V. Senat

AO § 130, AO § 355, EG Art 10, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, AO § 227, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO § 110, AO § 125 Abs 1, UmwG § 17 Abs 2

vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2174/07 U

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150051/

 

Urteil vom 16. September 2010, V R 52/09

Im Wesentlichen inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 16.09.2010 V R 57/09 - Keine Durchbrechung der Bestandskraft bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht - Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - Dauer der Einspruchsfrist verstößt nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben - Dualismus der Korrektursysteme

BFH V. Senat

AO § 130, AO § 355, EG Art 10 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 155, GG Art 3 Abs 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AO §§ 130ff, AO § 118, AO § 110, AO § 125 Abs 1

vorgehend FG Münster, 12. August 2009, Az: 5 K 2447/07 U

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150055/

 

Urteil vom 01. Dezember 2010, XI R 39/09

Keine Durchbrechung der Bestandskraft eines Steuerbescheids bei nachträglich erkanntem Verstoß gegen das Unionsrecht

BFH XI. Senat

UStG § 4 Nr 9 Buchst b, UStG § 4 Nr 9 Buchst b, UStG § 4 Nr 9 Buchst b, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, AO § 125 Abs 1, AO § 155, AO § 172, AO § 355 Abs 1 S 1, EG Art 10

vorgehend FG Münster, 16. September 2009, Az: 5 K 327/09 U

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150043/

 

Beschluss vom 03. Dezember 2010, V B 29/10

Korrektur bestandskräftiger Steuerbescheide bei nachträglich erkannter fehlerhafter Richtlinienumsetzung - Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung bei voraussichtlichem Vorabentscheidungsersuchen - Rechtsfortbildungsrevision als Spezialtatbestand der Grundsatzrevision

BFH V. Senat

AO § 347 Abs 1 S 1, AO § 355 Abs 1 S 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 1, AO § 172, AO §§ 172ff, AEUV Art 267, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 1, EG Art 10

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 03. März 2010, Az: 16 K 230/09

Leitsätze

1. NV: Es ist geklärt, dass das Unionsrecht bei nachträglich erkannter fehlerhafter Umsetzung einer Richtlinie keine günstigere Behandlung des Steuerpflichtigen im Hinblick auf den Lauf und die Dauer der Einspruchsfrist (§§ 347 Abs. 1 Satz 1, 355 Abs. 1 Satz 1 AO) verlangt.

2. NV: Es ist geklärt, dass nach den Vorgaben des Unionsrechts ein bestandskräftiger Steuerbescheid bei einer erst nachträglich erkannten fehlerhaften Richtlinienumsetzung nicht unter günstigeren Bedingungen als bei einer Verletzung innerstaatlichen Rechts änderbar sein muss. Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche abschließend.

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150082/

Beschluss vom 28. Dezember 2010, XI B 33/10
Besteuerung der Umsätze aus Geldspielgeräten

BFH XI. Senat

FGO § 115 Abs 2 Nr 1, EWGRL 388/77 Art 13 Teil B Buchst f, UStG § 4 Nr 9 Buchst b
vorgehend FG Köln, 25. Februar 2010, Az: 2 K 1226/07 

Leitsätze

NV: Es ist unionsrechtlich grundsätzlich nicht erforderlich, eine auf der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG in nationales Recht beruhende Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder nach Erschöpfung des Rechtswegs bestandkräftig geworden ist oder durch ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil bestätigt wurde (Rechtsprechung) .

Gründe

1
Die Beschwerde des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) ist jedenfalls unbegründet. Die Revision ist nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

2
a) Wird die Beschwerde ‑‑wie im Streitfall‑‑ mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache begründet, so muss in der Beschwerdebegründung eine bestimmte ‑‑abstrakte‑‑ klärungsbedürftige und in dem angestrebten Revisionsverfahren auch klärbare Rechtsfrage herausgestellt und ‑‑unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur‑‑ deren Bedeutung für die Allgemeinheit substantiiert dargetan werden (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 116 Rz 26, 32, m.w.N.). Im allgemeinen besteht kein Klärungsbedarf mehr, wenn eine Rechtsfrage bereits vom Bundesfinanzhof (BFH) geklärt worden ist (Beschlüsse vom 10. Januar 2003 XI B 80/00, BFH/NV 2003, 898, und vom 27. Mai 2005 III B 197/04, BFH/NV 2005, 1486). Nach § 116 Abs. 3 FGO müssen die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision dargelegt werden.

3
b) Es kann dahinstehen, ob die Beschwerdebegründung den Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung genügt. Die aufgeworfene Rechtsfrage ist jedenfalls durch das BFH-Urteil vom 16. September 2010 V R 57/09, Deutsches Steuerrecht ‑‑DStR‑‑ 2010, 2400) geklärt. 

4
aa) Danach beginnt die Einspruchsfrist ‑‑trotz der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG) in nationales Recht‑‑ mit Bekanntgabe des Steuerbescheids. Auch war insoweit keine Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist gemäß § 110 der Abgabenordnung zu gewähren. 

5
bb) Es ist ferner geklärt, dass es unionsrechtlich grundsätzlich nicht erforderlich ist, eine auf der fehlerhaften Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG in nationales Recht beruhende Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder nach Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftig geworden ist oder durch ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil bestätigt wurde. Aus dem vom Kläger angeführten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. September 2008 2 BvR 1321/07 (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2009, 60) ergibt sich nichts anderes (vgl. BFH-Urteil in DStR 2010, 2400, unter II.5.c dd).

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150105/

Beschluss vom 11. März 2011, V B 45/10
Darlegungserfordernisse bei schwerwiegendem Rechtsfehler - Erlass bestandskräftig festgesetzter Steuern 

BFH V. Senat

FGO § 115 Abs 2 Nr 2, FGO § 116 Abs 1, FGO § 116 Abs 3 S 3, AO § 162, AO § 227
vorgehend FG München, 08. Dezember 2009, Az: 3 K 1332/07

Leitsätze

1. NV: Die bloße Behauptung eines erheblichen Rechtsfehlers reicht nicht aus, um eine greifbare Gesetzeswidrigkeit oder eine Willkürlichkeit der angefochtenen Entscheidung darzulegen.

2. NV: Bestandskräftig festgesetzte Steuern sind nur dann im Billigkeitsverfahren zu erlassen, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich hiergegen in dem dafür vorgesehenen Festsetzungsverfahren zu wehren.

3. NV: Für die Feststellung einer offensichtlich und eindeutig unrichtigen Steuerfestsetzung kommt es auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung an.

4. NV: Im Rahmen eines Billigkeitserlasses nach § 227 AO entspricht es bei unanfechtbar gewordenen Steuerbescheiden der Entscheidung des Gesetzgebers, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit grundsätzlich den Vorrang haben soll vor dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall. 

Gründe

1
Die Beschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist unzulässig und durch Beschluss zu verwerfen (§ 116 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). 

2
Nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO ist die Beschwerde zuzulassen, wenn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfordert. Die Nichtzulassung kann mit der Beschwerde angefochten werden (§ 116 Abs. 1 FGO). In der Beschwerdebegründung müssen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO "dargelegt" werden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Dies setzt voraus, dass der Beschwerdeführer das Vorliegen eines der Zulassungsgründe substantiiert und schlüssig vorträgt. 

3
1. Die Revision ist nicht wegen eines schwerwiegenden Rechtsfehlers zuzulassen.

4
a) Eine Entscheidung des BFH ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich, wenn ein Rechtsfehler des Finanzgerichts (FG) zu einer "greifbar gesetzeswidrigen" Entscheidung geführt hat. Voraussetzung hierfür ist, dass die Entscheidung des FG derart fehlerhaft ist, dass das Vertrauen in die Rechtsprechung nur durch eine höchstrichterliche Korrektur der finanzgerichtlichen Entscheidung wiederhergestellt werden könnte (vgl. BFH-Beschluss vom 29. Mai 2008 V B 160/07, BFH/NV 2008, 1544, m.w.N.). Davon ist nach ständiger Rechtsprechung insbesondere dann auszugehen, wenn das FG eine offensichtlich einschlägige entscheidungserhebliche Vorschrift übersehen hat oder wenn das Urteil jeglicher gesetzlichen Grundlage entbehrt oder auf einer offensichtlich Wortlaut und Gesetzeszweck widersprechenden Gesetzesauslegung beruht (vgl. BFH-Beschlüsse vom 8. Februar 2006 III B 128/04, BFH/NV 2006, 1116; vom 7. Juli 2005 IX B 13/05, BFH/NV 2005, 2031; vom 28. Juli 2003 V B 72/02, BFH/NV 2003, 1597). Unterhalb dieser Grenze liegende erhebliche Rechtsfehler reichen indes nicht aus, um eine greifbare Gesetzwidrigkeit oder eine Willkürlichkeit der angefochtenen Entscheidung anzunehmen (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2005, 2031). 

5
b) Das Vorliegen eines derart schwerwiegenden (qualifizierten) Rechtsfehlers haben die Kläger nicht hinreichend dargelegt. 

6
aa) Das FG ist in seiner Entscheidung von der ständigen Rechtsprechung des BFH ausgegangen, wonach bestandskräftig festgesetzte Steuern nur dann im Billigkeitsverfahren zu erlassen sind, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich hiergegen in dem dafür vorgesehenen Festsetzungsverfahren zu wehren (vgl. zuletzt BFH-Beschluss vom 4. November 2009 VI B 60/08, BFH/NV 2010, 468, sowie BFH-Urteil vom 29. Mai 2008 V R 45/06, BFH/NV 2008, 1889). 

7
Ausgehend von dieser Rechtsprechung ist das FG zu dem rechtlich vertretbaren Ergebnis gelangt, dass diese Voraussetzungen nicht vorliegen, da die Steuerfestsetzungen weder offensichtlich und eindeutig falsch waren noch ersichtlich sei, dass es den Klägern unmöglich oder unzumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit der Steuerfestsetzungen rechtzeitig zu wehren. Soweit die Kläger dagegen vorbringen, die Rechtsbehelfsfristen seien nicht "schuldhaft" versäumt worden, wenden sie sich im Stile einer Revisionsbegründung lediglich gegen die vom FG vertretene Rechtsauffassung. Mit diesem Vorbringen können sie jedoch im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht gehört werden. 

8
bb) Ein qualifizierter Rechtsanwendungsfehler wird auch nicht mit der Behauptung eines Verstoßes gegen Schätzgrundsätze und dem Vorliegen einer Strafschätzung dargelegt.

9
Da Streitgegenstand des FG-Urteils nicht eine im Schätzungswege ergangene Steuerfestsetzung nach § 162 der Abgabenordnung (AO), sondern ein Billigkeitserlass bei bestandskräftiger Steuerfestsetzung nach § 227 AO ist, kam es u.a. darauf an, ob die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist. Dies hat das FG in vertretbarer Weise verneint, weil die Steuerfestsetzungen auf einer im Wesentlichen korrekten Schätzung durch die Umsatzsteuer-Sonderprüfung anhand eines "inneren Betriebsvergleichs" beruhten. Dabei hat das FG die höchstrichterliche Rechtsprechung beachtet, wonach es für die Feststellung einer offensichtlich und eindeutig unrichtigen Steuerfestsetzung auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung und nicht auf einen späteren Zeitpunkt ankommt (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2008, 1889). Ob die Steuerfestsetzung allein nach den mehrere Jahre später eingereichten Steuererklärungen als "Strafschätzung" erscheinen könnte, war daher schon nicht entscheidungserheblich. 

10
cc) Ein schwerwiegender Rechtsanwendungsfehler des FG ergibt sich auch nicht aus dem behaupteten Verstoß gegen ein bei Schätzungen zu beachtendes höchstrichterliches "Vernünftigkeits- und Verhältnismäßigkeitsgebot", wonach Fristenstrenge und überspannter Verschuldensbegriff nicht über der Rechtsrichtigkeit im Einzelfall stehen dürften. Im Rahmen eines Billigkeitserlasses nach § 227 AO entspricht es vielmehr der Entscheidung des Gesetzgebers, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit grundsätzlich den Vorrang haben soll vor dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall, wenn ein Steuerbescheid unanfechtbar geworden ist. Diese Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers ist bei der Auslegung des § 227 AO zu berücksichtigen (BFH-Urteil vom 13. Januar 2005 V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460, unter II.2.b cc). 

11
2. Die Revision kann auch nicht wegen der von den Klägern geltend gemachten Divergenz zugelassen werden.

12
a) Rügt der Beschwerdeführer eine Abweichung des angefochtenen FG-Urteils von Entscheidungen des BFH, so muss er tragende und abstrakte Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des FG einerseits und aus den behaupteten Divergenzentscheidungen des BFH andererseits herausarbeiten und einander gegenüberstellen, um so eine Abweichung zu verdeutlichen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 30. Mai 2005 X B 149/04, BFH/NV 2005, 1618; vom 12. Juli 2002 XI B 152/01, BFH/NV 2002, 1484). 

13
b) Soweit die Kläger zur Begründung einer Divergenz vortragen, das FG stütze seine Entscheidung auf den Rechtssatz, "dass es grundsätzlich im Wesen einer Schätzung nach § 162 Abs. 1 AO liege, dass die durch eine Schätzung ermittelten Größen von den tatsächlichen Verhältnissen mehr oder weniger abweichen", handelt es sich um keine tragende (divergenzbegründende) Urteilserwägung, sondern um ein obiter dictum (vgl. BFH-Beschluss vom 24. Juli 1997 VII B 140/97, BFH/NV 1998, 60). Ausweislich der Urteilsgründe auf Seite 9 unter b) hat das FG die Ablehnung eines Erlasses der streitigen Steuern aus sachlichen Billigkeitsgründen deshalb als ermessensfehlerfrei erachtet, weil die Umsatzsteuer- und Einkommensteuerbescheide 2001 weder offenkundig unrichtig noch die Kläger verhindert gewesen seien, gegen diese Bescheide mit dem Einspruch vorzugehen oder rechtzeitig den in ihren Steuererklärungen behaupteten tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Steuererklärungen abzugeben. 

14
c) Darüber hinaus haben die Kläger auch nicht dargelegt, dass der dem Urteil des FG entnommene Rechtssatz im Widerspruch zu dem Rechtssatz aus dem BFH-Urteil vom 29. Mai 2008 VI R 11/07 (BFHE 221, 182, BStBl II 2008, 933) und dem Urteil des FG München vom 26. März 2009 14 K 4667/06 steht, wonach die durch eine Schätzung gewonnenen Ergebnisse schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein müssten. Es liegt vielmehr auf der Hand, dass auch eine diese Grundsätze beachtende Schätzung bei Fehlen überprüfbarer Angaben mehr oder weniger von den tatsächlichen Verhältnissen abweichen kann.

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE201150259/

 

Obenstehende BFH Entscheidungen widersprechen dem Gemeinschaftsrecht!

Der EuGH hat mit dem o.a. Urteil Cabinet de avocat UR unter der Rz. 32 entschieden:      

"Eine solche Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft hätte nämlich zur Folge, dass in dem Fall, dass eine in Rechtskraft erwachsene gerichtliche Entscheidung auf einer falschen Auslegung der Unionsregeln auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer beruht, sich die unrichtige Anwendung dieser Regeln für jeden neuen Veranlagungszeitraum wiederholte, ohne dass diese fehlerhafte Auslegung korrigiert werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 30)."