Die Stuttgarter Zeitung berichtet über Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
Karlsruhe justiert Psychiatrie-Fälle neu
Verfassungsgericht zum Fall Mollath
Das Bundesverfassungsgericht hat die Unterbringung von Gustl Mollath in der forensischen Psychiatrie nachträglich für verfassungswidrig erklärt.
Die Richter urteilen dabei stets nur über Entscheidungen anderer Richter, die eine Entlassung der Untergebrachten abgelehnt hatten.
Richter fordern den Nachweis einer konkreten Gefahr
Mit ihren fünf Entscheidungen machen die Karlsruher Richter aber deutlich, wo die Grenzen für eine weitere Unterbringung liegen. Wichtig ist zunächst die rechtlich zulässige Höchststrafe, die ein Täter befürchten müsste, wenn er nicht in die Psychiatrie käme.
(Aktenzeichen: 2 BvR 371/12; 2 BvR 298/12; 2 BvR 2957/12;2 BvR 708/12
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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26.08.2013
- 2 BvR 371/12 -
Verfassungsbeschwerde im "Fall Mollath" erfolgreich
Fortdauer der Unterbringung nicht gerechtfertigt
Das Bundesverfassungsgerichts hat der Verfassungsbeschwerde von Gustl Ferdinand Mollath gegen Beschlüsse des Landgerichts Bayreuth und des Oberlandesgerichts Bamberg stattgegeben. Die in den Beschlüssen des Jahres 2011 aufgeführten Gründe genügen nicht, um die Fortdauer der Unterbringung zu rechtfertigen.
Die Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 20 Abs. 3 GG).
Entzug der persönlichen Freiheit muss hinreichend geprüft und begründet werden
Richter muss Würdigung eingehend abfassen und Bewertung substantiiert offenlegen
Entlastende Umstände für Beschwerdeführer finden keine erkennbare Berücksichtigung
Quelle
Nachträgliche Sicherungsverwahrung im Anschluss an psychiatrische Unterbringung nur unter engen Voraussetzungen
(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 06.02.2013[Aktenzeichen: 2 BvR 2122/11 und 2 BvR 2705/11])
BVerfG: Zeitlich befristete Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in so genanntem "Altfall" unzulässig
(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 15.09.2011[Aktenzeichen: 2 BvR 1516/11])
Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 56/2013 vom 5. September 2013
Beschluss vom 26. August 2013
2 BvR 371/12
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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde im „Fall Mollath“
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Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat der Verfassungsbeschwerde des Gustl Ferdinand Mollath gegen Beschlüsse des Landgerichts Bayreuth und des Oberlandesgerichts Bamberg stattgegeben. Die in den Beschlüssen des Jahres 2011 aufgeführten Gründe genügen nicht, um die Fortdauer der Unterbringung zu rechtfertigen. Die Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Bamberg zurückverwiesen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen die folgenden Erwägungen zugrunde:
1. Mit Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 8. August 2006 wurde der Beschwerdeführer von den Vorwürfen der gefährlichen Körperverletzung, der Freiheitsberaubung sowie der Sachbeschädigung freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Gemäß der Urteilsbegründung sah das Landgericht den objektiven Tatbestand der angeklagten Straftatbestände als erfüllt an. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer zu den Tatzeitpunkten aufgrund einer paranoiden Wahnsymptomatik schuldunfähig gewesen sei. Die Unterbringung des Beschwerdeführers sei aufgrund der Erwartung weiterer erheblicher rechtswidriger Taten geboten.
2. Mit Beschluss vom 9. Juni 2011 ordnete das Landgericht Bayreuth die Fortdauer der Unterbringung an, da nicht zu erwarten sei, dass der Beschwerdeführer außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Bamberg mit Beschluss vom 26. August 2011 als unbegründet.
3. Trotz zwischenzeitlicher Entlassung aus dem Maßregelvollzug hat der Beschwerdeführer ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an der nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung der angegriffenen Entscheidungen, denn diese waren Grundlage eines tiefgreifenden Eingriffs in sein Grundrecht auf Freiheit der Person.
a) Entscheidungen über den Entzug der persönlichen Freiheit müssen auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben. Insbesondere darf der Strafvollstreckungsrichter die Prognoseentscheidung nicht dem Sachverständigen überlassen, sondern hat diese selbst zu treffen. In einer Gesamtwürdigung sind die von dem Täter ausgehenden Gefahren ins Verhältnis zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs zu setzen. Dabei ist die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr hinreichend zu konkretisieren. Zu erwägen sind das frühere Verhalten des Untergebrachten und die von ihm bislang begangenen Taten. Abzuheben ist aber auch auf die seit der Anordnung der Maßregel veränderten Umstände, die für die künftige Entwicklung bestimmend sind. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es zudem, die Unterbringung nur solange zu vollstrecken, wie der Zweck der Maßregel dies unabweisbar erfordert und weniger belastende Maßnahmen nicht genügen.
Da es sich um eine wertende Entscheidung unter Prognosegesichtspunkten handelt, kann das Bundesverfassungsgericht sie nicht in allen Einzelheiten, sondern nur daraufhin nachprüfen, ob eine Abwägung überhaupt stattgefunden hat und ob die dabei zugrunde gelegten Bewertungsmaßstäbe der Verfassung entsprechen. Bei langdauernden Unterbringungen wirkt sich das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs auch auf die Anforderungen aus, die an die Begründung einer Entscheidung zu stellen sind. In diesen Fällen engt sich der Bewertungsrahmen des Strafvollstreckungsrichters ein; mit dem immer stärker werdenden Freiheitseingriff wächst die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Dem lässt sich dadurch Rechnung tragen, dass der Richter seine Würdigung eingehender abfasst, sich also nicht etwa mit knappen, allgemeinen
Wendungen begnügt, sondern seine Bewertung anhand der dargestellten einfachrechtlichen Kriterien substantiiert offenlegt. Erst dadurch wird es möglich, im Rahmen verfassungsgerichtlicher Kontrolle nachzuvollziehen, ob die von dem Täter ausgehende Gefahr seinen Freiheitsanspruch gleichsam aufzuwiegen vermag. Zu verlangen ist vor allem die Konkretisierung der Wahrscheinlichkeit weiterer rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen, und deren Deliktstypus.
b) Mit diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben sind die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Bayreuth vom 9. Juni 2011 sowie des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. August 2011 nicht zu vereinbaren. Die in den Beschlüssen aufgeführten Gründe genügen nicht, um die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers zu rechtfertigen.
aa) Es fehlt bereits an einer ausreichenden Konkretisierung der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefahr künftiger rechtswidriger Taten. Das Landgericht setzt sich insbesondere nicht damit auseinander, dass die Darlegungen des Sachverständigen zur Wahrscheinlichkeit künftiger rechtswidriger Taten im schriftlichen Gutachten vom 12. Februar 2011 und in der mündlichen Anhörung vom 9. Mai 2011 voneinander abweichen. Vor diesem Hintergrund durfte das Landgericht sich nicht auf eine bloße Bezugnahme auf die Ausführungen des Sachverständigen in der mündlichen Anhörung beschränken. Es hätte vielmehr unter Berücksichtigung weiterer Hinweise des Sachverständigen und sonstiger Umstände des vorliegenden Falles diese Einschätzungen gegeneinander abwägen und eine eigenständige Prognoseentscheidung treffen müssen. Im Rahmen einer solchen eigenständigen Bewertung hätte es darlegen müssen, welche Straftaten konkret von dem Beschwerdeführer zu erwarten sind, warum der Grad der Wahrscheinlichkeit derartiger Straftaten sehr hoch ist und auf welche Anknüpfungs- und Befundtatsachen sich diese Prognose gründet.
Nichts anderes gilt im Ergebnis für den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 26. August 2011. Dieser nimmt im Wesentlichen auf das schriftliche Sachverständigengutachten Bezug, aus dem sich gerade keine sehr hohe Wahrscheinlichkeit künftiger rechtswidriger Taten ergibt. Soweit das Oberlandesgericht ergänzend auf die Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses Bayreuth abstellt, rechtfertigt dies keine andere Einschätzung.
bb) Darüber hinaus finden den Beschwerdeführer entlastende Umstände im Rahmen der notwendigen Prognoseentscheidung keine erkennbare Berücksichtigung. Zudem wird in den angegriffenen Beschlüssen nicht ausreichend dargelegt, dass die von dem Beschwerdeführer ausgehende Gefahr das - angesichts der Dauer der Unterbringung - zunehmende Gewicht seines Freiheitsanspruchs aufzuwiegen vermag. Schließlich fehlt auch eine Befassung mit der Frage, ob dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit nicht durch den Beschwerdeführer weniger belastende Maßnahmen Rechnung hätte getragen werden können.
Quelle
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
Beschluss vom 26. August 2013 - 2 BvR 371/12 (Auszug)
13
Hinsichtlich der Diagnose einer wahnhaften Störung sei festzustellen, dass diese durchgehend in den Gutachten der Sachverständigen Dr. Leipziger (2005), Prof. Dr. Kröber (2008) und Prof. Dr. Pfäfflin (2011) wie auch durch das behandelnde Bezirkskrankenhaus Bayreuth gestellt worden sei. Die Gutachter seien dem Landgericht teilweise seit Jahren als kompetent, gewissenhaft und zuverlässig bekannt, so dass an deren Sachkunde keine Zweifel bestünden.
14
Ein durch den Beschwerdeführer über seinen Verteidiger vorgelegtes Privatgutachten des Gutachters Dr. Weinberger vom 29. April 2011 führe zu keiner anderen Bewertung der Sach- und Rechtslage. Das Gutachten lasse nahezu durchgängig die gebotene objektive Distanz zu Person und Schicksal des Beschwerdeführers vermissen. Es sei auch nicht geeignet, Zweifel an den Einschätzungen des Sachverständigen Prof. Dr. Pfäfflin zu wecken mit der Folge, dass es auch der Einholung eines „Obergutachtens“ nicht bedurft habe.
15
Der weitere Vollzug der Maßregel sei im Hinblick auf die Anlasstat der gefährlichen Körperverletzung (Würgen bis zur Bewusstlosigkeit) auch verhältnismäßig.
16
3. Die gegen diesen Beschluss gerichtete sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht Bamberg mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 26. August 2011 als unbegründet.
17
a) Das Landgericht Bayreuth habe zu Recht die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, da zum jetzigen Zeitpunkt nicht davon ausgegangen werden könne, dass dieser bei einer Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde.
30
1. a) Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Weder das Landgericht Bayreuth noch das Oberlandesgericht Bamberg hätten im Rahmen der angegriffenen Beschlüsse Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechts des Beschwerdeführers verkannt. Die Gerichte hätten - nach Einholung eines externen Sachverständigengutachtens - ausgeführt, dass derzeit die Wahrscheinlichkeit, dass es zu vergleichbaren Taten wie den Anlasstaten, insbesondere massiven Körperverletzungshandlungen, komme, sehr hoch sei. Es sei daher sowohl die Art der zu erwartenden Straftaten als auch der Grad der Wahrscheinlichkeit ihres erneuten Eintritts konkretisiert worden. Darüber hinaus hätten sich die Gerichte auch mit der gestellten Diagnose auseinandergesetzt und Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit der weiteren Unterbringung getätigt. Das eingeholte externe Sachverständigengutachten entspreche den Anforderungen, die an derartige Gutachten zu stellen seien, und die Gerichte seien ihrer richterlichen Kontrollpflicht nachgekommen, indem sie die maßgeblichen Wertungen des Gutachtens aufgrund eigener Wertungen hinterfragt hätten. Obwohl die Unterbringung des Beschwerdeführers im Jahr 2011 bereits fünf Jahre angedauert habe, könne ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht festgestellt werden, da die weiterhin zu erwartenden gefährlichen Körperverletzungshandlungen zu einer massiven Beeinträchtigung eines hochwertigen Rechtsgutes, nämlich der körperlichen Unversehrtheit, führten und der Beschwerdeführer nach wie vor keinerlei Zugang zu seiner eigenen Aggressivität gefunden habe.
II.
37
Die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Bayreuth vom 9. Juni 2011 und des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. August 2011 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, weil sie den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für die Anordnung der Fortdauer langandauernder Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus ergeben, nicht genügen.
38
1. a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann „die Freiheit der Person“ und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert (vgl. BVerfGE 35, 185 <190>; 109, 133 <157>; 128, 326 <372>).
39
Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen wichtigen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 22, 180 <219>; 45, 187 <223>; 58, 208 <224 f.="">); zugleich haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der Person bestimmen. Das gilt auch für die Regelung der Unterbringung eines schuldunfähigen oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters, von dem infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB (vgl. BVerfGE 70, 297 <307>).
Quelle: zum Beschluss vom 26. August 2013 - 2 BvR 371/12
307>224>223>219>372>157>190>