Donnerstag, 19. September 2013

BGH: PM Immaterieller Schadensersatz wegen nachträglich verlängerter Sicherungsverwahrung

Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle
____________________________________

Nr. 153/2013 vom 19.09.2013

Bundesgerichtshof: Immaterieller Schadensersatz wegen nachträglich verlängerter Sicherungsverwahrung

Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass das Land Baden-Württemberg vier Straftätern Schadensersatz wegen nachträglich verlängerter Sicherungsverwahrung zahlen muss.

Die Kläger waren zwischen 1977 und 1986 durch Urteile baden-württembergischer Landgerichte zu langjährigen Freiheitsstrafen (von fünf bis fünfzehn Jahren) verurteilt worden. Den Verurteilungen lagen jeweils schwere Straftaten zugrunde, insbesondere solche gegen die sexuelle Selbstbestimmung. In allen Fällen hatte das Gericht anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet. Diese wurde nach Verbüßung der Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Freiburg vollzogen.

Nach der im Zeitpunkt der Verurteilung der Kläger geltenden Fassung des § 67d Abs. 1, Abs. 3 StGB durfte die Dauer der erstmaligen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zehn Jahre nicht übersteigen; nach Ablauf dieser Höchstfrist war der Untergebrachte zu entlassen. Durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 160) wurde diese Regelung geändert. Die Höchstfrist von zehn Jahren entfiel; § 67d Abs. 3 StGB bestimmte nunmehr, dass nach Ablauf von zehn Jahren das Gericht die Sicherungsverwahrung für erledigt erklärt, "wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden". Diese Bestimmung galt auch für Altfälle, d.h. für Straftäter, die ihre Tat vor Verkündung und Inkrafttreten des Gesetzes begangen hatten und vor diesem Zeitpunkt verurteilt worden waren.

Aufgrund der Gesetzesänderung wurden die Kläger nicht nach Ablauf der Zehn-Jahresfrist aus der Sicherungsverwahrung entlassen. Vielmehr ordnete das Landgericht Freiburg (Strafvollstreckungskammer) - jeweils auf der Grundlage eingeholter Gutachten von Sachverständigen - in Abständen von zwei Jahren, zuletzt mit Beschlüssen im Dezember 2009 und August 2010 an, dass die Sicherungsverwahrung fortzudauern habe, da von den Klägern weiterhin ein Risiko ausgehe.

Auf die jeweiligen sofortigen Beschwerden der Kläger hob das Oberlandesgericht Karlsruhe im Juli, September bzw. Oktober 2010 die angefochtenen Entscheidungen auf und stellte die Erledigung der Sicherungsverwahrung fest. Die Kläger wurden jeweils noch am gleichen Tag aus der Sicherungsverwahrung entlassen. Das Oberlandesgericht stützte seine Entscheidungen maßgeblich auf das im Rahmen eines Individualbeschwerdeverfahrens eines anderen sicherungsverwahrten Straftäters ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) - V. Sektion - vom 17. Dezember 2009 (Beschwerde-Nr. 19359/04, NJW 2010, 2495 = EuGRZ 2010, 25), wonach die Änderung des § 67d Abs. 3 StGB mit Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht vereinbar sei. Diese Entscheidung ist seit dem 10. Mai 2010 endgültig, nachdem ein Ausschuss der Großen Kammer den Antrag der Bundesregierung auf Verweisung an die Große Kammer nach Art. 43 Abs. 2 EMRK abgelehnt hat (Art. 44 Abs. 2 Buchst. c EMRK).

Mit Urteil vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326) erklärte das Bundesverfassungsgericht die gesetzlichen Regelungen zur nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig.

Die Kläger haben das beklagte Land auf Ersatz ihres immateriellen Schadens für die auch nach Ablauf der Zehn-Jahresfrist weiter vollzogene Sicherungsverwahrung in Anspruch genommen. Das Landgericht hat den Klägern - unter Abweisung der weiter gehenden Klagen - entsprechend der jeweiligen Dauer der nachträglich verlängerten Sicherungsverwahrung Entschädigungen in Höhe zwischen 49.000 € und 73.000 € nach Art. 5 Abs. 5 EMRK zuerkannt. Die Berufung des beklagten Landes ist in allen Fällen erfolglos geblieben.

Der Bundesgerichtshof hat die Berufungsurteile bestätigt. Nach Maßgabe der in den Entscheidungen des EGMR vom 17. Dezember 2009 und des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 aufgestellten Rechtsgrundsätze mussten die Vorinstanzen davon ausgehen, dass die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung auch im Fall der Kläger rechtswidrig war und diesen ein Anspruch auf Schadensersatz zusteht. Denn Art. 5 Abs. 5 EMRK gewährt dem Betroffenen einen unmittelbaren Schadensersatzanspruch wegen rechtswidriger Freiheitsbeschränkungen durch die öffentliche Hand, der vom Verschulden der handelnden Amtsträger unabhängig ist und auch den Ersatz immateriellen Schadens umfasst. Deshalb spielte es keine Rolle, dass die mit der Verlängerung der Sicherungsverwahrung befassten Amtsträger keinerlei Schuldvorwurf trifft, da sie entsprechend dem klaren und eindeutigen Wortlaut der maßgeblichen Vorschriften des Strafgesetzbuchs und im Einklang mit der vormaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung - das Bundesverfassungsgericht hatte die Anwendung der streitgegenständlichen Regelungen mit Urteil vom 5. Februar 2004 in Übereinstimmung mit der fachgerichtlichen Rechtsprechung zunächst als rechtmäßig beurteilt - gehandelt haben.

Der Bundesgerichtshof ist der Argumentation des Beklagten nicht gefolgt, eine etwaige nach Art. 5 Abs. 5 EMRK zu leistende Entschädigung sei (nur) von der Bundesrepublik Deutschland, aber nicht vom Land Baden-Württemberg geschuldet, da die Strafgerichte des Landes aufgrund der objektiven, vom Bundesgesetzgeber durch das Gesetz vom 26. Januar 1998 geschaffenen Normenlage gar keine andere Wahl gehabt hätten, als die Fortsetzung der Sicherungsverwahrung auch nach Ablauf der früheren Höchstfrist anzuordnen. Denn im Rahmen der innerstaatlichen Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs nach Art. 5 Abs. 5 EMRK ist der Hoheitsträger verantwortlich, dessen Hoheitsgewalt bei der rechtswidrigen Freiheitsentziehung ausgeübt wurde. Der unmittelbare Eingriff in das Freiheitsrecht der Kläger ist hier jedoch durch die Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Freiburg und deren anschließenden Vollzug in der Justizvollzugsanstalt Freiburg erfolgt.

Urteile vom 19. September 2013 - III ZR 405 bis 408/12
LG Karlsruhe - Urteile vom 24. April 2012 - 2 O 330/11, 2 O 278/11, 2 O 316/11, 2 O 279/11
OLG Karlsruhe - Urteile vom 29. November 2012 - 12 U 62/12, 12 U 60/12, 12 U 63/12, 12 U 61/12

Karlsruhe, den 19. September 2013

Art. 5 EMRK:

Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

<Es folgen zu (a) bis (f) die Fälle rechtmäßiger Festnahme oder Freiheitsentziehung>

.....
Jede Person, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, hat Anspruch auf Schadensersatz.

Art. 7 EMRK:

Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.

Pressestelle des Bundesgerichtshofs
76125 Karlsruhe
Telefon (0721) 159-5013
Telefax (0721) 159-5501
Quelle

Urteile vom 19. September 2013 - III ZR 405 bis 408/12
III ZR 407/12  (pdf-download)
III ZR 408/12  (pdf-download)

Ich denke, dass sich diese Entscheidung auch für den Fall Mollath auswirkt.
Auch bin ich positiv überrascht, dass der BGH das Unionsrecht berücksichtigt hat.

Zusammenfassung der Entscheidung

Grundsatzurteil des BGH: Ex-Sicherungsverwahrte können Entschädigung einklagen
Baden-Württemberg muss vier Straftätern, die nachträglich sicherungsverwahrt wurden, Entschädigung zahlen. Mit dieser Entscheidung hat der Bundesgerichtshof den Weg frei gemacht für eine Klagewelle:
Sie gilt für alle Bundesländer, Experten rechnen mit Zahlungen in Millionenhöhe.
In allen vier Fällen wurde die Sicherungsverwahrung nachträglich verlängert - und das war rechtswidrig. 2009 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung gegen die Menschenrechtskonvention verstößt, später erklärte das Bundesverfassungsgericht die Regelungen zur Sicherungsverwahrung zudem für verfassungswidrig und entschied, dass sie nur in besonders schweren Fällen weiterhin angewendet werden dürfen.
"Die Entscheidung des BGH war überfällig. Sie sorgt endlich für Rechtssicherheit", sagt Thomas Ullenbruch, anerkannter Experte für Sicherungsverwahrung und Strafrichter in Emmendingen.
Weiter zum vollständigen Artikel ...

Bundesgerichtshof Straftäter bekommen Entschädigung für Sicherungsverwahrung
Baden-Württemberg muss vier Straftäter entschädigen, deren Sicherungsverwahrung nachträglich verlängert wurde. Das hat der Bundesgerichtshof am Donnerstag entschieden.
Baden-Württemberg muss vier Straftätern Schadenersatz wegen nachträglich verlängerter Sicherungsverwahrung zahlen. Das hat der Bundesgerichtshof am Donnerstag entschieden.
Weiter zum vollständigen Artikel ...

EGMR-Urteil: Gericht spricht Sicherungsverwahrtem Entschädigung zu

Rüge für die deutsche Justiz: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht die Rechte eines Sicherungsverwahrten verletzt. Ihm wurden 5.000 Euro zugesprochen.
Die fortgesetzte Sicherungsverwahrung ohne eine erneute medizinische Untersuchung sei willkürlich gewesen, heißt es in dem Urteil aus Straßburg. Die deutschen Behörden hätten die Gefährlichkeit des Mannes erneut prüfen müssen.
Weiter zum vollständigen Artikel ...

Deutschland hat dadurch gegen Art. 5 Abs. 1 der EMRK verstoßen, so der EGMR am Donnerstag.
Die fortgesetzte Sicherungsverwahrung ohne eine erneute medizinische Untersuchung, ob der Mann immer noch gefährlich ist, ist nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) willkürlich gewesen (Urt. v. 19.09.2013, Az. 17167/11).
Weiter zum vollständigen Artikel ...

Damit sei der Mann 27 Tage lang willkürlich in Sicherungsverwahrung gehalten worden, rügte das Straßburger Gericht. Erschwerend wurde gewertet, dass die Justiz kein neues psychiatrisches Gutachten in Auftrag gab, sondern sich bei der Verlängerung der Sicherungsverwahrung auf eine mehr als zwölf Jahre alte Expertise stützte. Der Mann habe sich in dieser Hinsicht in einer „Sackgasse“ befunden, heißt es in dem Urteil. Die Justiz hätte seine Gefährlichkeit neu überprüfen lassen müssen.
Weiter zum vollständigen Artikel ...

Prof. Dr. Angelika Nußberger, Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
EGMR: Siebentägige Unterbringung eines Häftlings in Sicherheitszelle ohne Bekleidung war konventionswidrig
Der Gerichtshof war der Auffassung, dass der Entzug von Kleidung bei einem Häftling Gefühle der Angst und Minderwertigkeit auslösen konnte, die dazu angetan waren, ihn zu erniedrigen.
Es deutete außerdem nichts darauf hin, dass die Verantwortlichen der Haftanstalt andere, weniger stark in die Privatsphäre eingreifende Maßnahmen erwogen hätten, wie etwa den Einsatz reißfester Kleidung, einer vom Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) empfohlenen Praxis.
ECHR 096 (2011) vom 07.07.2011     
Weiter zum vollständigen Artikel ...

Amtshaftung - gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch
weiterlesen

Rechtsprechung zur Staatshaftung nach Unionsrecht
Wichtige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes
Zum Grundsatz der Staatshaftung
aus dem EuGH-Urteil v. 30.09.2003, Rs. C-224/01 - Köbler / Österreich
30. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass der Grundsatz der Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, aus dem Wesen des EG-Vertrags folgt
mehr