EuGH - Urteile zur Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuern s.u.
von Rechtsanwalt Martin Arendts, M.B.L.-HSG
In seiner das britische Unternehmen The Rank Group PLC betreffenden Vorlageentscheidung hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) den Grundsatz der der steuerlichen Neutralität bei der Umsatzbesteuerung von Glücksspielen geklärt (Urteil vom 10. November 2011, Rs. C-259/10 und C-260/10). Sofern der Mitgliedstaat – auch unabsichtlich – gegen eine unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmung verstößt, besteht ein Anspruch auf Steuerbefreiung.
Die Umsatzsteuer ist europarechtlich harmonisiert, d.h. einheitlich geregelt, hier insbesondere durch die sog. Sechste Mehrwertsteuer-Richtlinie (Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern). Für Glücksspiele gibt es eine Umsatzsteuerbefreiung. Nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Mehrwertsteuer-Richtlinie sind Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden, von der Mehrwertsteuer befreit.
In dem britischen Ausgangsverfahren ging es darum, dass Rank Mehrwertsteuerzahlungen für den Zeitraum 2003 bis 2005 bzw. Oktober 2002 und Dezember 2005 erstattet haben wollte, die es für bestimmte Glücksspiele erbracht hatte (mc-Bingo bzw. Geldspielautomaten). Glücksspiele, die nach britischem Recht zu unterschiedlichen Lizenzkategorien gehörten und unterschiedlichen rechtlichen Regelungen hinsichtlich ihrer Aufsicht und Regulierung unterlagen, wurden in diesem Zeitraum unterschiedlich besteuert. Rank argumentierte gegen diese unterschiedliche Besteuerung mit einer Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH lässt es dieser Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht zu, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln.
Der EuGH hält in seinem Rank-Urteil zunächst fest, dass die Gleichartigkeit zweier Dienstleistungen dazu führt, dass sie in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen (Rn. 33).
Daher stelle das tatsächliche Bestehen eines Wettbewerbsverhältnisses zwischen zwei Dienstleistungen keine zusätzliche Voraussetzung für eine Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität dar, wenn die betreffenden Dienstleistungen aus der Sicht des Verbrauchers gleich oder gleichartig sind und dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen (Rn. 34).
Für die Annahme einer solchen Verletzung bedarf es also nicht noch zusätzlich der Feststellung, dass die betreffenden Dienstleistungen tatsächlich in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen oder dass der Wettbewerb wegen dieser Ungleichbehandlung verzerrt ist.
Bei der Beantwortung der Frage, ob zwei Dienstleistungen im Sinne der in der genannten Randnummer angeführten Rechtsprechung gleichartig sind, ist in erster Linie auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen (Rn. 43). Auf unbedeutenden Unterschieden beruhende künstliche Unterscheidungen müssen nach Ansicht des EuGH vermieden werden.
Hinsichtlich der Umsatzsteuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie verweist der EuGH darauf, dass nach der Formulierung den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Befreiung oder Besteuerung der betreffenden Umsätze ein weiter Wertungsspielraum eingeräumt ist. Machten die Mitgliedstaaten jedoch von der Befugnis, die Bedingungen und Grenzen der Befreiung festzulegen und damit Umsätze der Mehrwertsteuer zu unterwerfen oder nicht, Gebrauch, müssten sie den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten (Rn. 41).
Dieser Grundsatz verbiete im Bereich der Mehrwertsteuererhebung eine allgemeine Differenzierung zwischen unerlaubten und erlaubten Geschäften. Bei der Prüfung der Gleichartigkeit von zwei Glücksspielen kann daher nicht berücksichtigt werden, ob deren Veranstaltung rechtmäßig oder rechtswidrig ist (Rn. 45).
Für die Prüfung der Gleichartigkeit von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten komme es auf die Identität der Veranstalter bzw. Betreiber dieser Glücksspiele und Geräte sowie auf die Rechtsform, in der sie ihre Tätigkeiten ausüben, grundsätzlich nicht an (Rn. 46).
Unterschiede, die zwischen Gaststätten und Spielhallen einerseits und zugelassenen Casinos andererseits hinsichtlich des Rahmens bestehen, in dem dort jeweils Glücksspiele angeboten werden (hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Zugangsmöglichkeit sowie des Ambiente), sind für die Vergleichbarkeit dieser Spiele unerheblich (Rn. 47).
Für die Beurteilung der Vergleichbarkeit der betreffenden Glücksspiele komme es auch auf die Unterschiede in der rechtlichen Regelung nicht an (Rn. 49).
Zwar können unterschiedliche Glücksspielkategorien unterschiedlich besteuert werden, so etwa Steuerpflicht bei Glücksspielautomaten und Steuerbefreiung bei Wetten, Lotterien und Ausspielungen. Um den Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht auszuhöhlen und das gemeinsame Mehrwertsteuersystem nicht zu verfälschen, kann eine Ungleichbehandlung bei der Mehrwertbesteuerung nicht auf Detailunterschiede in der Struktur, den Modalitäten oder den Regeln der betreffenden Glücksspiele gestützt werden, die, wie Geldspielautomaten, sämtlich zu derselben Kategorie von Glücksspielen gehören (Rn. 55).
Diese Differenzierung hat aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers zu erfolgen, wobei die maßgeblichen oder wichtigen Umstände zu berücksichtigen sind, die dessen Entscheidung, das eine oder das andere Glücksspiel zu spielen, erheblich beeinflussen können. Insoweit können Unterschiede bei den Mindest- und Höchsteinsätzen und ‑gewinnen, den Gewinnchancen, den verfügbaren Formaten und der Möglichkeit von Interaktionen zwischen dem Spieler und dem Geldspielautomaten erheblichen Einfluss auf die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers haben, da die Anziehungskraft von Glücksspielen mit Geldeinsatz in erster Linie auf der Möglichkeit eines Gewinns beruht (Rn. 57).
Eine bloße steuerliche Ungleichbehandlung in der Praxis führt nach Ansicht des EuGH nicht zu einer Erstattungspflicht. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität sei dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger nicht die Erstattung der für bestimmte Dienstleistungen entrichteten Mehrwertsteuer verlangen kann, wenn die Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats gleichartige Dienstleistungen in der Praxis wie steuerfreie Umsätze behandelt haben, obwohl diese Leistungen nach der einschlägigen nationalen Regelung eigentlich nicht mehrwertsteuerfrei sind (Rn 59 ff.).
Bei einer rechtswidrigen unterschiedlichen steuerrechtlichen Regelung besteht jedoch ein Rechtsanspruch auf Steuerbefreiung. Großbritannien hatte in dem Verfahren argumentiert, bei der Regulierung zwar verspätet, aber mit der "gebotenen Sorgfalt" auf die Entwicklung einer neuen Geräteart regiert zu haben. Dem widerspricht der EuGH. Ein Mitgliedstaat kann, wenn die Bedingungen oder Beschränkungen, von denen er die Mehrwertsteuerbefreiung für Glücksspiele mit Geldeinsatz abhängig macht, gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen, sich nicht auf diese Bedingungen oder Beschränkungen berufen, um dem Veranstalter solcher Glücksspiele die Steuerbefreiung, auf die dieser nach der Sechsten Richtlinie einen Rechtsanspruch hat, zu verweigern (Rn. 68).
Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie hat daher unmittelbare Wirkung. Ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten kann sich vor den nationalen Gerichten auf diese Bestimmung berufen, um die Anwendung mit ihr unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern (Rn. 69).
Eine solche unmittelbare Wirkung einer Richtlinienbestimmung hängt nach Ansicht des EuGH auch nicht davon ab, dass der betroffene Mitgliedstaat bei der Umsetzung der betreffenden Richtlinie absichtlich oder fahrlässig schuldhaft gehandelt hat oder dass eine hinreichend qualifizierte Verletzung von Unionsrecht vorliegt (Rn. 70).
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weitere Entscheidungen des EuGH s.u.
Verbundene Rechtssachen C-259/10 und C-260/10
Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs
gegen
The Rank Group plc
(Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal [England & Wales] [Civil Division] und des Upper Tribunal [Tax and Chancery Chamber])
„Steuerrecht – Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Befreiungen – Art. 13 Teil B Buchst. f – Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz – Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Mechanisiertes Bingo mit in Bargeld ausgezahlten Gewinnen (‚mechanised cash bingo‘) – Geldspielautomaten – Verwaltungspraxis, nach der die Rechtsvorschriften unterschiedlich angewandt werden – Auf die gebotene Sorgfalt (‚due diligence‘) gestütztes Verteidigungsvorbringen“
Leitsätze des Urteils
1. Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Dienstleistungen – Unterschiedliche Behandlung zweier aus der Sicht des Verbrauchers gleicher oder gleichartiger Dienstleistungen – Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität
(Richtlinie 77/388 des Rates)
2. Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Befreiung für Glücksspiele – Befugnis der Mitgliedstaaten, die Bedingungen und Beschränkungen der Befreiung festzulegen – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität
(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. f)
3. Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Befreiung für Glücksspiele – Befugnis der Mitgliedstaaten, die Bedingungen und Beschränkungen der Befreiung festzulegen – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität
(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. f)
4. Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Befreiung für Glücksspiele – Befugnis der Mitgliedstaaten, die Bedingungen und Beschränkungen der Befreiung festzulegen – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität
(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. f)
5. Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Befreiung für Glücksspiele – Befugnis der Mitgliedstaaten, die Bedingungen und Beschränkungen der Befreiung festzulegen – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität
(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. f)
1. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass es für die Feststellung einer Verletzung dieses Grundsatzes genügt, dass zwei aus der Sicht des Verbrauchers gleiche oder gleichartige Dienstleistungen, die dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden. Für die Annahme einer solchen Verletzung bedarf es also nicht dazu noch der Feststellung, dass die betreffenden Dienstleistungen tatsächlich in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen oder dass der Wettbewerb wegen dieser Ungleichbehandlung verzerrt ist.
(vgl. Randnr. 36, Tenor 1)
2. Werden zwei Glücksspiele hinsichtlich der Gewährung der Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ungleich behandelt, so ist der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass nicht zu berücksichtigen ist, dass diese beiden Glücksspiele zu unterschiedlichen Lizenzkategorien gehören und unterschiedlichen rechtlichen Regelungen hinsichtlich ihrer Aufsicht und Regulierung unterliegen.
Diese Bestimmung hat den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Befreiung oder Besteuerung der betreffenden Umsätze einen weiten Wertungsspielraum eingeräumt, da sie ihnen gestattet, die Bedingungen und Beschränkungen festzulegen, von denen die Gewährung der Befreiung abhängig gemacht werden kann, sofern sie den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten.
Bei der Prüfung der Vergleichbarkeit zweier Glücksspiele, deren unterschiedliche Behandlung eine Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität begründen kann, kommt es auf Umstände wie die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Veranstaltung der Glücksspiele, die Identität der Veranstalter bzw. Betreiber dieser Glücksspiele und Geräte oder die Rechtsform, in der sie ihre Tätigkeiten ausüben, nicht an. Gleiches gilt für die Unterschiede, die zwischen Gaststätten und Spielhallen einerseits und zugelassenen Casinos andererseits hinsichtlich des Rahmens bestehen, in dem dort jeweils Glücksspiele angeboten werden, insbesondere hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Zugangsmöglichkeit sowie des Ambiente. Der Umstand schließlich, dass nur eine der beiden Arten von Glücksspielen einer nichtharmonisierten Abgabe unterliegt, kann ebenso wenig die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass diese Glücksspielarten nicht vergleichbar wären.
(vgl. Randnrn. 40-41, 45-48, 51, Tenor 2)
3. Bei der im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität vorzunehmenden Prüfung, ob zwei Arten von Geldspielautomaten gleichartig sind und die gleiche Behandlung hinsichtlich der Mehrwertsteuer erfordern, ist zu prüfen, ob die Benutzung dieser Gerätearten aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers vergleichbar ist und dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigt, wobei insoweit insbesondere Gesichtspunkte wie die Mindest- und Höchsteinsätze und ‑gewinne und die Gewinnchancen berücksichtigt werden können.
(vgl. Randnr. 58, Tenor 3)
4. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger, der die Verletzung dieses Grundsatzes geltend macht, nicht die Erstattung der für bestimmte Dienstleistungen entrichteten Mehrwertsteuer verlangen kann, wenn die Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats gleichartige Dienstleistungen in der Praxis wie steuerfreie Umsätze behandelt haben, obwohl diese Leistungen nach der einschlägigen nationalen Regelung nicht mehrwertsteuerfrei sind.
Denn eine öffentliche Verwaltung, die nach einer allgemeinen Entscheidungspraxis verfährt, kann zwar an diese gebunden sein, jedoch muss der Grundsatz der Gleichbehandlung, der auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer im Grundsatz der steuerlichen Neutralität zum Ausdruck kommt, mit der Beachtung des Gebots rechtmäßigen Handelns in Einklang gebracht werden, wonach sich niemand zu seinem Vorteil auf eine zugunsten eines anderen begangene Rechtsverletzung berufen kann. Daraus folgt, dass ein Steuerpflichtiger nicht verlangen kann, dass ein bestimmter Umsatz derselben steuerlichen Behandlung wie ein anderer Umsatz unterworfen wird, wenn dessen Behandlung nicht mit der einschlägigen nationalen Regelung in Einklang steht.
(vgl. Randnrn. 61-64, Tenor 4)
5. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der vom Ermessen nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern Gebrauch gemacht und die Bereitstellung jeglicher Vorrichtungen zum Spielen von Glücksspielen von der Mehrwertsteuer befreit, von dieser Befreiung jedoch eine Kategorie von bestimmte Kriterien erfüllenden Geräten ausgenommen hat, gegen einen auf die Verletzung dieses Grundsatzes gestützten Antrag auf Mehrwertsteuererstattung nicht einwenden kann, mit der gebotenen Sorgfalt auf die Entwicklung einer neuen Geräteart, die diese Kriterien nicht erfüllt, reagiert zu haben.
Die unmittelbare Wirkung einer Richtlinienbestimmung, wie diejenige des Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388, hängt nicht davon ab, dass der betroffene Mitgliedstaat bei der Umsetzung der betreffenden Richtlinie absichtlich oder fahrlässig schuldhaft gehandelt hat oder dass eine hinreichend qualifizierte Verletzung von Unionsrecht vorliegt. Auf diese Bestimmung kann sich daher ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten berufen, um die Anwendung mit ihr unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern.
(vgl. Randnrn. 69-70, 74, Tenor 5)
Quelle
EuGH: Vorlagefragen in der Rechtssache Biasci (Rs. C-660/11)
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale Amministrativo Regionale per la Toscana (Italien), eingereicht am 27. Dezember 2011 - Daniele Biasci u. a./Ministero dell'Interno und Questura di Livorno
(Rechtssache C-660/11)
Verfahrenssprache: Italienisch
Vorlegendes Gericht: Tribunale Amministrativo Regionale per la Toscana
Parteien des Ausgangsverfahrens
Kläger: Daniele Biasci, Alessandro Pasquini, Andrea Milianti, Gabriele Maggini, Elena Secenti, Gabriele Livi
Beklagte: Ministero dell'Interno und Questura di Livorno
Vorlagefragen
Sind die Art. 43 EG und 49 EG dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung wie der italienischen nach Art. 88 T.U.L.P.S. und Art. 2 Abs. 2b des Decreto-legge Nr. 40 vom 25. März 2010, umgewandelt in Gesetz Nr. 73/2010 grundsätzlich entgegenstehen? Nach Art. 88 T.U.L.P.S. kann "nur Personen, die Inhaber einer Konzession oder Genehmigung sind, die ihnen von Ministerien oder anderen Stellen, die nach dem Gesetz zur Veranstaltung und Verwaltung von Wetten befugt sind, erteilt worden ist, und Personen, die vom Inhaber der Konzession oder der Genehmigung aufgrund eben dieser Konzession oder dieser Genehmigung beauftragt sind, die Erlaubnis für die Annahme von Wetten erteilt werden", und nach Art. 2 Abs. 2b des Decreto-legge Nr. 40 ist "Art. 88 des [T.U.L.P.S.] nach dem Regio Decreto Nr. 773 vom 18. Juni 1931 in geänderter Fassung dahin auszulegen, dass die darin vorgesehene Erlaubnis, wenn sie für einen Geschäftsbetrieb erteilt wurde, in dessen Rahmen öffentliche Spiele mit Geldgewinnen durchgeführt und gesammelt werden, erst dann wirksam wird, wenn dem Inhaber dieses Betriebs die entsprechende Konzession für die Durchführung und das Sammeln solcher Spiele vom Ministero dell'economia e delle finanze - Amministrazione autonoma die monopoli di Stato erteilt worden ist"?
Sind die Art. 43 EG und 49 EG dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie Art. 38 Abs. 2 des Decreto-legge Nr. 223 vom 4. Juli 2006, umgewandelt in Gesetz Nr. 248/2006, grundsätzlich entgegenstehen, ...
Die Frage zur Vereinbarkeit von Art. 38 Abs. 2 mit den genannten gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen betrifft ausschließlich die Teile dieser Bestimmung, die Folgendes vorsehen: a) eine allgemeine Tendenz zum Schutz der Konzessionen, die vor der Änderung der Rechtsvorschriften erteilt wurden; b) die Verpflichtung, dass neue Annahmestellen nur in einer bestimmten Entfernung von den bereits bestehenden errichtet werden, was praktisch zur Aufrechterhaltung bereits bestehender Geschäftspositionen führen könnte. Die Frage betrifft außerdem die von der Amministrazione autonoma dei monopoli di Stato vorgetragene allgemeine Auslegung von Art. 38 Abs. 2 leg.cit., durch die in die Konzessionsvereinbarungen (Art. 23 Abs. 3) die bereits genannte Verfallsklausel für den Fall der unmittelbaren oder mittelbaren grenzüberschreitenden Ausübung vergleichbarer Tätigkeiten eingefügt wurde.
Ist, falls die Frage bejaht wird, d. h. wenn die in den vorhergehenden Randnummern angeführten nationalen Vorschriften für mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar erachtet werden, Art. 49 EG dahin auszulegen, dass im Fall einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs aus Gründen des Allgemeininteresses sicherheitshalber der Frage nachgegangen werden muss, ob diesem Allgemeininteresse nicht bereits durch die Vorschriften, Kontrollen und Überprüfungen, denen der Erbringer der Dienstleistungen im Niederlassungsstaat unterworfen ist, hinreichend Rechnung getragen wird?
Hat, falls die Frage im Sinne des im vorigen Absatz Ausgeführten bejaht wird, das vorlegende Gericht bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer gleichartigen Beschränkung den Umstand zu berücksichtigen, dass die im Staat der Niederlassung des Dienstleistungserbringers anzuwendenden Vorschriften Kontrollen gleicher oder sogar höherer Intensität vorsehen als im Staat, in dem die Dienstleistungen erbracht werden?
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1 - Es wird der Teil der Frage ausgelassen, der den vollständigen Text dieses im Amtsblatt der Italienischen Republik Nr. 153 vom 4. Juli 2006 bekannt gemachten Artikels wiedergibt.
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Anmerkung: Der Präsident des EuGH hat mit Beschluss vom 23. Januar 2012 die Rechtssachen Biasci (Rs. C-660/11) und Rainone (Rs. C-8/12) zur gemeinsamen Verhandlung verbunden.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union
EuGH: Vorlagefragen in der Rechtssache Rainone (Rs. C-8/12)
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale Amministrativo Regionale per la Toscana (Italien), eingereicht am 2. Januar 2012 - Cristian Rainone u. a./Ministero dell'Interno u. a.
(Rechtssache C-8/12)
Verfahrenssprache: Italienisch
Vorlegendes Gericht: Tribunale Amministrativo Regionale per la Toscana
Parteien des Ausgangsverfahrens
Kläger: Cristian Rainone, Orentino Viviani, Miriam Befani
Beklagte: Ministero dell'Interno, Questura di Prato und Questura di Firenze
Vorlagefragen
Sind die Art. 43 EG und 49 EG dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung wie der italienischen nach Art. 88 T.U.L.P.S. und Art. 2 Abs. 2b des Decreto-legge Nr. 40 vom 25. März 2010, umgewandelt in Gesetz Nr. 73/2010 grundsätzlich entgegenstehen? Nach Art. 88 T.U.L.P.S. kann "nur Personen, die Inhaber einer Konzession oder Genehmigung sind, die ihnen von Ministerien oder anderen Stellen, die nach dem Gesetz zur Veranstaltung und Verwaltung von Wetten befugt sind, erteilt worden ist, und Personen, die vom Inhaber der Konzession oder der Genehmigung aufgrund eben dieser Konzession oder dieser Genehmigung beauftragt sind, die Erlaubnis für die Annahme von Wetten erteilt werden", und nach Art. 2 Abs. 2b des Decreto-legge Nr. 40 ist "Art. 88 des [T.U.L.P.S.] nach dem Regio Decreto Nr. 773 vom 18. Juni 1931 in geänderter Fassung dahin auszulegen, dass die darin vorgesehene Erlaubnis, wenn sie für einen Geschäftsbetrieb erteilt wurde, in dessen Rahmen öffentliche Spiele mit Geldgewinnen durchgeführt und gesammelt werden, erst dann wirksam wird, wenn dem Inhaber dieses Betriebs die entsprechende Konzession für die Durchführung und das Sammeln solcher Spiele vom Ministero dell'economia e delle finanze - Amministrazione autonoma die monopoli di Stato erteilt worden ist"?
Sind die Art. 43 EG und 49 EG dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie Art. 38 Abs. 2 des Decreto-legge Nr. 223 vom 4. Juli 2006, umgewandelt in Gesetz Nr. 248/2006, grundsätzlich entgegenstehen, wonach "Art. 1 Abs. 287 des Gesetzes Nr. 311 vom 30. Dezember 2004, ... durch Folgendes ersetzt [wird]:
‚287. Mit Verfügungen des Ministero dell'economia e delle finanze - Amministrazione autonoma dei monopoli di Stato werden die neuen Modalitäten für den Vertrieb von Spielen mit Ausnahme der Pferderennwetten unter Beachtung der folgenden Kriterien festgelegt:
...
l) die Festlegung der Modalitäten des Schutzes der Inhaber einer Konzession für das Sammeln von Wetten zu festen Sätzen auf der Grundlage anderer Ereignisse als Pferderennen, geregelt durch die Verordnung gemäß dem Dekret Nr. 111 des Ministers für Wirtschaft und Finanzen vom 1. März 2006.'"
Die Frage zur Vereinbarkeit von Art. 38 Abs. 2 mit den genannten gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen betrifft ausschließlich die Teile dieser Bestimmung, die Folgendes vorsehen: a) eine allgemeine Tendenz zum Schutz der Konzessionen, die vor der Änderung der Rechtsvorschriften erteilt wurden; b) die Verpflichtung, dass neue Annahmestellen nur in einer bestimmten Entfernung von den bereits bestehenden errichtet werden, was praktisch zur Aufrechterhaltung bereits bestehender Geschäftspositionen führen könnte. Die Frage betrifft außerdem die von der Amministrazione autonoma dei monopoli di Stato vorgetragene allgemeine Auslegung von Art. 38 Abs. 2 leg.cit., durch die in die Konzessionsvereinbarungen (Art. 23 Abs. 3) die bereits genannte Verfallsklausel für den Fall der unmittelbaren oder mittelbaren grenzüberschreitenden Ausübung vergleichbarer Tätigkeiten eingefügt wurde.
Ist, falls die Frage bejaht wird, d. h. wenn die in den vorhergehenden Randnummern angeführten nationalen Vorschriften für mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar erachtet werden, Art. 49 EG dahin auszulegen, dass im Fall einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs aus Gründen des Allgemeininteresses sicherheitshalber der Frage nachgegangen werden muss, ob diesem Allgemeininteresse nicht bereits durch die Vorschriften, Kontrollen und Überprüfungen, denen der Erbringer der Dienstleistungen im Niederlassungsstaat unterworfen ist, hinreichend Rechnung getragen wird?
Hat, falls die Frage im Sinne des im vorigen Absatz Ausgeführten bejaht wird, das vorlegende Gericht bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer gleichartigen Beschränkung den Umstand zu berücksichtigen, dass die im Staat der Niederlassung des Dienstleistungserbringers anzuwendenden Vorschriften Kontrollen gleicher oder sogar höherer Intensität vorsehen als im Staat, in dem die Dienstleistungen erbracht werden?
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union
EuGH: Vorlagefragen in der Rechtssache Banca Antoniana Popolare Veneta SpA (Rs. C-427/10)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
15. Dezember 2011(*)
„Mehrwertsteuer – Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuer – Nationale Regelung, nach der vor verschiedenen Gerichten Klage auf Erstattung einer Nichtschuld erhoben werden kann, wobei unterschiedliche Fristen gelten, je nachdem, ob es sich um den Empfänger oder den Erbringer von Dienstleistungen handelt – Für den Dienstleistungsempfänger bestehende Möglichkeit, vom Dienstleistungserbringer nach Ablauf der für diesen gegenüber der Finanzverwaltung geltenden Klagefrist die Erstattung der Steuer zu verlangen – Grundsatz der Effektivität“
In der Rechtssache C‑427/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Italien) mit Entscheidung vom 7. Juni 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 31. August 2010, in dem Verfahren
Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, incorporante la Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA,
gegen
Ministero dell’Economia e delle Finanze,
Agenzia delle Entrate
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts sowie der Richter E. Juhász, G. Arestis (Berichterstatter), T. von Danwitz und D. Šváby,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juni 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, incorporante la Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA, vertreten durch A. Fantozzi, R. Tieghi und R. Esposito, avvocati,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. De Bellis, avvocato dello Stato,
– der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und C. Blaschke als Bevollmächtigte,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Hathaway als Bevollmächtigten im Beistand von P. Mantle, Barrister,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Recchia und R. Lyal als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. September 2011
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der Steuerneutralität, der Effektivität und der Nichtdiskriminierung in Bezug auf die Mehrwertsteuer.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, incorporante la Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA (im Folgenden: BAPV) einerseits und dem Ministero dell’Economia e delle Finanze und der Agenzia delle Entrate (im Folgenden zusammen: Steuerverwaltung) andererseits über deren Weigerung, BAPV nicht geschuldete Mehrwertsteuer zu erstatten, die auf die von BAPV erbrachte Leistungen der Einziehung von Verbandsbeiträgen erhoben wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) sah vor:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen:
1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;
…“
4 Art. 13 Teil B Buchst. d Nrn. 2 und 3 dieser Richtlinie bestimmte:
„B. Sonstige Steuerbefreiungen
Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:
…
d) die folgenden Umsätze:
…
2. die Vermittlung und die Übernahme von Verbindlichkeiten, Bürgschaften und anderen Sicherheiten und Garantien sowie die Verwaltung von Kreditsicherheiten durch die Kreditgeber,
3. die Umsätze – einschließlich der Vermittlung – im Einlagengeschäft und Kontokorrentverkehr, im Zahlungs- und Überweisungsverkehr, im Geschäft mit Forderungen, Schecks und anderen Handelspapieren, mit Ausnahme der Einbeziehung von Forderungen.“
5 In Art. 13 Teil C Abs. 1 der Richtlinie heißt es:
„C. Optionen
Die Mitgliedstaaten können ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, für eine Besteuerung zu optieren:
…
b) bei den Umsätzen nach Teil B Buchstaben d) …“
6 Art. 21 („Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus“) Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388 lautete:
„Die Mehrwertsteuer schuldet
1. im inneren Anwendungsbereich
a) der Steuerpflichtige, der einen steuerpflichtigen Umsatz bewirkt, mit Ausnahme der in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e) genannten Umsätze, die von einem im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen erbracht werden. Wird der steuerpflichtige Umsatz durch einen im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen erbracht, so können die Mitgliedstaaten Regelungen treffen, nach denen die Steuer von einer anderen Person als dem im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen geschuldet wird. Als solche kann unter anderem ein Vertreter oder diejenige Person bezeichnet werden, für die der steuerpflichtige Umsatz bewirkt wurde. Die Mitgliedstaaten können außerdem bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerpflichtige die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat“.
Nationales Recht
7 Art. 10 Abs. 5 des Dekrets des Präsidenten der Republik Nr. 633 vom 26. Oktober 1972 zur Einführung und Regelung der Mehrwertsteuer (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 1 vom 11. November 1972, S. 1, im Folgenden: DPR Nr. 633/72) bestimmt:
„Von der Steuer sind befreit:
…
5. Umsätze in Bezug auf die Einziehung von Steuern einschließlich der Zahlung von Steuern für Rechnung der Steuerpflichtigen durch Unternehmen und Kreditinstitute nach besonderen gesetzlichen Bestimmungen“.
8 Art. 21 des Decreto legislativo Nr. 546 vom 31. Dezember 1992 mit Vorschriften über das abgabenrechtliche Verfahren in Ausübung der Befugnis der Regierung nach Art. 30 des Gesetzes Nr. 413 vom 30. Dezember 1991 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 8 vom 13. Januar 1993, S. 1) sieht vor:
„1. Der Rechtsbehelf ist binnen 60 Tagen nach Zustellung des angefochtenen Rechtsakts einzulegen, andernfalls ist er unzulässig. Die Zustellung des Veranlagungsbescheids gilt auch als Bekanntgabe der Registereintragung.
2. Der Rechtsbehelf gegen die stillschweigende Ablehnung der Erstattung nach Art. 19 Abs. 1 Buchst. g kann ab dem 90. Tag, der auf den Erstattungsantrag folgt, der innerhalb der im jeweiligen Steuergesetz festgesetzten Fristen eingereicht wurde, bis zur Verjährung des Erstattungsanspruchs eingelegt werden. Sofern nicht besondere Vorschriften etwas anderes bestimmen, kann der Erstattungsantrag binnen zwei Jahren nach erfolgter Zahlung oder Eintreten der Erstattungsvoraussetzungen gestellt werden, je nachdem, welcher Zeitpunkt der spätere ist.“
9 Art. 2033 des Zivilgesetzbuchs, der die objektive Nichtschuld regelt, lautet:
„Wer eine nichtgeschuldete Zahlung vorgenommen hat, hat das Recht, das zurückzufordern, was er bezahlt hat. Er hat außerdem Anrecht auf die Früchte und die Zinsen vom Tag der Zahlung an, wenn sich derjenige, der sie angenommen hat, in schlechtem Glauben befand, oder vom Tag der Anspruchserhebung an, wenn dieser gutgläubig gewesen ist (Art. 163 des Zivilverfahrensgesetzbuchs).“
10 Art. 2946 des Zivilgesetzbuchs regelt die ordentliche Verjährung:
„Abgesehen von den Fällen, in denen das Gesetz etwas anderes verfügt, erlöschen Ansprüche durch Verjährung nach Ablauf von zehn Jahren.“
11 Gemäß Art. 2935 des Zivilgesetzbuchs beginnt die Verjährung von jenem Tag an zu laufen, an dem das Recht geltend gemacht werden kann.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12 In den Jahren 1984 bis 1994 nahm BAPV für Rechnung dreier Verbände der Wasserbewirtschaftung – durch nationale und regionale Gesetze geregelte und mit der Ausführung öffentlicher Infrastrukturarbeiten beauftragte öffentliche Einrichtungen – die Einziehung von Verbandsbeiträgen vor, die von Verbandsmitgliedern geschuldet wurden. Die als Gegenleistung für diese Dienstleistungen erhaltenen Vergütungen unterlagen der Mehrwertsteuer, die BAPV auf die Verbände überwälzte. BAPV führte die Mehrwertsteuer nach den Gesetzesmodalitäten ordnungsgemäß an die Finanzverwaltung ab, da die Finanzverwaltung zu diesem Zeitpunkt der Ansicht war, die Tätigkeit der Einziehung von Verbandsbeiträgen falle nicht unter die in Art. 10 Abs. 5 des DPR Nr. 633/72 vorgesehene Befreiung.
13 Mit Rundschreiben vom 26. Februar 1999 teilte die Finanzverwaltung mit, dass sie ihre ursprüngliche Auslegung dieser Bestimmung ändere, und wies darauf hin, dass die Verbandsbeiträge steuerlicher Natur seien und die von den Verbänden für die Einziehung dieser Beiträge zu zahlenden Vergütungen daher als mehrwertsteuerfrei im Sinne von Art. 10 Abs. 5 des DPR Nr. 633/72 anzusehen seien.
14 Die Verbände der Wasserbewirtschaftung verlangten daher von der SIFER SpA, der Rechtsnachfolgerin von BAPV, die Erstattung der als Mehrwertsteuer auf diese Vergütungen geleisteten nicht geschuldeten Zahlungen unter dem Gesichtspunkt der objektiven Nichtschuld im Sinne von Art. 2033 des Zivilgesetzbuchs. Auf die Klage eines der Verbände vor dem Tribunale civile di Ferrara wurde BAPV zur Erstattung dieser Beträge verurteilt.
15 BAPV beantrage ihrerseits bei der Finanzverwaltung die Rückerstattung der Mehrwertsteuer in Höhe der Beträge, die von den Empfängern ihrer Dienstleistungen von ihr gefordert worden waren. Angesichts der stillschweigenden Ablehnung ihres Antrags erhob BAPV bei der Commissione tributaria provinciale di Roma drei verschiedene Klagen, denen stattgegeben wurde.
16 Die Finanzverwaltung legte jedoch gegen diese drei Entscheidungen Berufung ein, und die Commissione tributaria regionale del Lazio entschied nach Verbindung der Berufungsverfahren, dass der Erstattungsanspruch von BAPV verjährt sei, da ihr Erstattungsantrag nach Ablauf der in Art. 21 Abs. 2 des Decreto legislativo Nr. 546 vom 31. Dezember 1992 vorgesehenen besonderen Verjährungsfrist von zwei Jahren ab Zahlung der Mehrwertsteuer gestellt worden sei. In diesem Zusammenhang wies das Gericht darauf hin, dass diese Frist nicht vom Rundschreiben vom 26. Februar 1999 an habe laufen können.
17 BAPV legte gegen diese Entscheidung Kassationsbeschwerde bei der Corte suprema di cassazione ein.
18 Die Corte suprema di cassazione hat Zweifel, ob die nationale Verfahrensregelung mit den Leitprinzipien im Bereich der Mehrwertsteuer vereinbar ist, wenn sich aus dieser Regelung Fallkonstellationen wie die hier in Frage stehenden ergeben können, die auf eine grundsätzliche Versagung des Anspruchs auf Erstattung der nicht geschuldeten Mehrwertsteuer hinauslaufen. Denn BAPV, die die Mehrwertsteuer an die Finanzverwaltung abgeführt habe, sei aufgrund einer zivilgerichtlichen Entscheidung verpflichtet, diese Mehrwertsteuer der Person zu erstatten, die sie gezahlt habe, ohne eine Erstattung von Seiten der Finanzverwaltung erhalten zu können. Demnach machten die Verfahrensmodalitäten sowie die Vorschriften des materiellen Rechts über die Erstattung der nicht geschuldeten Steuer im Ergebnis die Wahrnehmung des Erstattungsanspruchs praktisch unmöglich.
19 Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Stehen die Grundsätze der Effektivität, der Nichtdiskriminierung und der Steuerneutralität im Mehrwertsteuerbereich einer nationalen Regelung oder Praxis entgegen, die den Anspruch des Erwerbers/Dienstleistungsempfängers auf Erstattung der rechtsgrundlos gezahlten Mehrwertsteuer im Gegensatz zu dem Erstattungsanspruch, den der Hauptschuldner (Veräußerer/Dienstleistungserbringer) geltend macht, rückwirkend in einen Anspruch wegen objektiver Nichtschuld nach dem allgemeinen Recht umwandelt, wobei die zeitliche Begrenzung für den Ersteren erheblich länger ist als die für den Letzteren, so dass die Klage des Ersteren, die eingereicht wird, nachdem die Frist für den Letzteren abgelaufen ist, zu einer Verurteilung des Letzteren zur Erstattung der Mehrwertsteuer führen kann, ohne dass dieser die Erstattung von der Finanzverwaltung verlangen kann, und kein übergreifendes Instrumentarium vorgesehen ist, um Konflikten oder Widersprüchen zwischen Verfahren vorzubeugen, die bei den verschiedenen Gerichten eingeleitet oder noch einzuleiten sind?
2. Ist – abgesehen von dem vorstehend genannten Fall – eine nationale Praxis oder Rechtsprechung mit den bereits angeführten Grundsätzen vereinbar, die zulässt, dass der Veräußerer/Dienstleistungserbringer verurteilt wird, dem Erwerber/Dienstleistungsempfänger die Mehrwertsteuer zu erstatten, der Erstere aber im Vertrauen auf eine in der Verwaltungspraxis befolgte Rechtsprechung, wonach der Umsatz mehrwertsteuerpflichtig war, nicht innerhalb der geltenden Fristen vor einem anderen Gericht Klage auf Erstattung eingereicht hatte?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
20 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Grundsätze der Effektivität, der Steuerneutralität und der Nichtdiskriminierung einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer Nichtschuld wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die eine spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage vorsieht, die kürzer als die für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld ist, so dass ein Dienstleistungsempfänger, der in dieser Weise gegen einen Dienstleistungserbringer klagt, die nicht geschuldete Mehrwertsteuer vom Dienstleistungserbringer erstattet erhalten könnte, ohne dass diesem seinerseits die Mehrwertsteuer von der Finanzverwaltung erstattet wird.
21 Zunächst ist festzustellen, dass der Gerichtshof den Grundsatz der Steuerneutralität bei der Feststellung, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung über Verjährungsfristen für Anträge auf Erstattung der Mehrwertsteuer entgegensteht, grundsätzlich nicht prüft (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 1998, SFI, C‑85/97, Slg. 1998, I‑7447, Randnrn. 22 bis 36, vom 11. Juli 2002, Marks & Spencer, C‑62/00, Slg. 2002, I‑6325, Randnrn. 22 bis 47, und vom 21. Januar 2010, Alstom Power Hydro, C‑472/08, Slg. 2010, I‑623, Randnrn. 14 bis 22).
22 Im Urteil vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken (C‑35/05, Slg. 2007, I‑2425, Randnr. 37), hat der Gerichtshof entschieden, dass es in Ermangelung einer Gemeinschaftsregelung über die Erstattung von zu Unrecht gezahlten Abgaben Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen zu regeln, unter denen eine solche Erstattung verlangt werden kann; diese Voraussetzungen müssen den Grundsätzen der Gleichwertigkeit und der Effektivität entsprechen, d. h., sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen.
23 In Randnr. 42 des Urteils Reemtsma Cigarettenfabriken hat der Gerichtshof entschieden, dass der Grundsatz der Effektivität nationalen Rechtsvorschriften, nach denen nur der Veräußerer/Dienstleistungserbringer einen Anspruch auf Erstattung von zu Unrecht als Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen gegen die Steuerbehörden hat und der Dienstleistungsempfänger eine zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung der Nichtschuld gegen diesen Veräußerer/Dienstleistungserbringer erheben kann, nicht entgegensteht.
24 Der Gerichtshof hat außerdem anerkannt, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit, die zugleich den Abgabepflichtigen und die Behörde schützt, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Solche Fristen sind nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. November 1998, Aprile, C‑228/96, Slg. 1998, I‑7141, Randnr. 19, und vom 30. Juni 2011, Meilicke u. a., C‑262/09, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 56).
25 Dies gilt auch bei einer Ausschlussfrist von zwei Jahren, da es diese Frist jedem durchschnittlich aufmerksamen Steuerpflichtigen grundsätzlich ermöglicht, die Rechte, die er aus der Unionsrechtsordnung ableitet, ordnungsgemäß geltend zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil Alstom Power Hydro, Randnrn. 20 und 21). Eine solche Feststellung gilt auch für eine Verjährungsfrist von zwei Jahren im Rahmen des Rechts auf Erstattung von zu Unrecht an die Finanzverwaltung gezahlter Mehrwertsteuer.
26 Der Gerichtshof hat außerdem festgestellt, dass der Grundsatz der Effektivität nicht verletzt ist, wenn für die Finanzverwaltung eine angeblich günstigere nationale Verjährungsfrist gilt als für den Einzelnen (Urteil vom 8. September 2011, Q‑Beef und Bosschaert, C‑89/10 und C‑96/10, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 42).
27 Folglich steht der Grundsatz der Effektivität einer besonderen Verjährungsfrist von zwei Jahren, innerhalb deren der Steuerpflichtige von der Finanzverwaltung die Erstattung der nicht geschuldeten Mehrwertsteuer verlangen kann, während die Verjährungsfrist für Klagen auf Rückerstattung einer objektiven Nichtschuld zwischen Einzelnen zehn Jahre beträgt, grundsätzlich nicht entgegen.
28 Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass, falls die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert wird, die Mitgliedstaaten zur Wahrung des Grundsatzes der Effektivität die erforderlichen Mittel vorsehen müssen, die es dem Dienstleistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen (Urteil Reemtsma Cigarettenfabriken, Randnr. 42).
29 Die gleichen Erwägungen müssen auch den Ausschlag geben, wenn die Unmöglichkeit oder übermäßige Schwierigkeit, die Erstattung der nicht geschuldeten Mehrwertsteuer zu erlangen, nicht den Dienstleistungsempfänger, sondern den Dienstleistungserbringer betrifft.
30 Aus der Rechtsprechung ergibt sich außerdem, dass der Grundsatz der Effektivität verletzt wäre, wenn der Steuerpflichtige weder einen Anspruch auf Erstattung der betreffenden Abgabe während seiner Klagefrist gegenüber der Finanzverwaltung noch nach einer von seinen Kunden nach Ablauf dieser Frist gegen ihn eingelegten Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld ein Rückgriffsrecht gegen die Finanzverwaltung gehabt hätte und als Steuerpflichtiger die Folgen der vom Staat zu verantwortenden rechtsgrundlosen Zahlung der Mehrwertsteuer allein hätte tragen müssen (vgl. entsprechend Urteil Q‑Beef und Bosschaert, Randnr. 43).
31 Auch ist bereits entschieden worden, dass sich eine nationale Behörde dann nicht auf den Ablauf einer angemessenen Verjährungsfrist berufen kann, wenn das Verhalten der nationalen Behörden in Verbindung mit einer Verjährungsfrist dem Betroffenen jede Möglichkeit nimmt, seine Rechte vor den nationalen Gerichten geltend zu machen (vgl. entsprechend Urteil Q‑Beef und Bosschaert, Randnr. 51).
32 Im Ausgangsverfahren ist zunächst festzustellen, dass es – wie die Europäische Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat – für BAPV insbesondere angesichts des Standpunkts der Finanzverwaltung, der nach den Angaben des vorlegenden Gerichts durch die nationale Rechtsprechung bestätigt wurde und wonach die von BAPV erbrachten Dienstleistungen vom Anwendungsbereich der in Art. 10 Abs. 5 des DPR Nr. 633/72 vorgesehenen Befreiung ausgeschlossen waren, unmöglich oder zumindest übermäßig erschwert gewesen wäre, mit einer innerhalb der Verjährungsfrist von zwei Jahren erhobenen Klage die Erstattung der in den Jahren 1984 bis 1994 gezahlten Mehrwertsteuer zu erwirken.
33 Sodann führt die vom vorlegenden Gericht und in der in Randnr. 16 des vorliegenden Urteils genannten gerichtlichen Entscheidung vorgenommene Auslegung, indem dem Rundschreiben vom 26. Februar 1999 Rückwirkung beigemessen wird, dazu, dass der Beginn des Fristenlaufs für Rückforderungsklagen auf den Zeitpunkt der Zahlung der Mehrwertsteuer zurückverlegt wird, was dem Dienstleistungserbringer angesichts der Verjährungsfrist von zwei Jahren für eine Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld, die ihm der Finanzverwaltung gegenüber offensteht, vollständig die Möglichkeit genommen hat, die zu Unrecht gezahlte Steuer zurückzuerhalten.
34 Schließlich ist unstreitig, dass die Verbände die Klage auf Rückerstattung der Nichtschuld nach Ablauf der besonderen Verjährungsfrist von zwei Jahren erhoben haben, über die BAPV nach der vorerwähnten gerichtlichen Auslegung ab der Zahlung der Mehrwertsteuer verfügte, um von der Finanzverwaltung Erstattung der zu Unrecht gezahlten Mehrwertsteuer zu verlangen.
35 Die Verbände haben die Klage auf Rückerstattung der Nichtschuld nämlich nach der Bekanntmachung des Rundschreibens vom 26. Februar 1999 erhoben, mit dem die Finanzverwaltung ihre Auslegung hinsichtlich der Art der im Ausgangsverfahren fraglichen Umsätze dahin geändert hat, dass sie sie seither als von der Mehrwertsteuer befreite Umsätze ansieht.
36 Daher ist festzustellen, dass BAPV in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren streitigen selbst die Zahlung der nicht geschuldeten Mehrwertsteuer trägt, ohne dass sie von der Finanzverwaltung wirksam deren Erstattung verlangen kann, weil die besondere Verjährungsfrist von zwei Jahren abgelaufen ist, und dies selbst wenn ihr eine solche Situation nicht angelastet werden kann, sondern diese darauf zurückzuführen ist, dass die Dienstleistungsempfänger aufgrund des Rundschreibens nach Ablauf dieser Verjährungsfrist Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld gegen BAPV erhoben haben.
37 In den vom vorlegenden Gericht übermittelten Unterlagen deutet nämlich nichts darauf hin, dass BAPV nicht wie ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer gehandelt hätte, indem sie die Einziehung der Verbandsbeiträge gegen Zahlung eines die Mehrwertsteuer umfassenden Preises vorgenommen und die Mehrwertsteuer an die Finanzverwaltung abgeliefert hat.
38 Dazu geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass BAPV die Einziehung der Verbandsbeiträge, die sie vorgenommen hat, nach der zum Zeitpunkt der Fakturierung dieser Umsätze gängigen Verwaltungspraxis zu Recht der Mehrwertsteuer unterzogen und diese Steuer ordnungsgemäß an die Finanzverwaltung abgeführt hat.
39 Die italienische Regierung hat jedoch vorgetragen, dass die Frage des rechtlichen Statuts dieser Umsätze in Bezug auf die Mehrwertsteuer seit einiger Zeit Gegenstand eines Meinungsstreits sei, so dass ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer auf die Beibehaltung der Mehrwertsteuerpflicht dieser Umsätze nicht habe vertrauen dürfen.
40 Es ist allerdings zu bemerken, dass erst mit dem Rundschreiben vom 26. Februar 1999 klar wurde, dass die Finanzverwaltung, die die mit der Anwendung des betreffenden Rechts betraute Verwaltungsbehörde ist, ausdrücklich bestätigt hat, dass die Verbandsbeiträge steuerlicher Natur seien und die von den Verbänden geschuldeten Vergütungen im Sinne von Art. 10 Abs. 5 des DPR Nr. 633/72 als von der Mehrwertsteuer befreit anzusehen seien. Demnach hat dieses Rundschreiben die Erhebung von Mehrwertsteuer auf die Einziehung dieser Beiträge rückwirkend in Frage gestellt.
41 In einer solchen Situation hat diese Verwaltung die besondere Situation der Wirtschaftsteilnehmer zu berücksichtigen und gegebenenfalls die Anwendung ihrer neuen rechtlichen Beurteilungen dieser Umsätze entsprechend anzupassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2009, Plantanol, C‑201/08, Slg. 2009, I‑8343, Randnr. 49).
42 Aus dem Vorstehenden ergibt sich daher, dass der Grundsatz der Effektivität einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer Nichtschuld, die eine längere Verjährungsfrist für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld, die der Dienstleistungsempfänger gegen den mehrwertsteuerpflichtigen Erbringer dieser Dienstleistungen erhebt, vorsieht als die spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage, die dieser Dienstleistungserbringer gegenüber der Finanzverwaltung erhebt, nicht entgegensteht, sofern dieser Steuerpflichtige die Erstattung der Steuer von der Finanzverwaltung tatsächlich verlangen kann. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn die Anwendung einer solchen Regelung zur Folge hat, dass dem Steuerpflichtigen das Recht, die nicht geschuldete Mehrwertsteuer, die er selbst dem Empfänger seiner Dienstleistungen erstatten musste, von der Finanzverwaltung zurückzuerhalten, vollständig genommen wird.
Zur zweiten Frage
43 Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
Kosten
44 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Der Grundsatz der Effektivität steht einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer Nichtschuld, die eine längere Verjährungsfrist für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld, die der Dienstleistungsempfänger gegen den mehrwertsteuerpflichtigen Erbringer dieser Dienstleistungen erhebt, vorsieht als die spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage, die dieser Dienstleistungserbringer gegenüber der Finanzverwaltung erhebt, nicht entgegen, sofern dieser Steuerpflichtige die Erstattung der Steuer von der Finanzverwaltung tatsächlich verlangen kann. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn die Anwendung einer solchen Regelung zur Folge hat, dass dem Steuerpflichtigen das Recht, die nicht geschuldete Mehrwertsteuer, die er selbst dem Empfänger seiner Dienstleistungen erstatten musste, von der Finanzverwaltung zurückzuerhalten, vollständig genommen wird.
Unterschriften
URTEIL DES GERICHTSHOFES
9. Dezember 2003(1)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Gemeinschaftsrechtswidrige Auslegung eines nationalen Gesetzes durch die Rechtsprechung und die Verwaltungspraxis - Voraussetzungen für die Erstattung zu Unrecht gezahlter Beträge“
In der Rechtssache C-129/00
wegen Feststellung, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, dass sie Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428 vom 29. Dezember 1990 „Disposizioni per l'adempimento di obblighi derivanti dall'appartenenza dell'Italia alle Communità europee (legge comunitaria per il 1990)“ (Bestimmungen zur Erfüllung der Verpflichtungen infolge der Zugehörigkeit Italiens zu den Europäischen Gemeinschaften [Gemeinschaftsgesetz für 1990] - GURI Nr. 10 vom 12. Januar 1991, supplemento ordinario, S. 5) beibehalten hat, der nach der Auslegung und Anwendung durch die Verwaltung und die Gerichte eine Beweisregelung bezüglich der Abwälzung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben auf Dritte enthält, die die Ausübung des Rechts auf Erstattung solcher Abgaben für den Steuerpflichtigen praktisch unmöglich macht oder zumindest übermäßig erschwert, ........
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