In seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass Spanien gegen die Verpflichtungen verstoßen hat, die sich aus der Mehrwertsteuerrichtlinie ergeben.
Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Gesundheitsprodukte des allgemeinen Gebrauchs nicht gerechtfertigt
Indem Spanien ermäßigte Mehrwertsteuersätze über das nach der Mehrwertsteuerrichtlinie zulässige Maß anwendet, hat das Land gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen.
Dies entschied der Gerichtshof der Europäischen Union.
* - Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1).
** - Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. L 311, S. 67)
vgl.: Bundesrechnungshof: Mehrwertsteuer verstoße in vielen Teilen gegen geltendes EU-Recht
Wikipedia: Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie 112/2006/EG (Mehrwertsteuerrichtlinie)
„Vertragsverletzung
eines Mitgliedstaats – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG –
Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes – Art. 96 und 98 Abs. 2 –
Anhang III Nrn. 3 und 4 – ‚Arzneimittel, die üblicherweise für die
Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und
tierärztliche Behandlungen verwendet werden‘ – ‚Medizinische Geräte,
Hilfsmittel und sonstige Vorrichtungen, die üblicherweise für die
Linderung und die Behandlung von Behinderungen verwendet werden und die
ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt
sind‘“
In der Rechtssache C‑360/11
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 8. Juli 2011,
Europäische Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Königreich Spanien, vertreten durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,
Beklagter,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič (Berichterstatter) sowie der Richter E. Jarašiūnas und A. Ó Caoimh,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: A. Calot Escobar,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Oktober 2012
folgendes
Urteil
1 Mit
ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass
das Königreich Spanien durch die Anwendung eines verminderten
Mehrwertsteuersatzes
– auf
medizinische Stoffe, die üblicherweise für die Herstellung von
Medikamenten verwendet werden können und dafür geeignet sind,
– auf
Gesundheitsprodukte, Stoffe, Geräte oder Vorrichtungen, die objektiv
nur zur Vorbeugung, Diagnose, Behandlung, Linderung oder Heilung von
Krankheiten oder Leiden von Menschen oder Tieren verwendet werden
können, jedoch nicht üblicherweise für die Linderung und die Behandlung
von Behinderungen verwendet werden und ausschließlich für den
persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt sind,
– auf
Vorrichtungen und Zubehörteile, die im Wesentlichen oder hauptsächlich
dazu dienen können, körperliche Behinderungen von Tieren auszugleichen,
– und
schließlich auf Vorrichtungen und Zubehörteile, die im Wesentlichen
oder hauptsächlich dazu verwendet werden, Behinderungen des Menschen
auszugleichen, jedoch nicht ausschließlich dem persönlichen Gebrauch von
Behinderten dienen,
gegen seine
Verpflichtungen aus Art. 98 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.
November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347,
S. 1) in Verbindung mit Anhang III dieser Richtlinie verstoßen hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
2 Art. 96 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Die
Mitgliedstaaten wenden einen Mehrwertsteuer-Normalsatz an, den jeder
Mitgliedstaat als Prozentsatz der Bemessungsgrundlage festsetzt und der
für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich
ist.“
3 Art. 97
Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt, dass „[v]om 1. Januar 2006 bis
zum 31. Dezember 2010 … der Normalsatz mindestens 15 % betragen“ muss.
4 In Art. 98 dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten können einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden.
(2) Die
ermäßigten Steuersätze sind nur auf die Lieferungen von Gegenständen
und die Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien
anwendbar.
…
(3) Zur
Anwendung der ermäßigten Steuersätze im Sinne des Absatzes 1 auf
Kategorien von Gegenständen können die Mitgliedstaaten die betreffenden
Kategorien anhand der Kombinierten Nomenklatur genau abgrenzen.“
5 Art. 99 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die ermäßigten Steuersätze werden als Prozentsatz der Bemessungsgrundlage festgesetzt, der mindestens 5 % betragen muss.“
6 Art. 114 Abs. 1 Unterabs. 1 derselben Richtlinie lautet:
„Mitgliedstaaten,
die am 1. Januar 1993 verpflichtet waren, den von ihnen am 1. Januar
1991 angewandten Normalsatz um mehr als 2 % heraufzusetzen, können auf
die Lieferungen von Gegenständen und auf Dienstleistungen der in
Anhang III genannten Kategorien einen ermäßigten Satz anwenden, der
unter dem in Artikel 99 festgelegten Mindestsatz liegt.“
7 Anhang III
(„Verzeichnis der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen,
auf die ermäßigte MwSt-Sätze gemäß Artikel 98 angewandt werden können“)
der Richtlinie 2006/112 führt in seinen Nrn. 3 und 4 Folgendes auf:
„3. Arzneimittel,
die üblicherweise für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von
Krankheiten und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen verwendet
werden, einschließlich Erzeugnissen für Zwecke der Empfängnisverhütung
und der Monatshygiene;
4. medizinische
Geräte, Hilfsmittel und sonstige Vorrichtungen, die üblicherweise für
die Linderung und die Behandlung von Behinderungen verwendet werden und
die ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten
bestimmt sind, einschließlich der Instandsetzung solcher Gegenstände,
sowie Kindersitze für Kraftfahrzeuge“.
Nationales Recht
8 Art. 91
Abs. 1 Unterabs. 1 Nrn. 5 und 6 des Gesetzes 37/1992 vom 28. Dezember
1992 (BOE Nr. 312 vom 29. Dezember 1992, S. 44247) in seiner auf den
vorliegenden Fall anwendbaren Fassung (im Folgenden:
Mehrwertsteuergesetz) sieht vor, dass ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz
von 8 % auf die Lieferung, auf den innergemeinschaftlichen Erwerb und
auf die Einfuhren der folgenden Gegenstände angewendet wird:
„5.
Medikamente zur tierärztlichen Verwendung und medizinische
Stoffe, die üblicherweise zur Herstellung von Medikamenten verwendet
werden können und dafür geeignet sind.
6. Vorrichtungen
und Zubehörteile, einschließlich Brillen mit Korrekturgläsern und
Kontaktlinsen, die aufgrund ihrer objektiven Eigenschaften im
Wesentlichen oder hauptsächlich dazu dienen können, körperliche
Behinderungen von Menschen oder Tieren auszugleichen, einschließlich
Einschränkungen der Bewegungs- und der Kommunikationsfähigkeit.
Gesundheitsprodukte,
Stoffe, Geräte oder Vorrichtungen, die objektiv nur zur Vorbeugung,
Diagnose, Behandlung, Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Leiden
von Menschen oder Tieren verwendet werden können.
Diese
Kategorie umfasst weder Kosmetika noch Erzeugnisse für die persönliche
Hygiene, abgesehen von Monatsbinden, Tampons und Slipeinlagen.“
9 Nach
Art. 91 Abs. 2 Unterabs. 1 Nr. 3 des Mehrwertsteuergesetzes gilt ein in
Art. 114 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 vorgesehener „besonders
ermäßigter“ Mehrwertsteuersatz, der im Fall des Königreichs Spanien bei
4 % liegt, auf Lieferungen, den innergemeinschaftlichen Erwerb und die
Einfuhren der folgenden Gegenstände:
„Medikamente
zur Verwendung beim Menschen sowie medizinische Stoffe,
Darreichungsformen und Zwischenerzeugnisse, die üblicherweise zur
Herstellung von Medikamenten verwendet werden können und dafür geeignet
sind.“
Vorverfahren
10 Mit
Aufforderungsschreiben vom 22. März 2010 informierte die Kommission das
Königreich Spanien darüber, dass sie die Anwendung des Systems der
ermäßigten Mehrwertsteuersätze nach Art. 91 Abs. 1 Unterabs. 1 Nrn. 5
und 6 sowie nach Art. 91 Abs. 2 Unterabs. 1 Nr. 3 des
Mehrwertsteuergesetzes für einen Verstoß gegen die Verpflichtungen aus
der Richtlinie 2006/112 hielt.
11 In
seiner Antwort vom 28. Mai 2010 machte das Königreich Spanien geltend,
dass die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die in
diesen Bestimmungen des Mehrwertsteuergesetzes aufgeführten Gegenstände
nach den Nrn. 3 und 4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 erlaubt
und daher mit dieser vereinbar sei.
12 Diesen
Schluss stützte das Königreich Spanien zunächst darauf, dass der
Begriff „Arzneimittel“ im Sinne der Nr. 3 des Anhangs III der Richtlinie
2006/112 in Einklang mit der in der nationalen Rechtsordnung geltenden
Definition des Arzneimittels auszulegen sei, die nicht nur die
Medikamente, sondern auch Vorrichtungen und Gesundheitsprodukte umfasse.
Weiter müssten die fertigen Medikamente, die magistralen und die
offizinalen Zubereitungen, die Wirkstoffe und die Darreichungsformen so,
wie sie durch die nationale Gesetzgebung definiert seien, als
„Arzneimittel“ im Sinne der Nr. 3 dieses Anhangs angesehen werden.
Schließlich sei der Begriff der „behinderten“ Person im Sinne der Nr. 4
dieses Anhangs nach den einschlägigen Leitlinien der
Weltgesundheitsorganisation so zu verstehen, dass er sich auf jede
Person beziehe, die unter einer behindernden Krankheit leide.
13 Da
die Kommission von dieser Antwort nicht überzeugt war, übermittelte sie
am 25. November 2010 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der
sie das Königreich Spanien aufforderte, die geeigneten Maßnahmen zu
ergreifen, um dieser Stellungnahme innerhalb einer Frist von zwei
Monaten nach ihrem Eingang nachzukommen.
14 Mit
Schreiben vom 31. Januar 2011 wiederholten die spanischen Behörden
ihren Standpunkt, wonach die streitigen nationalen Bestimmungen mit den
Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 im Einklang stünden.
15 Da diese Antwort die Kommission nicht zufriedenstellte, hat sie beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.
Zur Klage
Vorbemerkungen
16 Zunächst
ist auf die Argumentation des Königreichs Spanien einzugehen, wonach
aufgrund der mangelnden Bestimmtheit der in Anhang III der Richtlinie
2006/112 aufgeführten Kategorien von Gegenständen und Dienstleistungen
eine Vertragsverletzungsklage nicht auf diese Vorschriften gestützt
werden könne und die von der Kommission vorgenommene restriktive
Auslegung der Nrn. 3 und 4 dieses Anhangs demnach nicht gegenüber
anderen Auslegungsmöglichkeiten, insbesondere den auf das nationale
Recht gestützten, bevorzugt werden dürfe.
17 Nach
Auffassung der Kommission sind die Bestimmungen in diesem Anhang
dagegen hinreichend präzise und müssen nach den Grundsätzen der
Einheitlichkeit und der Gleichheit auf Unionsebene autonom und
einheitlich ausgelegt werden. Außerdem sei das Königreich Spanien durch
die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission hinreichend über
den Umfang seiner Verpflichtungen informiert worden.
18 Nach
ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Bestimmungen, die
Ausnahmen von einem allgemeinen Grundsatz darstellen, eng auszulegen
(vgl. insbesondere Urteile vom 12. Dezember 1995, Oude Luttikhuis u. a.,
C‑399/93, Slg. 1995, I‑4515, Randnr. 23, vom 18. Januar 2001,
Kommission/Spanien, C‑83/99, Slg. 2001, I‑445, Randnr. 19, und vom 3.
März 2011, Kommission/Niederlande, C‑41/09, noch nicht in der amtlichen
Sammlung veröffentlicht, Randnr. 58).
19 Auch
hat der Gerichtshof bereits mehrfach entschieden, dass sowohl aus dem
Gebot der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch aus dem
Gleichheitsgrundsatz folgt, dass die Begriffe einer Vorschrift des
Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung
nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der
Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche
Auslegung erhalten müssen (vgl. Urteil vom 21. Dezember 2011, Ziolkowski
und Szeja, C‑424/10 und C‑425/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung
veröffentlicht, Randnr. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
20 Wie
die Kommission geltend gemacht hat, folgt aus den vorstehenden
Erwägungen, dass die Unionsrechtsbestimmungen, die die Anwendung eines
ermäßigten Mehrwertsteuersatzes erlauben, eng auszulegen sind, da sie
den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumen, vom Grundsatz der
Anwendung des normalen Steuersatzes abzuweichen. Außerdem müssen die
Nrn. 3 und 4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 in der gesamten
Union autonom und einheitlich angewendet werden, da sie keinen
ausdrücklichen Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten enthalten.
21 Entgegen
dem Vorbringen des Königreichs Spanien werden diese Feststellungen
nicht dadurch widerlegt, dass in den Nummern des Anhangs III allgemeine
Kategorien von Gegenständen aufgeführt werden, die die Mitgliedstaaten
im Rahmen ihrer nationalen Gesetzgebung präzisieren müssen.
22 Wie
der Generalanwalt in Nr. 25 seiner Schlussanträge festgestellt hat,
sind die Mitgliedstaaten nämlich verpflichtet, die Konturen der in
diesen Nummern definierten Kategorien so, wie sie vom Gerichtshof
ausgelegt werden, zu berücksichtigen, wenn sie die einzelnen Kategorien
von Gegenständen präzisieren, auf die sie einen ermäßigten
Mehrwertsteuersatz anwenden.
Zum ersten
Klagegrund: Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf
medizinische Stoffe, die üblicherweise für die Herstellung von
Medikamenten verwendet werden und dafür geeignet sind
Zur Tragweite des ersten Klagegrundes
– Vorbringen der Parteien
23 Sowohl
in seiner Klagebeantwortung als auch in seiner Gegenerwiderung wendet
sich das Königreich Spanien gegen die Argumentation der Kommission
hinsichtlich der in Art. 91 Abs. 2 Unterabs. 1 Nr. 3 des
Mehrwertsteuergesetzes erwähnten „Zwischenerzeugnisse“.
24 Nach
seiner Auffassung betrifft der erste Klagegrund der Kommission so, wie
er durch das Vorverfahren und durch die Darlegung der Rügen in der
Klageschrift bestimmt worden ist, nur die medizinischen Stoffe unter
Ausschluss der vorgenannten „Zwischenerzeugnisse“.
25 Die
Kommission weist die vom Königreich Spanien in seiner Klagebeantwortung
und seiner Gegenerwiderung hinsichtlich der „Zwischenerzeugnisse“
vorgetragenen Behauptungen zurück und bestätigt, dass sie die Anwendung
eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf diese Erzeugnisse rügt.
– Würdigung durch den Gerichtshof
26 Aus
Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs und aus der
einschlägigen Rechtsprechung ergibt sich, dass die Klageschrift den
Streitgegenstand angeben und eine kurze Darstellung der Klagegründe
enthalten muss und dass diese Angaben so klar und deutlich sein müssen,
dass sie dem Beklagten die Vorbereitung seines Verteidigungsvorbringens
und dem Gerichtshof die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe ermöglichen.
Folglich müssen sich die tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die
eine Klage gestützt wird, zusammenhängend und verständlich unmittelbar
aus der Klageschrift ergeben, und die Anträge der Klageschrift müssen
eindeutig formuliert sein, damit der Gerichtshof nicht ultra petita
entscheidet oder eine Rüge übergeht (vgl. Urteil vom 14. Januar 2010,
Kommission/Tschechische Republik, C‑343/08, Slg. 2010, I‑275, Randnr. 26
und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Auch
wenn die Kommission im vorliegenden Fall die „Zwischenerzeugnisse“
mehrfach in ihrem Aufforderungsschreiben, in ihrer mit Gründen
versehenen Stellungnahme und in ihrer Klageschrift erwähnt hat, ist doch
festzustellen, dass sie diese Erzeugnisse weder in der Darlegung der
Rügen noch in ihren Anträgen erwähnt.
28 Daher
muss der erste Klagegrund der vorliegenden Klage so verstanden werden,
dass die Kommission dem Königreich Spanien lediglich vorwirft, einen
ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf medizinische Stoffe anzuwenden, die
üblicherweise für die Herstellung von Medikamenten verwendet werden
können und dafür geeignet sind.
Zur Begründetheit
– Vorbringen der Parteien
29 Mit
ihrem ersten Klagegrund rügt die Kommission, dass die in Art. 91 Abs. 1
Unterabs. 1 Nr. 5 und Art. 91 Abs. 2 Unterabs. 1 Nr. 3 des
Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene Anwendung eines ermäßigten
Mehrwertsteuersatzes auf medizinische Stoffe, die üblicherweise für die
Herstellung von Medikamenten verwendet werden können und dafür geeignet
sind, unvereinbar mit der Richtlinie 2006/112 sei.
30 Anhang III
Nr. 3 dieser Richtlinie erlaube den Mitgliedstaaten, einen ermäßigten
Mehrwertsteuersatz auf Gegenstände anzuwenden, die bestimmte
Voraussetzungen erfüllten, und zwar zum einen, dass es sich um
„Arzneimittel“ handle, und zum anderen, dass diese Arzneimittel
„üblicherweise für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von
Krankheiten und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen verwendet“
würden.
31 Medizinische
Stoffe seien keine fertigen Produkte und könnten daher nicht als
Arzneimittel angesehen werden, die „üblicherweise für die
Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und
tierärztliche Behandlungen verwendet“ würden.
32 Dies
werde dadurch bestätigt, dass der Unionsgesetzgeber, hätte er in einer
Nummer des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 nicht nur fertige
Produkte, sondern auch die für die Herstellung dieser Produkte
verwendeten Erzeugnisse erfassen wollen, dies ausdrücklich angegeben
hätte.
33 Außerdem
nimmt die Kommission Bezug auf die Definitionen, die in der Richtlinie
2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November
2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel
(ABl. L 311, S. 67) enthalten sind. Aus dieser Richtlinie gehe hervor,
dass magistrale und offizinale Zubereitungen fertige Arzneimittel seien,
während Wirkstoffe, die als jeder in diesem Arzneimittel enthaltene
Stoff definiert seien, keine fertigen Produkte für den Gebrauch bei
Menschen oder Tieren seien.
34 Dagegen
vertritt das Königreich Spanien die Auffassung, dass medizinische
Stoffe „Arzneimittel“ im Sinne des Anhangs III Nr. 3 der Richtlinie
2006/112 seien.
35 In
Ermangelung einer Definition des Begriffs „Arzneimittel“ auf
Unionsebene könnten die Mitgliedstaaten die in ihren nationalen
Rechtsordnungen existierenden Definitionen anwenden. Allerdings erfahre
dieser Begriff in vielen nationalen Gesetzen eine weite Definition,
wonach auch die medizinischen Stoffe erfasst würden.
36 Auch
könnten bestimmte medizinische Stoffe als fertige Produkte vermarktet
werden, ohne dass es erforderlich sei, sie mit anderen Stoffen zu
vermischen.
37 In
ihrer Erwiderung räumt die Kommission ein, dass nichts gegen die
Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf medizinische Stoffe
einzuwenden sei, wenn diese als fertige Arzneimittel für den
unmittelbaren Gebrauch durch den Verbraucher vermarktet würden. In
diesem Zusammenhang weist sie auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs
hin, wonach die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes in dem
Fall, in dem ein Gegenstand für verschiedene Zwecke verwendet werden
könne, für jeden einzelnen Liefervorgang davon abhänge, wofür sein
Käufer ihn konkret einsetze (Urteil Kommission/Niederlande, Randnr. 65).
– Würdigung durch den Gerichtshof
38 Die
Parteien vertreten unterschiedliche Auffassungen bezüglich der
Auslegung des Begriffs „Arzneimittel, die üblicherweise für die
Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und
tierärztliche Behandlungen verwendet werden“ im Sinne des Anhangs III
Nr. 3 der Richtlinie 2006/112. Es geht insbesondere um die Frage, ob
dieser Begriff medizinische Stoffe umfassen kann, die üblicherweise zur
Herstellung von Medikamenten verwendet werden können und dafür geeignet
sind.
39 Wie
die Kommission in ihrer Klageschrift geltend gemacht hat, erlaubt
Anhangs III Nr. 3 der Richtlinie 2006/112, einen ermäßigten
Mehrwertsteuersatz auf Gegenstände anzuwenden, die zwei Voraussetzungen
erfüllen. Zum einen muss es sich um „Arzneimittel“ handeln und zum
anderen müssen diese Arzneimittel „üblicherweise für die
Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und
tierärztliche Behandlungen verwendet werden“.
40 Nach
dem Vorschlag der Kommission ist der Begriff „Arzneimittel“ im Sinne
des Anhangs III vergleichbar mit dem Begriff „Arzneimittel“ nach Art. 1
der Richtlinie 2001/83.
41 Wie
der Generalanwalt in den Nrn. 33 bis 35 seiner Schlussanträge
festgestellt hat, bestehen allerdings bedeutende Unterschiede zwischen
diesen beiden Begriffen.
42 Zunächst
ist festzustellen, dass die Mehrheit der Sprachfassungen der Richtlinie
2001/83 und des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 diese Begriffe
unterschiedlich bezeichnen. So wird in der englischen Sprachfassung
dieser beiden Rechtsakte für den Begriff „Arzneimittel“ im Sinne der
Richtlinie 2001/83 und den Begriff „Arzneimittel“ im Sinne des
Anhangs III der Richtlinie 2006/112 der Ausdruck „medicinal product“
einerseits und der Ausdruck „pharmaceutical product“ andererseits
verwendet. Das Gleiche gilt insbesondere für die spanische
(„medicamento“ und „producto farmacéutico“), die litauische („vaistai“
und „farmacijos gaminiai“), die polnische („produkt leczniczy“ und
„produkty farmaceutyczne“), die rumänische („medicament“ und „produsele
farmaceutice“), die slowenische („zdravilo“ und „farmacevtski izdelki“)
sowie die schwedische („läkemedel“ und „farmaceutiska produkter“)
Sprachfassung. Weiter verfolgt Anhang III der Richtlinie 2006/112
offensichtlich einen anderen Zweck als die Richtlinie 2001/83, da
Letztere die Voraussetzungen für das Inverkehrbringen von
Humanarzneimitteln vereinheitlichen soll. Schließlich ist darauf
hinzuweisen, dass Anhang III Nr. 3 auch den tierärztlichen Gebrauch
erfasst, während die Richtlinie 2001/83 ausschließlich für
Humanarzneimittel gilt.
43 Daher
ist der Begriff „Arzneimittel“ im Sinne des Anhangs III Nr. 3 der
Richtlinie 2006/112 entgegen den Ausführungen der Kommission so
auszulegen, dass er den Begriff „Arzneimittel“ im Sinne der Richtlinie
2001/83 zwar umfasst, aber weiter geht als dieser.
44 Diese
Auslegung stimmt außerdem überein mit dem Begriff „pharmazeutische
Erzeugnisse“, der in Kapitel 30 der Kombinierten Nomenklatur in Anhang I
der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die
zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen
Zolltarif (ABl. L 256, S. 1) in der Fassung der Verordnung (EU)
Nr. 1238/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember
2010 (ABl. L 348, S. 36) verwendet wird und der unter pharmazeutischen
Erzeugnissen nicht nur Arzneiwaren, sondern auch andere pharmazeutische
Zubereitungen und Waren versteht, wie Watte, Gaze, Binden und ähnliche
Erzeugnisse.
45 Außerdem
bezieht sich der letzte Halbsatz der Nr. 3 des Anhangs III der
Richtlinie 2006/112 auf Gegenstände, die nicht vom Begriff
„Arzneimittel“ im Sinne der Richtlinie 2001/83 erfasst sein können, wie
die „Erzeugnisse für Zwecke der Empfängnisverhütung und der
Monatshygiene“.
46 Um
unter die Kategorie nach Anhang III Nr. 3 der Richtlinie 2006/112 zu
fallen, müssen Gegenstände allerdings auch „üblicherweise für die
Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und
tierärztliche Behandlungen verwendet werden“.
47 Daraus
folgt, dass die vorgenannte Nr. 3 nur fertige Produkte erfasst, die vom
Endverbraucher unmittelbar gebraucht werden können, unter Ausschluss
der Erzeugnisse, die für die Herstellung von Medikamenten verwendet
werden können und üblicherweise noch verarbeitet werden müssen.
48 Diese
Auslegung wird bestätigt durch den Zweck des Anhangs III der Richtlinie
2006/112, die Kosten für bestimmte, als unentbehrlich erachtete
Gegenstände zu senken und somit dem Endverbraucher, der die
Mehrwertsteuer letztlich entrichten muss, den Zugang zu diesen zu
erleichtern.
49 Schließlich
besteht, wie der Generalanwalt in Nr. 39 seiner Schlussanträge
hervorgehoben hat, in den Fällen, in denen ein medizinischer Stoff als
fertiges Produkt vermarktet werden kann, ohne dass er mit anderen
Substanzen vermischt werden muss, und er somit vom Endverbraucher
unmittelbar „für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten
und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen“ verwendet werden kann,
kein Grund dafür, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf diesen Stoff
nicht anzuwenden.
50 Daher
ist festzustellen, dass nach Anhang III Nr. 3 der Richtlinie 2006/112
ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz nur dann auf medizinische Stoffe
angewendet werden kann, wenn sie von einem Endverbraucher unmittelbar
für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für
ärztliche und tierärztliche Behandlungen verwendet werden können.
51 Der erste Klagegrund der Kommission ist somit begründet.
Zum
zweiten Klagegrund: Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf
Gesundheitsprodukte, Stoffe, Geräte und Vorrichtungen, die objektiv nur
zur Vorbeugung, Diagnose, Behandlung, Linderung oder Heilung von
Krankheiten oder Leiden von Menschen oder Tieren verwendet werden können
Vorbringen der Parteien
52 Die
Kommission vertritt die Auffassung, dass die nach Art. 91 Abs. 1
Unterabs. 1 Nr. 6 Satz 2 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene
Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Gesundheitsprodukte,
Stoffe, Geräte und Vorrichtungen, die objektiv nur zur Vorbeugung,
Diagnose, Behandlung, Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Leiden
von Menschen oder Tieren verwendet werden können, unvereinbar mit der
Richtlinie 2006/112 sei.
53 Zum
einen sei die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf
medizinische Geräte, die für die tiermedizinische Diagnose und
Behandlung verwendet würden, nach der vorgenannten nationalen Bestimmung
nicht mit Anhang III Nr. 4 der Richtlinie 2006/112 vereinbar, die nur
die Geräte, Hilfsmittel und Vorrichtungen erfasse, die ausschließlich
für den menschlichen Gebrauch bestimmt seien.
54 Zum
anderen sei die Nr. 3 dieses Anhangs nicht anwendbar. Der Begriff
„Arzneimittel“ im Sinne dieser Bestimmung sei nämlich als Synonym des
Begriffs „Arzneimittel“ im Sinne der Richtlinie 2001/83 zu verstehen.
Somit könnten diese Gesundheitsprodukte, medizinischen Vorrichtungen,
Stoffe und Geräte zum allgemeinen Gebrauch nicht unter den Begriff
„Arzneimittel“ im Sinne des Anhangs III Nr. 3 fallen.
55 Dagegen
vertritt das Königreich Spanien die Auffassung, dass die Gegenstände
nach Art. 91 Abs. 1 Unterabs. 1 Nr. 6 Satz 2 des Mehrwertsteuergesetzes
in den Anwendungsbereich des Anhangs III Nr. 3 fielen.
56 Die
in Nr. 3 dieses Anhangs vorgesehene Kategorie umfasse nicht nur
Medikamente, sondern auch Gesundheitsprodukte. Gestützt werde diese
Auslegung dadurch, dass Art. 168 AEUV sich sowohl auf Arzneimittel als
auch auf Medizinprodukte beziehe, und dass demnach beiden Kategorien von
Gegenständen, die unter dem Begriff „Arzneimittel“ im Sinne der Nr. 4
des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 zusammengefasst worden seien,
derselbe Schutz zu gewähren sei.
57 Eine
solche Auslegung nehme der Nr. 4 des Anhangs III der Richtlinie
2006/112 auch nicht jegliche Bedeutung. Die Gesundheitsprodukte nach
dieser Nummer, die „für die Linderung und die Behandlung von
Behinderungen, ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von
Behinderten, verwendet“ würden, seien für eine spezifische Verwendung
gedacht. Es sei somit nicht widersprüchlich, davon auszugehen, dass der
Begriff „Arzneimittel“ im Sinne der Nr. 3 dieses Anhangs nicht nur
Medikamente umfasse, sondern auch Gesundheitsprodukte, die nicht für
eine spezifische Verwendung bestimmt seien, die aber „üblicherweise für
die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche
und tierärztliche Behandlungen verwendet“ würden.
Würdigung durch den Gerichtshof
58 Die
Kommission wirft dem Königreich Spanien vor, einen ermäßigten
Mehrwertsteuersatz auf die Kategorie von Gegenständen angewendet zu
haben, die aus Gesundheitsprodukten, Stoffen, Geräten und Vorrichtungen
besteht, „die objektiv nur zur Vorbeugung bzw. zur Diagnose, Behandlung,
Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Leiden von Menschen oder
Tieren verwendet werden können“.
59 Wie
die Kommission vorgetragen hat, kann nach Anhang III Nr. 4 der
Richtlinie 2006/112 kein ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf diese
Kategorie von Gegenständen angewendet werden, da diese Nummer zum einen
nicht die Gesundheitsprodukte, Stoffe, Geräte und Vorrichtungen erfasst,
die zum allgemeinen Gebrauch bestimmt sind, und zum anderen nur die
Verwendung beim Menschen betrifft, unter Ausschluss der Verwendung beim
Tier.
60 Weiter
muss im Rahmen der Begründetheit des zweiten Klagegrundes der
Kommission untersucht werden, ob die in Art. 91 Abs. 1 Unterabs. 1 Nr. 6
Satz 2 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehenen Gegenstände als
„Arzneimittel“ im Sinne des Anhangs III Nr. 3 der Richtlinie 2006/112
angesehen werden können.
61 Wie
in Randnr. 43 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist der Begriff
„Arzneimittel“ im Sinne dieser Bestimmung so auszulegen, dass er den
Begriff „Arzneimittel“ im Sinne der Richtlinie 2001/83 zwar umfasst,
aber weiter geht als dieser.
62 Allerdings
kann der Argumentation des Königreichs Spanien, wonach der Begriff
„Arzneimittel“ im Sinne von Anhang III Nr. 3 alle Gesundheitsprodukte,
medizinischen Vorrichtungen, Stoffe oder Geräte umfassen könne, die zum
allgemeinen Gebrauch bestimmt seien, nicht gefolgt werden.
63 Nach
der in Randnr. 18 des vorliegenden Urteils erwähnten Rechtsprechung
müssen nämlich nicht nur die in Anhang III der Richtlinie 2006/112
vorgesehenen Kategorien aufgrund des Ausnahmecharakters dieser
Unionsrechtsbestimmung eng ausgelegt werden, sondern die in diesem
Anhang verwendeten Begriffe müssen auch entsprechend ihrer gewöhnlichen
Bedeutung ausgelegt werden. Angesichts der gewöhnlichen Bedeutung des
Begriffs „Arzneimittel“ im allgemeinen Sprachgebrauch kann allerdings
nicht angenommen werden, dass alle Gesundheitsprodukte, Geräte,
Vorrichtungen oder Stoffe für die ärztliche oder tierärztliche
Verwendung von dieser Bestimmung erfasst werden.
64 Diese
Auslegung wird bestätigt durch die Gesamtkonzeption des Anhangs III der
Richtlinie 2006/112 und insbesondere durch den Umstand, dass in Nr. 4
dieses Anhangs Gesundheitsprodukte für eine spezifische Verwendung
besonders erwähnt werden. Wie die Kommission ausgeführt hat, würde
dieser Bestimmung nämlich ihre Bedeutung genommen, wenn die Nr. 3 dieses
Anhangs so ausgelegt würde, dass danach ein ermäßigter
Mehrwertsteuersatz auf alle Gesundheitsprodukte oder medizinischen
Vorrichtungen angewendet werden könnte, ohne dass es auf den Gebrauch
ankäme, für den sie bestimmt sind.
65 Wie
in Randnr. 48 des vorliegenden Urteils ausgeführt, zielt die Anwendung
der ermäßigten Mehrwertsteuersätze insbesondere darauf ab, die Kosten
für bestimmte unentbehrliche Gegenstände im Interesse der Endverbraucher
zu senken. Allerdings dürften die Kosten für Gesundheitsprodukte,
Vorrichtungen, Stoffe sowie ärztliche oder tierärztliche Geräte selten
unmittelbar vom Endverbraucher getragen werden, da diese Produkte
hauptsächlich von Fachleuten aus dem Gesundheitssektor für
Dienstleistungen verwendet werden, die ihrerseits nach Art. 132 der
Richtlinie 2006/112 von der Mehrwertsteuer befreit werden können.
66 Eine
solche Auslegung ist zudem nicht unvereinbar mit Art. 168 AEUV. Auch
wenn es zutrifft, dass Abs. 4 Buchst. c dieses Artikels Arzneimittel und
Medizinprodukte betrifft, besteht ein erheblicher Unterschied zwischen
dem von dieser Bestimmung verfolgten Zweck, nämlich der Festlegung von
hohen Qualitäts- und Sicherheitsstandards, und dem oben dargestellten
Zweck, der mit Anhang III der Richtlinie 2006/112 angestrebt wird.
67 Aus
den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass ein ermäßigter
Mehrwertsteuersatz auf „Gesundheitsprodukte, Stoffe, Geräte oder
Vorrichtungen, die objektiv nur zur Vorbeugung, Diagnose, Behandlung,
Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Leiden von Menschen oder
Tieren verwendet werden können“, weder nach Nr. 4 noch nach Nr. 3 des
Anhangs III der Richtlinie 2006/112 angewendet werden kann.
68 Der zweite Klagegrund der Kommission ist somit begründet.
Zum
dritten Klagegrund: Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf
Gegenstände, die zum Ausgleich von körperlichen Behinderungen von
Tieren verwendet werden
Vorbringen der Parteien
69 Nach
Auffassung der Kommission verstößt die in Art. 91 Abs. 1 Unterabs. 1
Nr. 6 Satz 1 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene Anwendung eines
ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Gegenstände, die verwendet werden,
um körperliche Behinderungen von Tieren auszugleichen, gegen die
Richtlinie 2006/112. Wie die von ihr im Rahmen der ersten beiden
Klagegründe vorgebrachten Argumente verdeutlichten, sei es weder nach
Nr. 3 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 – die auf die Arzneimittel
stricto sensu beschränkt sei – noch nach seiner Nr. 4 – die sich
auf Gegenstände für den menschlichen Gebrauch beschränke – zulässig,
einen solchen Satz auf diese Gegenstände anzuwenden.
70 In
seiner Klagebeantwortung verweist das Königreich Spanien auf die
Antworten, die es im Laufe der einzelnen Abschnitte des Vorverfahrens
vorgebracht und in denen es im Wesentlichen geltend gemacht habe, dass
Anhang III Nr. 3 Gesundheitsprodukte und medizinische Vorrichtungen für
die Verwendung bei Mensch und Tier erfasse.
Würdigung durch den Gerichtshof
71 Zur
Begründetheit des dritten Klagegrundes der Kommission ist zum einen
unter Verweis auf die Ausführungen in den Randnrn. 61 bis 67 des
vorliegenden Urteils darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Arzneimittel“
im Sinne der Nr. 3 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 nicht dahin
ausgelegt werden kann, dass er Vorrichtungen sowie Gesundheitsprodukte
für die ärztliche und tierärztliche Verwendung umfasst.
72 Nach
dieser Bestimmung kann somit kein ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf
Vorrichtungen und auf Zubehörteile angewendet werden, die zum Ausgleich
von körperlichen Behinderungen von Tieren verwendet werden können.
73 Zum
anderen geht aus dem Wortlaut der Nr. 4 dieses Anhangs eindeutig
hervor, dass diese Bestimmung nur medizinische Geräte, Hilfsmittel und
sonstige Vorrichtungen betrifft, die üblicherweise für die Linderung und
die Behandlung von Behinderungen beim Menschen verwendet werden. Das
Wort „Behinderte“, das im zweiten Satz dieser Bestimmung verwendet wird,
bezieht sich nämlich offensichtlich nicht auf Tiere, die unter einer
körperlichen Behinderung leiden, sondern nur auf Personen.
74 Wie
die Kommission zu Recht vorgetragen hat, ist außerdem festzustellen,
dass der Unionsgesetzgeber, hätte er die tierärztliche Ausrichtung
ebenfalls in die Kategorie der Gegenstände nach Nr. 4 dieses Anhangs
einbeziehen wollen, diese ausdrücklich erwähnt hätte, wie er es
insbesondere in Nr. 3 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 getan hat.
75 Daraus
folgt, dass weder nach Nr. 4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112
noch nach seiner Nr. 3 ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf
Vorrichtungen und auf Zubehörteile angewendet werden kann, die zum
Ausgleich von körperlichen Behinderungen von Tieren verwendet werden
können.
76 Der dritte Klagegrund der Kommission ist somit begründet.
Zum
vierten Klagegrund: Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf
Geräte und Zubehörteile, die im Wesentlichen oder hauptsächlich zum
Ausgleich von Behinderungen beim Menschen verwendet werden, jedoch nicht
ausschließlich dem persönlichen Gebrauch der behinderten Personen
dienen
Vorbringen der Parteien
77 Die
Kommission vertritt die Auffassung, dass die in Art. 91 Abs. 1
Unterabs. 1 Nr. 6 Satz 1 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene
Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Vorrichtungen und
Zubehörteile, die im Wesentlichen oder hauptsächlich dazu verwendet
würden, Behinderungen des Menschen auszugleichen, jedoch nicht
ausschließlich dem persönlichen Gebrauch von Behinderten dienten, gegen
die Richtlinie 2006/112 verstoße.
78 In
diesem Zusammenhang weist sie darauf hin, dass Anhang III Nr. 4 der
Richtlinie 2006/112 den Mitgliedstaaten erlaube, einen ermäßigten
Mehrwertsteuersatz auf Gegenstände anzuwenden, die bestimmte
Voraussetzungen erfüllten. Zum einen müssten diese Gegenstände als
„medizinische Geräte, Hilfsmittel und sonstige Vorrichtungen“ angesehen
werden können und zum anderen müssten sie „üblicherweise für die
Linderung und die Behandlung von Behinderungen verwendet werden und …
ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt“
sein.
79 Demnach
umfasse Anhang III Nr. 4 nicht die medizinischen Geräte zum allgemeinen
Gebrauch, sondern lediglich diejenigen, die „ausschließlich für den
persönlichen Gebrauch von Behinderten“ bestimmt seien. Diese Auslegung
werde übrigens durch die im Rahmen des Mehrwertsteuerausschusses
angenommenen Leitlinien bestätigt.
80 Daher
gehe der Anwendungsbereich des Mehrwertsteuergesetzes über den nach der
Richtlinie 2006/112 zulässigen Anwendungsbereich hinaus, soweit nach
diesem Gesetz ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf Vorrichtungen und
Zubehörteile angewendet werde, die „im Wesentlichen oder hauptsächlich
dazu verwendet werden, Behinderungen auszugleichen“.
81 Außerdem
habe das Königreich Spanien in seiner Antwort auf das
Aufforderungsschreiben den Begriff „Behinderung“ insofern überdehnt, als
es diesen Begriff als ein Synonym des Begriffs „Krankheit“ verstanden
habe.
82 Das
Königreich Spanien wendet sich gegen die von der Kommission
vorgeschlagene Auslegung des Begriffs „Behinderung“. In Ermangelung
einer einheitlichen Definition dieses Begriffs auf Unionsebene müssten
die neuesten Konzepte der Weltgesundheitsorganisation angewendet werden.
Unter Anwendung dieser Konzepte müsse jede Person, die unter einer
behindernden Krankheit leide, als eine behinderte Person angesehen
werden. Daher könnten nach einer solchen Definition Personen, die unter
Krankheiten wie AIDS, Krebs oder Nierenversagen litten, als behinderte
Personen angesehen werden, womit eine Diskriminierung der unter diesen
Krankheiten leidenden Personen vermieden werden könne. Allein der
Umstand, dass der vorliegende Fall das Steuerwesen betreffe,
rechtfertige keine abweichende Auslegung.
83 Das
Königreich Spanien vertritt weiter die Auffassung, dass es schwierig
sei, zwischen den Gesundheitsprodukten, die bei Behinderungen behilflich
seien, und denen, die es nicht seien, zu unterscheiden, wobei es sich
erneut darauf beruft, dass eine Vertragsverletzung schwerlich auf die
Bestimmungen des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 gestützt werden
könne, da diese nicht hinreichend bestimmt seien. Schließlich weist es
darauf hin, dass die Leitlinien des Mehrwertsteuerausschusses, auf die
die Kommission in ihrer Klageschrift Bezug nehme, für die Auslegung
nicht bindend seien.
Würdigung durch den Gerichtshof
84 Die
Beurteilung des vierten Klagegrundes der Kommission setzt eine
Beantwortung der Frage voraus, ob Anhang III Nr. 4 der Richtlinie
2006/112 anwendbar ist auf Vorrichtungen und Zubehörteile, die nicht
ausschließlich dem persönlichen Gebrauch von Behinderten dienen, aber im
Wesentlichen oder hauptsächlich dazu verwendet werden, die
Behinderungen dieser Personen auszugleichen.
85 Aus
dem Wortsinn selbst der Begriffe „persönlich“ und „ausschließlich“, die
in Nr. 4 des Anhangs III enthalten sind, ergibt sich, dass diese Nummer
keine Produkte erfasst, die zum allgemeinen Gebrauch bestimmt sind.
86 Somit
vermag der in Randnr. 48 des vorliegenden Urteils dargelegte Zweck, die
Kosten bestimmter unentbehrlicher Gegenstände für den Endverbraucher zu
senken, nicht die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf
Gesundheitsprodukte zu rechtfertigen, die zum allgemeinen Gebrauch
bestimmt sind und von Krankenhäusern und Fachleuten der
Gesundheitsdienste verwendet werden.
87 Dieser
Schluss wird nicht durch die Argumentation des Königreichs Spanien in
Frage gestellt, wonach bestimmte Produkte und Vorrichtungen sowohl zum
allgemeinen Gebrauch bestimmt sein als auch ausschließlich dem
persönlichen Gebrauch von Behinderten dienen können. In dieser Hinsicht
genügt es, auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hinzuweisen, wonach
die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes in einem Fall, in
dem ein Gegenstand für unterschiedliche Zwecke verwendet werden kann,
für jeden einzelnen Liefervorgang davon abhängt, zu welchem konkreten
Zweck der Käufer diesen Gegenstand verwendet (vgl. entsprechend Urteil
Kommission/Niederlande, Randnr. 65).
88 Daraus
folgt, dass nach Anhang III Nr. 4 der Richtlinie 2006/112 kein
ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf Vorrichtungen und Zubehörteile
angewendet werden kann, die im Wesentlichen oder hauptsächlich dazu
verwendet werden, Behinderungen des Menschen auszugleichen, jedoch nicht
ausschließlich dem persönlichen Gebrauch von Behinderten dienen.
89 Somit ist der vierte Klagegrund begründet und der Klage der Kommission stattzugeben.
90 Nach alledem ist festzustellen, dass das Königreich Spanien durch die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes
– auf
medizinische Stoffe, die üblicherweise für die Herstellung von
Medikamenten verwendet werden können und dafür geeignet sind,
– auf
Gesundheitsprodukte, Stoffe, Geräte oder Vorrichtungen, die objektiv
nur zur Vorbeugung, Diagnose, Behandlung, Linderung oder Heilung von
Krankheiten oder Leiden von Menschen oder Tieren verwendet werden
können, jedoch nicht üblicherweise für die Linderung und die Behandlung
von Behinderungen verwendet werden und ausschließlich für den
persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt sind,
– auf
Vorrichtungen und Zubehörteile, die im Wesentlichen oder hauptsächlich
dazu dienen können, körperliche Behinderungen von Tieren auszugleichen,
– und
schließlich auf Vorrichtungen und Zubehörteile, die im Wesentlichen
oder hauptsächlich dazu verwendet werden, Behinderungen des Menschen
auszugleichen, jedoch nicht ausschließlich dem persönlichen Gebrauch von
Behinderten dienen,
gegen seine Verpflichtungen aus Art. 98 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit ihrem Anhang III verstoßen hat.
Kosten
91 Nach
Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die
Verurteilung des Königreichs Spanien beantragt hat und dieses mit seinem
Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Durch die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes
– auf medizinische Stoffe, die üblicherweise für die Herstellung von Medikamenten verwendet werden können und dafür geeignet sind,
– auf
Gesundheitsprodukte, Stoffe, Geräte oder Vorrichtungen, die objektiv
nur zur Vorbeugung, Diagnose, Behandlung, Linderung oder Heilung von
Krankheiten oder Leiden von Menschen oder Tieren verwendet werden
können, jedoch nicht üblicherweise für die Linderung oder die Behandlung
von Behinderungen verwendet werden und ausschließlich für den
persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt sind,
– auf
Vorrichtungen und Zubehörteile, die im Wesentlichen oder hauptsächlich
dazu dienen können, körperliche Behinderungen von Tieren auszugleichen,
– und
schließlich auf Vorrichtungen und Zubehörteile, die im Wesentlichen
oder hauptsächlich dazu verwendet werden, Behinderungen des Menschen
auszugleichen, jedoch nicht ausschließlich dem persönlichen Gebrauch von
Behinderten dienen,
hat das
Königreich Spanien gegen seine Verpflichtungen aus Art. 98 der
Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das
gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit ihrem Anhang III
verstoßen.
2. Das Königreich Spanien trägt die Kosten.
Unterschriften
Quelle