Hamburg/Berlin, 2./3./7.2.2012. Das deutsche Bundesverfassungsgericht urteilte im Jahr 2006: das Sportwettenmonopol der Bundesländer ist verfassungswidrig. Rechtmäßig wäre es aber bei konsequenter Ausrichtung am Spielerschutz. Seit dem rückte das krankhafte Spielen in den öffentlichen Raum, heißt es im Vorwort zum Programm der zweitägigen Fachtagung in den Hamburger Mozartsälen Anfang Februar 2012. (Link)
Gefördert von der Freien und Hansestadt Hamburg, Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz, http://www.hamburg.de/bsg/ präsentierten knapp zwei Dutzend Wissenschaftler/innen ihre Studien und Forschungspläne unter dem Arbeitstitel: "Die Glücksspielsucht-Forschung der Bundesländer – wissenschaftliche Erkenntnisse für Prävention, Hilfe und Politik" (Link). Etwa 200 geladene Berufsvertreter der Glücksspielsuchtprävention aus unterschiedlichen Institutionen, Landesministerien und Unternehmen hörten zu oder diskutierten mit.
Die Hamburger Senatorin für Gesundheit und Verbraucherschutz, Cornelia Prüfer-Storcks, eröffnete am Donnerstag den zweitägigen Kongress. Laut Urteil vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) von 2010 kann das Glücksspielmonopol in Deutschland erhalten bleiben, das sei gut für die Kultur- und die Sportvereine sowie für den präventiven Suchtschutz. Alles Einrichtungen, die mit den staatlichen Einnahmen unterstützt werden, aber der "Widerspruch zur Sportwettenerlaubnis" bleibe bestehen, so die Hamburger Senatorin Prüfer-Stocks. Beifall im Saal. "Wenigstens werden diese zukünftig besteuert".
Tilmann Becker nahm in seinem Vortrag: "Der Glücksspielvertrag – eine Erfolgsgeschichte aus Sicht der Forschung?", nicht nur das bestehende Spielersperren-Verfahren im Zusammenhang mit Hinblick auf die modernen Spielmöglichkeiten und damit auch Spielsuchtgefahren und wechselnden Spielerbiografien stark in die Kritik. Es fehlten Regeln, Spielersperren wieder aufzuheben, wenn jemand eine Sperre bei einer Spielbank einreichte. Außerdem, wie sollen die Ausweichspielhallen miteinbezogen werden? Becker schlug eine bundesweite Dienstleistungsstelle vor, bei der die Daten der gesperrten Spieler bearbeitet werden könnten. Dazu müssten die Erteiler von Sperren die Daten an diese Stelle weiterleiten. Becker sieht seinen Vorschlag als einen von vielen Neuanfängen, denn "man muss an die Spielverordnung (SpielV) ran."
Ganz am Anfang sind die Wissenschaftler auch bei der Frage, wie die individuellen Spielbedürfnisse und der Spaß am Spielen mit der Suchtprävention und den Vorgaben von staatlichen Stellen oder Interessensverbänden wie die Caritas in Einklang zu bringen sind. Die Caritas schult seit 2008 Mitarbeiter von Spielbanken und Lottogesellschaften, um Spielsüchtige zu erkennen. Seit 2010 ist das Bistum Berlin der Caritas in einer umstrittenen Schulungskooperation mit der Automatenwirtschaft.
Die neuen Glücksspiel- und Spielhallengesetze der Länder bringen die Automatendienstleister und Produzenten in Bedrängnis. Ende 2011 investierte die Automatenwirtschaft (AWI) ein kostspieliges Werbeformat in dem Magazin "Der Journalist" und schaltete in großen Tageszeitungen Anzeigen, die zum verantwortungsvollen Spielen aufforderten. Die Vorwürfe, mit dem Spielsuchtverhalten der Kunden Milliarden zu verdienen, weisen Branchenvertreter erwartungsgemäß vehement zurück.
Diesen und anderen Fragen ging der Wissenschaftler Hans-Jürgen Rumpf von der Universität Lübeck, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, auf andere Art nach. Rumpf brachte den Kollegen und Gästen die Ergebnisse einer Studie mit: "Prävalenz der Internetabhängigkeit (PINTA)", Persönlichkeitsstörungen mit und ohne temporärer, aber nicht vollständiger Genesung, der sogenannten Remission.
Grundlage dafür war die Studie "Pathologisches Glücksspielen und Epidemiologie (PAGE)". Rumpf beleuchtete die Datenanalyse von Internetsüchtigen und krankhaftem Spielerverhalten im Internet. Der nur schwer verständliche Fachbeitrag gehörte zum Tagesordnungspunkt Epidemiologie, worunter laut Wikipedia auch die Volkskrankheitskunde von Verhaltensstörungen verstanden wird.
Zur Erhebungs- und Auswertungsmethodik heißt es, PAGE wurde im Rahmen des Glücksspielstaatsvertrages von den Bundesländern gefördert und vom 1.12.2009 bis 28.2.2011 durchgeführt. Der multimodale Rekrutierungsansatz von PAGE beinhaltete unter anderem eine bundesweite telefonische Befragung, die auch Handynutzer ohne Festnetzanschluss umfasste. Mehr zur PINTA-Studie finden Sie hier.
Der Vorstand des Fachbeirats Glücksspielsucht, Professor Jobst Böning, ließ sich in seiner nicht im Programm angekündigten Rede einen Seitenhieb gegen den Bundestagsabgeordneten Siegfried Kauder (CDU), Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (DBT), nicht nehmen. Kauder hatte sich Mitte Januar zu einer begeisterten Lobesrede für die Automatenunternehmen der Gauselmann-Gruppe auf der jährlich stattfindenden Internationalen Fachmesse für Unterhaltungs- und Warenautomaten "IMA" (Rede auf GamesundBusiness.de) in Düsseldorf hinreißen lassen. Böning kritisierte am Donnerstag überraschend und unterhaltsam die wenig mandatsbedingte Neutralität von Siegfried Kauder auf der IMA-Messe und habe gleich nach bekannt werden mit einigen Mitgliedern des Rechtsausschusses gesprochen, sagte Böning gegenüber dem Demokratie Spiegel.
Für eine Kollegin sprang Ingo Fiedler von der Universität Hamburg, Institut für Recht und Wirtschaft, Arbeitsbereich Glücksspiel (Link) ein. Fiedler stellte gleich zwei wissenschaftliche Projekte vor. Das eine drehte sich um sein Forschungsthema, ob Glücksspiele vom Zufall abhängen oder von der Geschicklichkeit des Spielers ( Link). Fiedler zweifelt die trennenden Rechtsbegriffe an, findet Übergänge gegeben beim Poker-Spiel beispielsweise, wo die Geschicklichkeit durchaus eine Rolle spiele. Damit lägen rechtliche Unsicherheiten vor. Martin Reeckmann, Kongressteilnehmer für den Bundesverband der privaten Spielbanken (BupriS), bemerkte in der Fragerunde, dass Fiedler mit seiner Arbeit die Einordnung des Pokerspiels als Glücksspiel letztlich bestätigt habe. Reeckmann wies auch darauf hin, dass sich aus den Erkenntnissen von Fiedler unmittelbarer Regelungsbedarf für Online-Poker ergäbe.
Professor Gerhard Meyer, Universität Bremen, Institut für Psychologie und Kognitivforschung (IPK), zweifelte ebenfalls die Durchsetzbarkeit des Verbots von Online-Poker an. Er bezog sich dabei auf den Wunsch, die Finanzströme der Internetanbieter trockenzulegen. Reeckmann teilte diese Zweifel und wies darauf hin, dass der Gesetzgeber das Online-Glücksspiel und die Spielhallen noch immer nicht dem Geldwäscherecht unterworfen habe.
Das wäre alles richtig, wenn der Staat nicht seine Angebote weiter ausweiten würde ! weiterlesen
Wie der Kika-Fall zeigt, schützt auch staatliches Glücksspiel nicht vor Spielsucht! (s.a. BGH zur Kontrollpflicht der Spielbanken vom 20.10.2011, III ZR 251/10) weiterlesen
Die Länder sind bereits zweimal – vor dem Bundesverfassungsgericht 2006 und dem Europäischen Gerichtshof 2010 – gescheitert, weil sie die angeführte Suchtbekämpfung nicht zur tatsächlichen Leitschnur des Glücksspielrechts gemacht haben, sondern inkohärent blieben.
"Der Vertrag dient allein fiskalischen Interessen der Länder, verfolgt keine konsistente Glücksspielpolitik und verstößt in allen Punkten (Erlaubnisvorbehalt, Verbot der länderübergreifenden Lotterieveranstaltung und -vermittlung, Werbe- und Internetverbot) gegen deutsches und europäisches Wettbewerbsrecht und die Verfassung." Prof. Dr. Georg Hermes, Universität Frankfurt am Main weiterlesen
Die Deutungshoheit über die Rechtmäßigkeit liegt beim Europäischen Gerichtshof, der am 8.9.2010 die Rechtswidrigkeit des Staatlichen Monopols für Sportwetten und Lotterien feststellte. "Es stehen fiskalische Gründe im Vordergrund und nicht die behauptete Spielsuchteindämmung! - Der GlüStV erreiche nicht das Ziel des Staatsmonopols" (vgl. Carmen Media Group Ltd. Rn 71) Bis zu einer unionsrechtskonformen Neuregelung bleibt § 4 Abs. 4 GlüStV und damit das Internetveranstaltungs- und Internetvermittlungsverbot für Glücksspiele unanwendbar. (Rn 100) Auch die Vorschriften, die bislang das staatliche Monopol erhalten haben, § 4 Abs. 1, § 10 Abs. 2, 5 GlüStV, können aufgrund des Unionsrechtsverstoßes nach Verkündung des Urteils in der Rechtssache Carmen Media Group Ltd. nicht mehr angewendet werden (Rn 71)
Alle beschränkenden Regelungen des deutschen Glücksspiel-Staatvertrags dürfen wegen des Vorrangs des Europarechts bis zur Herstellung einer europarechtskonformen Sach- und Rechtslage nicht mehr angewandt werden. Anders als nach deutschem Recht gibt es nach den klaren Ausführungen des Gerichtshofs in der Rechtssache Winner Wetten, Rn 61, 67ff keine Übergangsregelung und keine vorübergehende Weitergeltung europarechtswidrigen Rechts. Pressemitteilung Nr.: 78/10 des EuGH vom 08.09.2010
Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.09.2010 in den verb. Rechtssachen
Markus Stoß (C‑316/07)
Avalon Service‑Online‑Dienste GmbH (C‑409/07)
Olaf Amadeus Wilhelm Happel (C‑410/07)
Kulpa Automatenservice Asperg GmbH (C‑358/07)
SOBO Sport & Entertainment GmbH (C‑359/07)
Andreas Kunert (C‑360/07)
Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.09.2010 in der Rechtssache C‑46/08
Carmen Media Group Ltd.
Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.09.2010 in der Rechtssache C-409/06
Winner Wetten GmbH
weitere aktuelle EuGH-Urteile: Zeturf - Dickinger
Mit den Urteilen, wurde die Inkohärenz der Glücksspielpolitik insgesamt, also die Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der Regelung und die Inkonsistenz, durch die fehlende Rechtstreue der Monopolbetriebe und damit die Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit des GlüStV festgestellt. Dadurch, dass in unzulässiger Weise Grundrechte beschränkt werden, wird auch gegen das Willkürverbot und die Grundsätze der Diskriminierungsfreiheit und Verhältnismäßigkeit verstoßen. Der Eingriff in die Grundrechte wäre nur dann zu rechtfertigen, wenn sie durch ein übergeordnetes zulässiges Ziel gerechtfertigt wären. Da es im Bereich der klassischen Lotterieveranstaltung kein signifikantes Suchtproblem gibt, sind diese Restriktionen mit dem Grund- und Gemeinschaftsrecht unvereinbar. weiterlesen
Eine Verbotsverfügung ist als unverhältnismäßig anzusehen, wenn diese über das hinausgeht, was zur Bekämpfung einer möglichen Spielsucht erforderlich ist.
(vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. November 2003, Gambelli u. a., C-243/01, Slg. 2003, I-13031, Randnr. 74, vom 6. März 2007, Placanica u. a., C-338/04, C-359/04 und C-360/04, Slg. 2007, I-1891, Randnr. 62, und Kommission/Spanien, Randnr. 39).
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"Einarmige Banditen" in staatlichen Spielbanken sind bis zu siebenmal riskanter als Geldspielgeräte in gewerblichen Spielstätten.
Das Risiko krankhaften Spielens ist bei den "Einarmigen Banditen" (Slotmachines) in den staatlichen Spielbanken mindestens siebenmal so hoch wie bei den Geldspielgeräten, die in Spiel- und Gaststätten betrieben werden. mehr
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Der geschäftsführende Vorsitzende des Bundesverbandes privater Spielbanken, Martin Reeckmann (s.o.):
Die Bedeutung der Spielsucht im Glücksspielrecht
Spielsucht hat keine messbaren größeren negativen Auswirkungen auf die Bevölkerung und Gesellschaft als andere verhaltensbedingte, stoffgebundene Süchte wie Arbeitssucht, Computer-/Internetsucht, Esssucht, Kaufsucht, Sexsucht, Sportsucht. Spielsucht hat ferner keine auch nur annähernd so großen negativen Auswirkungen auf Bevölkerung und Gesellschaft wie der stoffgebundene Konsum von Tabak und Alkoholmissbrauch nicht zu staatlichen Monopolen auf Anbieterseite geführt. Spielsucht wird von interessierter Seite als einzige Suchtform zur (nachträglichen) Begründung eines staatlichen Monopols herangezogen. (s V.S.22, Reeckmann-Bedeutung der Spielsucht) pdf-download
Weitere Publikationen von Rechtsanwalt Martin Reeckmann, Regierungsdirektor a.D.
Regelungen für Glücksspiel - Jeder gegen jeden
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Rechtsprechungssammlung der Forschungsstelle Glücksspiel, UNI-Hohenheim