Mittwoch, 8. September 2010

Pressemitteilung Nr: 78/10 des Europäischen Gerichtshofs

Mit dem im Rahmen der Organisation von Sportwetten und Lotterien in Deutschland errichteten staatlichen Monopol wird das Ziel der Bekämpfung der mit Glücksspielen verbundenen Gefahren nicht in kohärenter und systematischer Weise verfolgt

In Deutschland sind die Zuständigkeiten im Spielsektor zwischen dem Bund und den Ländern aufgeteilt. In den meisten Ländern besteht ein regionales Monopol auf die Veranstaltung von Sportwetten und Lotterien, während die Veranstaltung von Pferdewetten und der Betrieb von Spielautomaten sowie Spielkasinos privaten Betreibern übertragen ist, die über eine Erlaubnis hierfür verfügen. Mit dem am 1. Juli 2004 in Kraft getretenen Staatsvertrag zum Lotteriewesen in Deutschland haben die Länder einen einheitlichen Rahmen für die Veranstaltung von Glücksspielen geschaffen; hiervon ausgenommen sind Spielkasinos. Im Anschluss an ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde dieser Vertrag durch den am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Glücksspielstaatsvertrag ersetzt. Nach diesem Vertrag ist jede Veranstaltung oder Vermittlung von Glücksspielen im Internet verboten.

In den vorliegenden Rechtssachen ersuchen mehrere deutsche Gerichte den Gerichtshof, sich zur Vereinbarkeit der Glücksspielregelung in Deutschland mit dem Recht der Union zu äußern.

In den verbundenen Rechtssachen C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07 haben die Verwaltungsgerichte Gießen und Stuttgart über Rechtsstreitigkeiten zwischen Vermittlern von Sportwetten und deutschen Behörden zu entscheiden, die diesen Vermittlern untersagt haben, in Hessen bzw. in Baden-Württemberg Sportwetten anzubieten, die von den österreichischen Unternehmen Happybet Sportwetten und Web.coin, dem maltesischen Unternehmen Tipico, der britischen Gesellschaft Happy Bet und der in Gibraltar ansässigen Gesellschaft Digibet veranstaltet werden. Diese Unternehmen verfügen in ihren jeweiligen Heimatländern über Erlaubnisse zur Veranstaltung von Sportwetten.

In der Rechtssache C-46/08 hat das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht darüber zu entscheiden, ob das Land Schleswig-Holstein den Antrag des Unternehmens Carmen Media Group, seine Sportwetten in Deutschland über das Internet anbieten zu dürfen, zu Recht zurückgewiesen hat, obwohl dieses Unternehmen in Gibraltar, wo es seinen Sitz hat, bereits über eine "off-shore-Lizenz" verfügt, die ihm das Veranstalten von Wetten nur außerhalb Gibraltars gestattet.

In der Rechtssache C-409/06 schließlich ist das Verwaltungsgericht Köln mit einem Rechtsstreit zwischen einem Vermittler für Sportwetten, der für Rechnung des maltesischen Unternehmens Tipico tätig ist, und den deutschen Behörden befasst worden. Dieses Gericht möchte vom Gerichtshof wissen, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts vor den nationalen Rechtsordnungen es zulässt, dass die Mitgliedstaaten eine Regelung über ein staatliches Sportwettenmonopol, das unzulässige Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs mit sich bringt, ausnahmsweise während einer Übergangszeit weiterhin anwenden.

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die deutsche Regelung über Sportwetten eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs und der Niederlassungsfreiheit darstellt.

Er weist allerdings darauf hin, dass eine solche Beschränkung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses wie der Vermeidung von Anreizen zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen und der Bekämpfung der Spielsucht gerechtfertigt sein kann.

Die nationalen Maßnahmen, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen, müssen aber zu ihrer Verwirklichung geeignet sein und dürfen nur solche Beschränkungen vorsehen, die dafür erforderlich sind.

Insoweit ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, in dem Bestreben, die Spiellust und den Betrieb der Spiele in kontrollierte Bahnen zu lenken, staatliche Monopole zu schaffen. Insbesondere lassen sich mit einem solchen Monopol die mit dem Glücksspielsektor verbundenen Gefahren wirksamer beherrschen als mit einem System, in dem privaten Veranstaltern die Veranstaltung von Wetten unter dem Vorbehalt der Einhaltung der in dem entsprechenden Bereich geltenden Rechtsvorschriften erlaubt würde.

Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Umstand, dass von verschiedenen Arten von Glücksspielen einige einem staatlichen Monopol und andere einer Regelung unterliegen, nach der privaten Veranstaltern eine Erlaubnis erteilt wird, für sich genommen die Kohärenz des deutschen Systems nicht in Frage stellen kann. Diese Spiele weisen nämlich unterschiedliche Merkmale auf.

Gleichwohl haben die deutschen Gerichte nach Ansicht des Gerichtshofs angesichts der von ihnen in den vorliegenden Rechtssachen getroffenen Feststellungen Grund zu der Schlussfolgerung, dass die deutsche Regelung die Glücksspiele nicht in kohärenter und systematischer Weise begrenzt. Zum einen führen nämlich die Inhaber der staatlichen Monopole intensive Werbekampagnen durch, um die Gewinne aus den Lotterien zu maximieren, und entfernen sich damit von den Zielen, die das Bestehen dieser Monopole rechtfertigen. Zum anderen betreiben oder dulden die deutschen Behörden in Bezug auf Glücksspiele wie Kasino- oder Automatenspiele, die nicht dem staatlichen Monopol unterliegen, aber ein höheres Suchtpotenzial aufweisen als die vom Monopol erfassten Spiele, eine Politik, mit der zur Teilnahme an diesen Spielen ermuntert wird. Unter diesen Umständen lässt sich das präventive Ziel des Monopols nicht mehr wirksam verfolgen, so dass das Monopol nicht mehr gerechtfertigt werden kann.

Im Übrigen weist der Gerichtshof darauf hin, dass die dieses Monopol betreffende nationale Regelung, die gegen die Grundfreiheiten der Union verstößt, auch während der Zeit, die erforderlich ist, um sie mit dem Unionsrecht in Einklang zu bringen, nicht weiter angewandt werden darf.

Schließlich legt der Gerichtshof dar, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung des Niveaus des Schutzes gegen die von Glücksspielen ausgehenden Gefahren über einen weiten Wertungsspielraum verfügen. Daher – und in Ermangelung jeglicher gemeinschaftlicher Harmonisierung dieses Bereichs – sind sie nicht verpflichtet, die von anderen Mitgliedstaaten im Glücksspielsektor erteilten Erlaubnisse anzuerkennen. Aus den gleichen Gründen und angesichts der Gefahren, die im Internet angebotene Glücksspiele im Vergleich zu herkömmlichen Glücksspielen aufweisen, können die Mitgliedstaaten auch das Anbieten von Glücksspielen im Internet verbieten.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union
veröffentlicht am: 08.09.2010 10:54

EuGH-Urteile vom 08.09.2010

Europäischer Gerichtshof kippt deutsches Sportwettenmonopol
Deutsche Regelung begrenzt Glücksspiele nicht in wirksamer und systematischer Weise
Das deutsche Glücksspielmonopol ist unwirksam und ab sofort ungültig. weiterlesen

Für niemanden kam die Entscheidung des EUGH überraschend.
Die Kommission hat seit 4.4.2006 in mehreren Schreiben: " IP/06/436 v. 4. April 2006, IP/08/119 31. Januar 2008 auf die Gemeinschaftswidrigkeit hingewiesen"Übersicht der Kommission; EuGH-Vorlagebeschluß des VG Schleswig-Holstein, Az.: 12 A 102/06 (Vertragsverletzungsverfahren - freier Dienstleistungsverkehr); mehr in diesem Blog ab Januar 2010 hier und hier.

Stellungnahme des EU-Kommissars McCreevy zum Vertragsverletzungsverfahren
gegen die Bundesrepublik Deutschland

Stellungnahme der EU Kommission zur Auslegung von Artikel 49 EG vom 19.05.2008

Stellungnahme des Bundeskartellamts zum Entwurf des GStV AG

EU-Kommission Binnenmarkt und Dienstleistungen
Stellungnahme zu dem notifizierten Entwurf für einen Staatsvertrag zum Glücksspielwesen

Schreiben des EU-Kommissars Günter Verheugen an die Bundesregierung
Kritik und ausführliche Stellungnahme zum Glücksspielstaatsvertrag

Ergänzendes Aufforderungsschreiben des EU Kommissars McCreevy an die Bundesregierung

Bereits mit dem Gutachten über europa- und verfassungsrechtliche Aspekte zum Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in Deutschland (Glücksspielstaatsvertrag – GlüStV) vom 11. Oktober 2007 wurde die Rechtmäßigkeit angezweifelt:
„Insgesamt ist als Ergebnis der vorliegenden Prüfung festzustellen, dass gegen zentrale Teile des Glücksspielstaatsvertrags rechtliche Bedenken bestehen, aus denen sich ein beträchtliches Risiko für den gesamten Bestand des Glücksspielstaatsvertrags ergeben kann.“
Schleswig-Holsteinischer Landtag
Wissenschaftlicher Dienst
Prof. Dr. Johannes Caspar
– L 201 – 177/16 –


Auszug aus der Publikation von Rechtsanwalt Martin Reeckmann, Regierungsdirektor a.D. vom 19. Februar 2004
Staatsvertrag zum Lotteriewesen in Deutschland:
Polizeirecht der Länder oder Wirtschaftsrecht des Bundes?

7.4 Die Prüfungsmaßstäbe des EuGH

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hätte ebenfalls eine eingehende Begründung für die Restriktionen erfordert, zumal sie nicht nur private Anbieter aus Deutschland, sondern aus dem gesamten Gemeinschaftsgebiet der Europäischen Union betreffen.

Der EuGH hat sich bereits mehrfach mit Fragen des Glücksspiels befasst. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann als gesichert gelten, dass Glücksspielangebote Dienstleistungen im Sinne der Europäischen Verträge sind. Der EuGH hat zugleich den Mitgliedstaaten wegen der besonderen Natur des Glücksspielwesens einen nationalen Regelungsvorbehalt bis hin zum vollständigen Verbot von Glücksspielen zugestanden. Er hat dieses Zugeständnis aber mit der Klarstellung verbunden, dass eine hieraus folgende Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit nur zulässig ist, wenn sie
in erster Linie wirklich dem Ziel dient, die Gelegenheiten zum Spiel zu vermindern, und wenn die Finanzierung sozialer Aktivitäten mit Hilfe einer Abgabe auf die Einnahmen aus genehmigten Spielen nur eine erfreuliche Nebenfolge, nicht aber der eigentliche Grund der betriebenen restriktiven Politik ist.

Diese Grundsätze hat der EuGH zuletzt in der Rechtssache C-243/01 (Gambelli) bekräftigt und vertieft.

Der EuGH hat betont, dass nach seiner Rechtsprechung die Beschränkungen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein müssen, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Auf jeden Fall müssen sie in nicht diskriminierender Weise angewandt werden.

Soweit die Behörden eines Mitgliedstaats die Verbraucher dazu anreizen und ermuntern, an Lotterien, Glücksspielen oder Wetten teilzunehmen, damit der Staatskasse daraus Einnahmen zufließen, können sich die Behörden dieses Staates nicht im Hinblick auf die Notwendigkeit, die Gelegenheiten zum Spiel zu vermindern, auf die öffentliche Sozialordnung berufen.

Der EuGH hat zudem die Frage aufgeworfen, ob mit Strafandrohungen von Freiheitsstrafe bewehrte Beschränkungen über das zur Betrugsbekämpfung Erforderliche hinausgehen.

Der Ausschluss von auf den reglementierten Märkten der anderen Mitgliedstaaten notierten Kapitalgesellschaften mit dem Ziel der Betrugsbekämpfung kann nach Ansicht des EuGH, da es vor allem andere Mittel gibt, die Konten und Tätigkeiten solcher Gesellschaften zu kontrollieren, sich als eine Maßnahme erweisen, die über das zur Betrugsverhinderung Erforderliche hinausgeht.

Der EuGH gibt ferner zu bedenken, ob eine nationale Regelung angesichts ihrer konkreten Anwendungsmodalitäten - also der Verwaltungspraxis - tatsächlich den Zielen Rechnung trägt, die sie rechtfertigen könnten, und ob die mit ihr auferlegten Beschränkungen nicht außer Verhältnis zu diesen Zielen stehen.

Diese Formulierungen des EuGH geben mehr als nur eine Tendenz zu erkennen, wie der EuGH Sachverhalte wie den des ihm vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens bewertet wissen will.

Nationale Behörden und Gerichte, die mit einer entsprechenden Fragestellung befasst sind, werden die vom EuGH angeführten Gesichtspunkte berücksichtigen müssen. Mit dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 09.02.2004 liegt eine erste obergerichtliche Entscheidung vor, die diesen Anforderungen Rechnung trägt. Nach Ansicht des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs liegt ein Verstoß der gesetzlichen Bestimmungen in Hessen, wonach die Veranstaltung von Sportwetten ausschließlich dem Land Hessen und die Vermittlung der Wetten nur den von ihm zugelassenen Annahmestellen vorbehalten ist, gegen Gemeinschaftsrecht nämlich schon deshalb nahe, weil "staatliche Lotteriegesellschaften im gesamten Bundesgebiet … in Sportstätten und Medien eine breit angelegte Werbung zur Teilnahme an Oddset-Sportwetten (Sportwetten mit von vornherein feststehenden Gewinnquoten) betreiben, um mit den Einnahmen kostenintensive öffentliche Vorhaben und Veranstaltungen, u.a. die Fußballweltmeisterschaft 2006, zu finanzieren oder zu unterstützen und Haushaltsdefizite auszugleichen."

Angesichts der Vielzahl und Deutlichkeit gerichtlich formulierter Prüfungsmaßstäbe der obersten nationalen Gerichte und des EuGH wäre es daher erforderlich gewesen, die mit dem Staatsvertrag vorgesehenen erheblichen Beschränkungen von Freiheitsrechten eingehend zu begründen. Stattdessen begnügt sich die Begründung des Staatsvertrages mit "Einschätzungen und Prognosen", die erst später einer Prüfung unterzogen werden sollen, ohne dass insoweit eine Selbstverpflichtung sanktioniert wäre. Allerdings wäre es den Autoren des Staatsvertrages kaum möglich gewesen, fundierte Angaben in die Begründung einzuarbeiten, da die verfügbaren Daten die Regelungsabsichten des Staatsvertrages nicht rechtfertigen können.

update v. 09.12.2011

Für die Begründung eines Veranstaltungsmonopols mit Suchtgefahren gibt es keine Rechtsgrundlage. Das sei von zahlreichen Gerichten bestätigt worden. So hatte unter anderem das Verwaltungsgericht Halle in einem mittlerweile rechtskräftigen Urteil (Az.: 3 A 158/09 HAL) festgestellt:

"Der oben dargelegte Befund einer im Wesentlichen nicht vorhandenen Wett- und Spielsucht im Bereich der Glücksspiele des staatlichen Lotto-Toto-Blocks belegt die oben schon dargelegte Inkohärenz bei der Bekämpfung der Wett- und Spielsucht."

Video
Europäischer Gerichtshof - Staatliches Monopol für Sportwetten und Lotterien unzulässig
Der EuGH stellte am 8.9.2010 fest: Der GlüStV erreiche nicht das Ziel des Staatsmonopols.