Freitag, 31. Mai 2013

VG Regensburg: Wetterwette ist kein Glücksspiel

Werbung mit Rückerstattung von Kaufpreis zulässig - kein verbotenes Glücksspiel

Ebenso entschieden das VG Stuttgart und der VGH Baden-Württemberg

Urteil vom 12.04.2012, Az. RO 5 K 11.1986
§ 3 Abs. 1 S. 1 GlüStVtr BY; § 4 Nr. 6 UWG

Verwaltungsgericht Regensburg

Urteil


I.
Es wird festgestellt, dass eine Werbeaktion, bei der Kunden, die während eines Aktionszeitraums Waren mit einem Kaufpreiswert von über 100,– € erworben haben, den Kaufpreis nachträglich zurückerstattet bekommen, wenn ein zufallsabhängiges Ereignis eintritt, kein Glücksspiel im Sinne des § 3 Abs. 1 Glücksspielstaatsvertrag darstellt.

II.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

III.
Das Urteil ist in Ziffer II vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

IV.
Die Berufung gegen das Urteil wird zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass es sich bei einer ihrerseits geplanten Werbeaktion nicht um ein Glücksspiel im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV handelt.

Die Klägerin beabsichtigt eine Werbeaktion folgenden Inhalts durchzuführen: Jeder Kunde, der innerhalb eines vorab festgelegten Aktionszeitraums bei der Klägerin Waren zu einem Kaufpreis von mindestens 100,– € erwirbt, soll diesen Kaufpreis zurückerstattet bekommen, wenn es an einem vorbestimmten Stichtag (ca. 3 Wochen nach der Aktion) zwischen 12:00 Uhr und 13:00 Uhr am Flughafen München amtlich festgestellt mindestens eine Niederschlagsmenge von 3 ml/m² regnet. Um den Kaufpreis zurückzuerlangen, müssten sich die Kunden dann nach dem Stichtag bei der Klägerin zurückmelden und ihre Einkäufe während des Aktionszeitraums anzeigen.

Leitspruch der Aktion soll demnach sein: „Sie bekommen die Ware geschenkt, wenn es am … regnet”.

Mit Schreiben vom 9.8.2011 forderte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Regierung der Oberpfalz dazu auf, klarzustellen, dass es sich bei der geplanten Werbeaktion nicht um Glücksspiel im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV handle. Im Schreiben vom 10.8.2011 qualifizierte die Regierung der Oberpfalz die geplante Werbeaktion jedoch als öffentliches Glücksspiel im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV, namentlich als Wette gegen Entgelt auf den Eintritt eines zukünftigen Ereignisses. Dieser Auffassung schloss sich auch das Bayerische Staatsministerium des Inneren mit Schreiben vom 4.10.2011 an. Zur Stellungnahme war das Bayerische Staatsministerium des Inneren durch die Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 9.9.2011 aufgefordert worden, da die gleichfalls mit Schreiben vom 9.8.2011 zur Klarstellung aufgeforderte Landesdirektion Leipzig zu einer gegenteiligen Einschätzung gelangt war und die geplante Werbeaktion nicht als Glücksspiel im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV eingeordnet hatte.

Ein mit Schreiben vom 28.10.2011 gestellter förmlicher Feststellungsantrag der Klägerin wurde schließlich seitens der Regierung der Oberpfalz mit Schreiben vom 17.11.2011 abgelehnt. Es bestünde kein Interesse an einem feststellenden Bescheid. Im Übrigen sei eine Rechtsgrundlage für einen entsprechenden Bescheid im GlüStV bzw. im AGGlüStV nicht ersichtlich. Zudem wurde die Einschätzung aufrechterhalten, dass es sich bei der geplanten Werbeaktion um Glücksspiel im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV handle.

Am 20.12.2011 ließ die Klägerin Feststellungsklage erheben.

Zur Begründung trägt die Klägerin vor:

Bereits aufgrund der drohenden Konsequenzen, die mit der Durchführung eines erlaubnispflichtigen Glücksspiels ohne behördliche Erlaubnis verbunden wären, bestehe ein rechtliches wie wirtschaftliches Interesse an der Klärung der Rechtsfrage.

Weiterhin ist sie der Auffassung, dass die geplante Werbeaktion kein Glücksspiel im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV sei. Es fehle insofern am erforderlichen Merkmal eines Entgelts, d.h. an der Leistung eines Einsatzes zum Erwerb einer Gewinnchance. Die Kunden entrichteten vielmehr einen Kaufpreis, dem der Erwerb einer Ware gegenüber stehe. Diese dürften sie unabhängig vom Ausgang der Aktion behalten. Die Möglichkeit der Rückerstattung des Kaufpreises sei demzufolge lediglich eine zusätzliche Chance, die den Kunden seitens der Klägerin gewährt würde. Ein Entgelt im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV müssten sie dafür aber gerade nicht leisten, weder in offener noch in versteckter Form.

Zudem bestehe auch nicht die Gefahr, den Schutzzweck des Glücksspielstaatsvertrages zu unterlaufen. Die einmalige geplante, warenbezogene Werbeaktion leiste der Glücksspiel- oder Wettsucht keinen Vorschub, weshalb eine Subsumtion unter § 3 Abs. 1 GlüStV, welcher im Kontext mit § 1 Nr. 1 GlüStV zu lesen sei, nicht veranlasst sei. Im Übrigen werde auf vergleichbare Aktionen anderer Konzerne verwiesen. Schließlich sei auch auf die Entscheidung des BGH vom 22.1.2009, Az. I ZR 31/06, zu § 4 Nr. 6 UWG hinzuweisen. Danach seien reine Umsatzgeschäfte, die lediglich ergänzend ein aleatorisches Element bei der Preisgestaltung aufweisen, von Glücksspielen zu differenzieren, zu deren Teilnahme ein besonderes Entgelt zu leisten sei. Würden alleine Umsatzgeschäfte getätigt, also „Ware gegen Kaufpreis”, dann stelle der Kaufpreis für sich zugleich auch das Entgelt für ein Glücksspiel dar. Dieser rechtlichen Wertung folgend liege auch in dem hier streitgegenständlichen Sachverhalt kein Glücksspiel vor, da die Kunden der Klägerin ausschließlich den Kaufpreis für die Möbel leisten und mithin ein Umsatzgeschäft vornähmen. Ebenso wie das Versprechen in der Entscheidung des BGH („Jeder 100. Teilnehmer gewinnt”) stelle das hier streitgegenständliche aleatorische Versprechen „Sie bekommen die Ware geschenkt, wenn es am ….. regnet”, keine nachhaltige Beeinflussung der Kaufentscheidung dar. Ein Durchschnittsverbraucher sei in der Lage, mit einem solchen Gewinnanreiz bei seiner Kaufentscheidung umzugehen. Der BGH erkenne deshalb bei derartigen Umsatzgeschäften keine besondere Schutzwürdigkeit des Verbrauchers.

Sofern das Gericht Zweifel an der fehlenden Suchtgefahr der Werbeaktion der Klägerin haben sollte, werde zum Nachweis fehlender Suchtgefahr „Beweiserhebung durch Sachverständigengutachten” beantragt.

Die Klägerin beantragt in der mündlichen Verhandlung:

Es wird festgestellt, dass eine Werbeaktion, bei der Kunden, die während eines Aktionszeitraums Waren mit einem Kaufpreiswert von über 100,– € erworben haben, den Kaufpreis nachträglich zurückerstattet bekommen, wenn ein zufallsabhängiges Ereignis eintritt, kein Glücksspiel im Sinne des § 3 Abs. 1 Glücksspielstaatsvertrag darstellt.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die geplante Werbeaktion sei als öffentliches Glücksspiel im Sinne des § 3 Abs. 1 und 2 GlüStV zu qualifizieren. Neben den Tatbestandsmerkmalen der Öffentlichkeit, der Zufallsabhängigkeit sowie dem Erwerb einer Gewinnchance, sei insbesondere auch das Kriterium der Entgeltlichkeit erfüllt. Konkret handle es sich um ein verstecktes Entgelt, welches in den Kaufpreis der Waren einkalkuliert werde. Hierfür spreche vor allem die Tatsache, dass die Teilnahme erst ab einem Einkaufswert von mindestens 100,– € zugelassen werden soll. Denn erst ab dieser Preiskategorie sei es wirtschaftlich möglich, einen verdeckten Spieleinsatz einzupreisen. Eine gleichwertige und unentgeltliche alternative Teilnahmeform solle aber gerade nicht angeboten werden.

Im Übrigen sei für die Qualifikation als Glücksspiel ausschließlich auf § 3 GlüStV abzustellen. Fragen des Schutzzweckes bzw. der Ziele im Sinne des § 1 GlüStV würden erst nach einer nach einer derartigen Einordnung im Hinblick auf die Erlaubnisfähigkeit eines Glücksspiels relevant.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Sitzungsniederschrift sowie auf das Aktengeheft der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

I.
Die Klage ist zulässig.

Die Klägerin begehrt die Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO. Die Feststellungsklage ist insofern statthaft. Die Rechtsbeziehung zwischen der Klägerin und der Beklagten bzw. der Regierung der Oberpfalz hatte sich bis zur Klageerhebung auf Grund des vorangegangen Schriftverkehrs zu einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis verdichtet. Den Erlass eines feststellenden Bescheids hatte die Regierung der Oberpfalz mit Schreiben vom 17.11.2011 jedoch abgelehnt.

Hieraus resultiert letztlich auch ein berechtigtes Interesse der Klägerin an der baldigen Feststellung. Solange nicht geklärt ist, ob es sich bei der geplanten Werbeaktion um Glücksspiel im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV handelt, kann die Klägerin die Aktion nicht durchführen, ohne sich dabei dem Risiko auszusetzen, ein erlaubnispflichtiges Glücksspiel ohne die erforderliche behördliche Erlaubnis durchzuführen. Damit aber liefe sie Gefahr eine Ordnungswidrigkeit im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Nr. 1 AGGlüStV zu begehen oder gar einen Straftatbestand im Sinne des § 284 StGB zu verwirklichen.

Ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis setzt voraus, dass zwischen den Beteiligten dieses Rechtsverhältnisses ein Meinungsstreit besteht, aus dem heraus sich eine Seite berühmt, ein bestimmtes Tun oder Unterlassen der anderen Seite verlangen zu können (exemplarisch und umfassend Urteil des BVerwG vom 23.1.1992, BVerwGE 89, 327 mit weitgehenden und umfassenden Hinweisen auf die vorausgegangene Rechtsprechung). Der Streit der Beteiligten muss in Beziehung zu Bedeutung und Tragweite einer Vorschrift des öffentlichen Rechts im Hinblick auf einen konkreten Sachverhalt bestehen (so BVerwGE, Urteil vom 26.1.1996 - BVerwGE 100, 262 275).

Diese Voraussetzungen liegen im Verhältnis der Beteiligten vor, denn zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die von der Klägerin geplante Werbeaktion den Regelungen des Glücksspielstaatsvertrages unterliegt.

Die Feststellungsklage ist im vorliegenden Fall auch nicht gegenüber einer Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage subsidiär.

Eine Anfechtungsklage allein genügt nicht, um das Rechtsschutzbegehren der Klägerin im geltend gemachten Umfang zu umfassen. Denn im Hinblick darauf, dass eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für den vom Beklagten abgelehnten feststellenden Bescheid nicht vorliegt, sondern allenfalls aufgrund einer Ableitung aus den dem Beklagten eingeräumten stillschweigenden Ermächtigung, im Zusammenhang mit genehmigungsbedürftigen Sachverhalten auch feststellende Bescheide zu erlassen, in Betracht kommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 9.5.2001, Az. 3 C 2/01, Rn. 13), wäre dem Begehren der Klägerin jedenfalls dann nicht umfassend Rechnung getragen, wenn das Schreiben des Beklagten aus formalen Gründen aufgehoben würde.

Die Klägerin ist auch nicht auf die Möglichkeit einer Verpflichtungsklage mit dem Ziel der Erlaubnis (§ 4 GlüStV) für die geplante Veranstaltung zu verweisen, da sie diese gerade nicht als Glücksspiel ansieht. Eine Klage mit dem Ziel, den Beklagten zur begehrten Feststellung zu verpflichten, ist nicht als vorrangig anzusehen, da eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für diesen Anspruch nicht vorhanden ist.

Die örtliche Zuständigkeit des VG Regensburg folgt aus § 52 Nr. 5 VwGO. Da der Freistaat Bayern Beklagter ist, ist der Sitz der Behörde maßgeblich, die befugt ist, über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch zu entscheiden. Insofern ist auf die Regierung der Oberpfalz abzustellen, vgl. auch Art. 2 Abs. 4 Nr. 3 AGGlüStV.

II.
Die Klage ist begründet. Das von der Klägerin geplante Gewinnspiel „Sie bekommen den Kaupreiszurückerstattet, wenn es am … regnet” ist kein Glücksspiel im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV.

§ 3 Abs. 1 S. 1 GlüStV legaldefiniert den Glücksspielbegriff für den Geltungsbereich des Glücksspielstaatsvertrags wie folgt: „Ein Glücksspiel liegt vor, wenn im Rahmen eines Spiels für den Erwerb einer Gewinnchance ein Entgelt verlangt wird und die Entscheidung über den Gewinn ganz oder überwiegend vom Zufall abhängt.” Auch Wetten gegen Entgelt auf den Eintritt oder Ausgang eines zukünftigen Ereignisses sind nach § 3 Abs. 1 Satz 3 Glücksspiele.

Konstitutive Tatbestandsmerkmale sind demnach (1) der Erwerb einer Gewinnchance, (2) die Zufallsabhängigkeit der Entscheidung über den Gewinn sowie (3) die Entgeltlichkeit des Erwerbs der Gewinnchance.

(1) Die Eröffnung der Möglichkeit der Rückzahlung des Kaufpreises stellt den Erwerb einer Gewinnchance dar.

(2) Die Abhängigkeit der Entscheidung über den Gewinn von der Frage, ob es an einem im Vorfeld festgelegten Stichtag nach dem Aktionszeitraum am Flughafen München amtlich festgestellt zwischen 12:00 und 13:00 Uhr mindestens 3 ml/m² regnet, ist weiterhin als zufallsabhängig zu qualifizieren. Insoweit greift die unwiderlegliche Vermutung des § 3 Abs. 1 S. 2 GlüStV, wonach die Entscheidung über den Gewinn in jedem Fall vom Zufall abhängt, wenn dafür der ungewisse Eintritt oder Ausgang zukünftiger Ereignisse maßgeblich ist. Auch haben die Beteiligten keinen Einfluss auf den Eintritt dieses Ereignisses.

(3) Abzulehnen ist jedoch die Entgeltlichkeit des Erwerbs der Gewinnchance.

§ 3 Abs. 1 Satz 1 GlüStV spricht vom „Erwerb einer Gewinnchance gegen Entgelt”, nicht vom Erwerb einer Teilnahmemöglichkeit und stellt damit einen Zusammenhang zwischen der Aufwendung eines Vermögenswertes und dem Gewinn her (so auch OVG Koblenz vom 15.9.2009, Az. G A 10199/98, OVG S. 4 des Urdrucks). Allerdings ist für den Begriff des „Entgelts für den Erwerb einer Gewinnchance” im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 GlüStV nicht Voraussetzung, dass der Spieler, um an der Gewinnchance teilzuhaben, durch einen Einsatz ein Vermögensopfer erbringt, wie dies nach ganz herrschender Auffassung eine wesentliche weitere Voraussetzung für den strafrechtlichen Glücksspielbegriff im Sinne des § 284 StGB ist. Im Bereich des Strafrechts wird in Abgrenzung zum sog. Eintrittsgeld vorausgesetzt, dass es sich bei diesem Vermögensopfer nicht lediglich um die - vom eigentlichen Spiel unabhängige - Ermöglichung der Teilnahme daran handelt, sondern vielmehr aus dem Einsatz aller Mitspieler die Gewinnchance des Einzelnen erwächst (vgl. BayVGH vom 25.8.2011, Az. 10 BV 10.1176, Rn. 20 m.w.N.). Nach Auffassung des BayVGH enthält § 3 Abs. 1 Satz 1 GlüStV einen eigenständigen, von der üblichen straf- und verbraucherschutzrechtlichen Definition teilweise abweichenden ordnungsrechtlichen Glücksspielbegriff (so VGH vom 25.8.2011, Rn. 18). Denn der Gesetzgeber des Glücksspielstaatsvertrages hat sich bei seiner Legaldefinition des Glücksspiels in § 3 Abs. 1 GlüStV zwar hinsichtlich der Voraussetzung bzw. des Begriffsmerkmals der Zufallsabhängigkeit eng an den strafrechtlichen Glücksspielbegriff angelehnt. Bei dem für den Erwerb der Gewinnchance weiter vorausgesetzten „Entgelt” hat er jedoch schon von der Formulierung bzw. dem Wortlaut her die im Rahmen der strafrechtlichen Glücksspieldefinition regelmäßig verwendeten Begriffe „Einsatz” und „Vermögensopfer” sowie die damit im Zusammenhang stehende Diskussion über Schwellenwerte oder Geringfügigkeitsgrenzen nicht aufgegriffen (so BayVGH vom 25.8.2011 a.a.O. Rn. 21 und auch BayVGH vom 23.2.2012, Az. 10 CS 10.1682 Rn. 20). Dabei zieht der BayVGH für seine Auffassung sowohl den Gesetzeswortlaut als auch die Entstehungsgeschichte und auch die Gesetzesbegründung zu dieser Norm heran.

Gleichwohl setzt aber der ordnungsrechtliche Glücksspielbegriff des § 3 Abs. 1 Satz 1 GlüStV nach seinem Wortlaut voraus, dass für den Erwerb der Gewinnchance ein Entgelt verlangt wird, auch wenn es auf die Erheblichkeitsschwelle nicht ankommt. Nach dem Gesetzeswortlaut genügt es für die Annahme eines Glücksspiels aber allein nicht, wenn die Teilnahme am Spiel vom entgeltlichen Erwerb einer Sache oder Dienstleistung abhängig ist. Dies ergibt auch eine historische Auslegung. Zieht man die Gesetzesgeschichte heran, so sah der Vorentwurf des Lotteriestaatsvertrages (Stand: 4.4.2003) folgenden Abs. 4 in § 3 LottStV vor:

„(4) Entgelt ist ohne Rücksicht auf seine Höhe und Bezeichnung alles, was der Spieler aufwenden muss, um spielen zu können. Ausgenommen sind die Kosten für die bloße Übermittlung der Willenserklärung zu der Spielteilnahme durch einen Dritten. Entgelt kann in offener oder versteckter Form verlangt werden. Ein verstecktes Entgelt liegt insbesondere vor, wenn die Teilnahme am Spiel vom entgeltlichen Erwerb einer Sache, eines Rechts oder einer Dienstleistung abhängig ist”.

Dieser 4. Absatz wurde aber gänzlich gestrichen, somit auch der Satz 4, wonach ein verstecktes Entgelt insbesondere vorliegt, wenn die Teilnahme am Spiel vom entgeltlichen Erwerb einer Sache, eines Rechts oder einer Dienstleistung abhängig ist.

Auch die Gesetzesbegründung ergibt keine Anhaltspunkte für eine solche vom Beklagten vertretene Auffassung. In der Gesetzesbegründung wird hinsichtlich des Begriffsmerkmals des Entgelts ausgeführt, dass ein Glücksspiel (nur) dann nicht vorliegt, wenn ein Entgelt nicht verlangt wird. Erläuternd dazu bestimmt der Folgesatz: „Ein solches Verlangen ist nicht gegeben, wenn neben einer entgeltlichen Teilnahmemöglichkeit (z.B. Mehrwertdienst) eine gleichwertige, praktikable und unentgeltliche Alternative - z. B. durch Postkarte, E-Mail oder via Internet - zur Teilnahme an dem selben Spiel angeboten wird” (Lt. Drs. 15/8486 S. 13). Kein Glücksspiel im Sinne des Glücksspielstaatsvertrages ist z.B. gegeben, wenn ausschließlich für die Übermittlung der Erklärung des Spielteilnehmers Beförderungskosten anfallen, aber nicht darüber hinaus Kosten für den Telefonwertdienst anfallen, oder eine unentgeltliche Alternative im oben beschriebenen Sinn angeboten wird (so BayVGH vom 25.8.2011 a.a.O., Rn. 22).

Somit kann weder unter Berücksichtigung des Gesetzeswortlauts noch der Gesetzesgeschichte gesagt werden, dass ein verstecktes Entgelt insbesondere schon vorliegt, wenn die Teilnahme am Spiel vom entgeltlichen Erwerb einer Sache eines Rechts oder einer Dienstleistung abhängig ist. Denn diese im Vorentwurf des Lotteriestaatsvertrages vorgesehene Regelung wurde nicht zum geltenden Gesetz. Vielmehr muss im Einzelfall geprüft werden, ob für den Erwerb einer Gewinnchance ein Entgelt verlangt wird.

Das Entgelt für den Erwerb der Gewinnchance kann grundsätzlich in offener, aber auch in verdeckter Form geleistet werden. Wertungsmäßig ist die Gleichstellung offener und verdeckter Entgeltlichkeit zwingend erforderlich. Schließlich gebietet es der Schutzzweck der Regelung auch solche „Spiele” als Glücksspiele im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV zu qualifizieren, bei welchen der Spielteilnehmer nicht eindeutig und unmittelbar erkennen kann, ob er für den Erwerb seiner Gewinnchance ein Entgelt entrichtet. Eine abweichende Lesart der Vorschrift würde diese letztlich aushöhlen.

a)
Ein offener Spieleinsatz bzw. ein offenes Teilnahmeentgelt wird seitens der Klägerin nicht eingefordert. Die Teilnahmemöglichkeit hängt lediglich vom Erwerb von Waren zu einem Kaufpreis von mindestens 100,00 € ab, ein weiteres offenes Entgelt hat der Kunde nicht zu entrichten. Zudem ist keine kostenpflichtige Anmeldung o.ä. erforderlich, um an der Aktion teilnehmen zu können.

b)
Aber auch ein Entgelt in verdeckter Form liegt hier im Ergebnis nicht vor.

Grundsätzlich ist es denkbar, dass ein verdecktes Entgelt im Kaufpreis einer Ware enthalten ist, es gleichsam „eingepriesen” wird. Das synallagmatische Gegenüberstehen von Kaufpreis und Ware, welche der Kunde unabhängig vom Ausgang des Spiels behalten darf, steht der Entgeltlichkeit dabei nicht zwingend entgegen. Auch ist die Einpreisung bei Waren mit höherem Kaufpreis auf Grund größerer Gewinnspannen prinzipiell eher möglich. Zuzugeben ist auch, dass ein Unternehmen seine Unkosten für Werbemaßnahmen, Verlosungen, Ausspielungen etc. in die Kalkulation seiner Warenpreise schon auf Grund allgemeiner ökonomischer Grundprinzipien einfließen lassen wird. Aus diesem Grund wird dem Kunden in der Gesamtbetrachtung nur höchst selten ein absolut unentgeltliches Geschenk offeriert.

Gleichwohl ist vorliegend nicht von einer Einpreisung und somit von einem Entgelt im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV auszugehen.

Ausweislich des Wortlauts des § 3 Abs. 1 S. 1 GlüStV muss das verdeckte wie auch das offene Entgelt „für den Erwerb einer Gewinnchance” verlangt werden. Diese Konnexität zwischen Entgelt und Erwerb der Gewinnchance ist hier nicht gegeben. Der Schluss darauf, dass in dem am Spiel teilnehmenden Warenkaufpreis der Spieleinsatz versteckt ist, führt zu weit und basiert auf keiner tragenden Grundlage.

Zum einen nimmt die Klägerin keine Anhebung der Preise während des Aktionszeitraums vor. Eine offensichtliche Einpreisung scheidet somit bereits aus.

Aber auch eine subtilere Form der Einpreisung kann nicht allein aus dem Umstand gefolgert werden, dass lediglich ab einem Einkaufswert von mindestens 100,– € die Teilnahme ermöglicht werden soll. Selbst wenn es erst ab diesem Preisrahmen auf Grund der höheren potentiellen Gewinnspannen möglich ist, verdeckte Entgelte einzupreisen, so kann allein hieraus jedoch kein weitergehender Schluss auf das tatsächliche Bestehen eines verdeckten Entgelts gezogen werden. Denkbar ist es beispielsweise ebenso, die „Einpreisung des Risikos” erst zeitlich nachfolgend vorzunehmen. Der Eintritt des Gewinnfalles ist im Aktionszeitraum per definitionem ungewiss. Die Klägerin wird deshalb nicht zwingend mit Kosten und Aufwendungen belastet. Ihr bleibt es daher unbenommen erst nachträglich und lediglich im Fall des Eintritts des Gewinns die daraus entstandenen Kosten in ihre künftigen Warenpreise einzukalkulieren - eine wirtschaftlich ebenso sinnvolle Vorgehensweise. In diesem Fall werden aber gerade nicht mehr die Teilnehmer der Aktion mit dem Entgelt belastet, sie entrichten kein Entgelt „für” den Erwerb einer Gewinnchance. Eine zeitliche und personelle Kongruenz zwischen Spiel und einem etwaigen Entgelt ist insofern nicht zwingend ersichtlich. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass es für die Frage der Entgeltlichkeit im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV prinzipiell nicht auf eine Kostendeckung des Veranstalters, die konkrete Bestimmbarkeit der Höhe des Entgelts oder die Überschreitung einer Bagatellgrenze ankommt.

Weitergehend ist das Tatbestandsmerkmal der Entgeltlichkeit im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV auch nicht allein deshalb erfüllt, weil der Kunde gezwungen ist, mindestens 100,– € aufzuwenden und ihm somit keine völlig kostenfreie gleichwertige Alternative geboten wird. Zum einen stellt die dargebotene Teilnahmeform bereits eine unentgeltliche Variante zur Teilnahme an der Wette (Gewinnspiel) dar, weil der Kaufpreis die äquivalente Gegenleistung für die (Ware) ist. Die Teilnahme am Gewinnspiel ist eine Dreingabe, die zum Inhalt der von der Klägerseite angebotenen Leistung gehört. Es handelt sich um ein mit dem Kaufpreis verknüpftes zusätzliches Leistungsangebot (so auch VG Stuttgart vom 15.3.2012, Az. 4 K 4251/11 S. 9 des Urdrucks). Zum anderen ist es nicht möglich, eine Konnexität zwischen Entgelt und Gewinnchance allein aus dem Umstand herzuleiten, dass die Gewinnspielteilnahme untrennbar mit dem Warenerwerb verknüpft ist. Es besteht keine dahingehende Vermutung, dass grundsätzlich eine verdeckte Einpreisung vorliegt, welche seitens der Klägerin zu entkräften wäre bzw. nicht entkräftet werden könnte.

Sofern man auch in das glücksspielrechtliche Tatbestandsmerkmal „Entgelt für den Erwerb einer Gewinnchance” ein subjektives Moment hineinliest - namentlich die Gewinnhoffnung des Kunden, ohne die er die Gegenleistung nicht erworben hätte - so lässt sich im konkreten Fall daraus auch nicht unter Berücksichtigung des Schutzzwecks des Glücksspielstaatsvertrages ein Glücksspiel konstruieren. Selbst wenn man davon ausginge, dass die vorliegende Art und Form der Werbung dazu Anreize setzt, übermäßige Möbelkäufe zu tätigen, so ist dieser Sachverhalt zum Schutz der Verbraucher im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb geregelt (siehe § 4 Nr. 6 bzw. § 4 Nr. 1 UWG und auch Entscheidung des OLG Hamm vom 19.3.2009, Az. I-4 U 200/08, unlautere Werbung: Versprechen der „Kaufpreisrückerstattung für den Fall, dass Deutschland Fußball-Europameister wird”). Es spricht viel dafür, dass der Gesetzgeber des Glücksspielstaatsvertrages nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, welches auch dem Vertrauensschutz dient (siehe § 1 UWG), eingreifen wollte. Denn für diesen Rechtsbereich gibt es gemeinschaftsrechtliche Vorgaben durch die Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern, sowie durch die Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken). Nach einer Entscheidung des EuGH vom 14.1.2010, Rs. C 304/08, ist diese Richtlinie so auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der des § 4 Nr. 6 UWG entgegensteht, nach der Geschäftspraktiken unzulässig sind, bei denen die Teilnahme von Verbrauchern an einem Preisausschreiben oder Gewinnspiel vom Erwerb einer Ware oder von der Inanspruchnahme einer Dienstleistung abhängig gemacht wird, wenn sie ohne Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles grundsätzlich unzulässig sind. Deshalb darf auch unter Beachtung des EG-Rechts der Begriff des „Entgelts für den Erwerb einer Gewinnchance” nicht derartig weit ausgelegt werden, dass auch ein verstecktes Entgelt immer dann vorliegt, wenn die Teilnahme am Spiel vom entgeltlichen Erwerb einer Sache, eines Rechts oder einer Dienstleistung abhängig ist. Wie oben ausgeführt, wurde § 3 Abs. 4 Satz 4 des Vorentwurfs des Lotteriestaatsvertrages nicht in den geltenden Glücksspielstaatsvertrag übernommen.

Die in § 1 GlüStV definierten Ziele wie Schutz vor Glücksspiel- und Wettsucht, Begrenzung des Glücksspielangebots, Lenkung des natürlichen Spieltriebs der Bevölkerung etc. sind über den Wortlaut hinaus nicht als weitere Tatbestandsmerkmale in die Definition des Glücksspielbegriffs hineinzulesen. Die Subsumtion unter den Glücksspielbegriff hat sich allein an den Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 GlüStV auszurichten. Erst nach einer Qualifikation als Glücksspiel kommt es schließlich für die Frage einer Erlaubnis auf den Schutzzweck des Glücksspielstaatsvertrages an.

Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Ziele des Glücksspielstaatsvertrages bei der Konkretisierung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 3 Abs. 1 GlüStV gänzlich außer Betracht bleiben müssen. Dies gilt auch für den unbestimmten Begriff des verdeckten Entgelts. Selbst wenn also auf Seiten der Kunden ein gewisser Anreiz vorhanden ist, vermehrt Einkäufe zu hohen Preisen zu tätigen, so sind hiermit aber nicht die typischen glücksspielrechtlichen Gefahren verbunden, vor denen der GlüStV schützen will. Es geht hier mehr um den Schutz des Verbrauchers vor unlauteren Geschäftspraktiken, insbesondere um den Schutz vor unüberlegten Einkäufen, die bis zur Kaufsucht führen können. Allein der subjektive Gewinnanreiz bietet ebenfalls keine taugliche Basis, um darin eine verdeckte Entgeltlichkeit des Spiels zu sehen. Auch steht mit dieser Einordnung keine Umgehung der glücksspielrechtlichen Erlaubnispflicht für Glücksspiele zu befürchten.

c)
In der Gesamtbetrachtung führen vorstehende Überlegungen somit zu dem Schluss, dass ein Entgeltlichkeit für den Erwerb einer Gewinnchance, also ein Glücksspiel im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 1 GlüStV nicht vorliegt.

Die geplante Werbeaktion ist folglich kein Glücksspiel im Sinne des § 3 Abs. 1 GlüStV. Die Klage ist begründet.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 154 Abs. 1 VwGO.

Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Berufung gegen das Urteil wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 124 a Abs. 1 VwGO), weil vergleichbare Werbeaktionen bei den Erstinstanzgerichten anhängig sind.

Beschluss

Der Streitwert wird auf 5.000,– € festgesetzt, § 52 Abs. 3 GKG.

Gründe

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 2 GKG (Auffangstreitwert).



Quelle: Urteil vom 12.04.2012, Az. RO 5 K 11.1986  pdf-download
vgl. dejure



Donnerstag, 30. Mai 2013

VG Hamburg entscheidet zugunsten von Sportwettvermittlern

Ein Artikel von Rechtsanwalt Dr. Thomas Bartholmes

Das Verwaltungsgericht Hamburg hat in vier von der Kanzlei Kuentzle Rechtsanwälte geführten Eilverfahren die aufschiebende Wirkung von Widersprüchen, die Sportwettvermittler gegen Anfang 2012 erlassene Untersagungsverfügungen der hamburgischen Behörde für Inneres und Sport erhoben hatten, angeordnet. Der Beschluß des VG Hamburg vom 29.4.2013 (4 E 331/12) ist zwischenzeitlich rechtskräftig geworden, nachdem die Behörde für Inneres und Sport keine Beschwerde eingelegt hat.

Nachdem in Hamburg im Gefolge der Urteile des Europäischen Gerichtshofes vom 8.9.2010 über mehr als ein Jahr die Vermittlung privater Sportwetten geduldet worden war, ergingen am 6. Januar 2012 einige Untersagungsverfügungen der Behörde für Inneres und Sport, die sich auf die fehlende Erlaubnis der jeweiligen Vermittler sowie der Wettunternehmen gestützt hatten. Die Untersagung betraf das gesamte Hamburger Stadtgebiet, nicht bloß den konkreten Vermittlungsstandort. Später hat sich die Behörde für Inneres und Sport darauf berufen, die Vermittlung sei materiell nicht erlaubnisfähig, da die Vermittler unerlaubte Live-Wetten vermittelten bzw. die Wetten unerlaubterweise in Spielhallen vermittelten.

Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Hamburg rechtfertigt die Vermittlung von Sportwetten an im EU-Ausland zugelassene Wettanbieter derzeit keine landesweite Volluntersagung. Das Handeln der Vermittler sei nicht als unerlaubtes Glücksspiel, das eine vollständige Untersagung der Vermittlungstätigkeit rechtfertigen würde, zu verstehen. Weder das Fehlen der Vermittlungserlaubnis, noch die fehlende Konzessionierung des Wetthalters, noch die geltend gemachten Verstöße gegen das Live-Wetten- und Ereigniswettenverbot oder gegen das Trennungsgebot des § 21 Abs. 2 GlüStV vermöchten die Untersagungsverfügungen zu tragen.

Das Fehlen der Erlaubnis könne eine Untersagungsverfügung nur rechtfertigen, wenn eine Erlaubnis für den Betroffenen nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich erreichbar sei. Dies ist jedoch, wie das VG Hamburg zutreffend feststellt, im Hinblick auf das noch nicht abgeschlossene Konzessionierungsverfahren derzeit nicht gegeben. Die abstrakte Konzessionierungsmöglichkeit genüge, so das VG Hamburg, noch nicht, um den Erlaubnisvorbehalt durchsetzen zu können. Vielmehr würden die Grundfreiheiten des AEU-Vertrags nur gewahrt, wenn ihre Gewährleistungen sich in der Praxis tatsächlich bewährten:

„Nähme man das Fehlen einer Erlaubnis während des laufenden Konzessionsverfahren zum Anlass, die Vermittlungstätigkeit zu untersagen, würde faktisch der europarechtswidrige Monopolzustand für die Dauer des Konzessionsverfahrens perpetuiert, obwohl es nicht in der Gestaltungsmacht der Antragstellerin oder des Wetthalters liegt, das Konzessionsverfahren und das anschließende Erlaubnisverfahren für die Wettvermittlung zu beschleunigen. Die Antragstellerin wäre damit gegenüber den staatlichen Sportwetten-Anbietern und ihren Vermittlern ohne sachlichen Grund, der den Maßstab der Dienstleistungsfreiheit genügen müsste, benachteiligt“. (S. 16)

Das Verwaltungsgericht verweist insoweit auf § 29 Abs. 1 S. 3 GlüStV, wonach staatliche Monopolunternehmen bis zu einem Jahr nach Erteilung der Konzessionen selbst vom Konzessionserfordernis freigestellt und bereits mit einer „normalen“ Erlaubnis in der Lage sind, das Wettangebot ODDSET weiterhin legal anzubieten. Hierzu das VG Hamburg wörtlich:

„Sind danach die staatlichen Sportwetten-Veranstalter und ihre Vermittler berechtigt ihren Betrieb aufrecht zu erhalten, muss dies auch für die Antragstellerin gelten. Andernfalls hätte das Inkrafttreten des Glücksspieländerungsstaatsvertrages, der im Hinblick auf das Konzessionsverfahren bei Sportwetten ein europarechtswidriges Monopol beseitigen sollte, eine Verschlechterung der Rechtsposition der Antragstellerin zur Folge. Denn vor Inkrafttreten der neuen Rechtslage war die Antragstellerin nach der Rechtsprechung der Kammer und der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Hinblick auf die europarechtliche Unanwendbarkeit des Sportwettenmonopols zur Vermittlung von Sportwetten berechtigt. Während des laufenden Konzessionsverfahrens kann die Antragstellerin im Hinblick auf ihre Dienstleistungsfreiheit nicht schlechter stehen“. (S. 16 f.)

Das Verwaltungsgericht befaßt sich auch mit dem Argument, angeblich sei die Behörde für Inneres und Sport in der Vergangenheit (d.h. vor dem 1.7.2012) bereit gewesen, Veranstaltungs- und Vermittlungserlaubnisse für private Sportwetten im Widerspruch zu geschriebenem nationalem Recht zu erteilen. Das Verwaltungsgericht läßt ausdrücklich offen, ob eine solche Bereitschaft tatsächlich bestanden hat, und verweist darauf, daß solche Erlaubnisse allenfalls befristet bis zum 30.6.2012 erteilt worden wären, nicht aber auch mit Wirkung für die neue Rechtslage.

Im Hinblick auf angebliche materiell illegale Vermittlungstätigkeiten bestätigt das Verwaltungsgericht seine bisherige Rechtsprechung und verlangt insoweit konkrete, auf die Person des jeweiligen Vermittlers bezogene Nachweise für angebliche Gesetzesverstöße. Der pauschale Verweis auf Live-Wetten sei nicht ausreichend, da Live-Wetten inzwischen eingeschränkt erlaubnisfähig sind. Eine Zurechnung des Internetangebots des Wetthalters an den Vermittler lehnt das VG Hamburg in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung weiterhin ab. In der Vergangenheit hatten andere Gerichte häufig die Vermittlung von Sportwetten allein deshalb als erlaubnisunfähig bewertet, weil der Wetthalter eine nicht gesetzeskonforme Internetpräsenz betrieben habe, womit die Vermittler letztlich als Sündenböcke für Geschäftsmodelle Dritter herhalten mußten.

Selbst wenn tatsächlich Verstöße gegen materielle Vorgaben des GlüStV nachgewiesen seien (konkret etwa eine Vermittlung in einer Spielhalle entgegen § 21 Abs. 2 GlüStV, wobei das VG Hamburg die Verfassungs- und Europarechtskonformität dieser Regelung offengelassen hat), rechtfertige dies keine Volluntersagung, da als milderes Mittel die isolierte Unterbindung der illegalen Praktiken, konkret also z.B. der Vermittlung unzulässiger Ereigniswetten oder der Vermittlung in einer Spielhalle, in Betracht gekommen wäre. Dem stehe auch nicht die angeblich fehlende Kontrollierbarkeit eines auf Wetten, die ihrer Art nach unerlaubt sind, beschränkten Verbots entgegen. Ein solches Verbot könnte durch unangekündigte Gewerbekontrollen ohne weiteres kontrolliert werden:

„Die Kontrollsituation unterscheidet sich insoweit nicht in entscheidungserheblichem Maße von der Kontrolle anderer Wirtschaftsunternehmen, etwa im Bereich der Lebensmittel- oder Gaststättenkontrolle. Auch soweit dort verbotswidriges Verhalten festgestellt wird, rechtfertigt dies nicht sogleich die Schließung des jeweiligen Betriebes (…) Wenn danach die Durchsetzung der jeweiligen Verbotsverfügung ohnehin Gewerbekontrollen erforderlich macht, fällt es nicht in relevantem Maße ins Gewicht, ob bei der Nachschau die vollständige Schließung der Wettannahmestelle oder das bloße Nichtanbieten unzulässiger Live-Wetten kontrolliert wird“. (S. 20 f.)

Damit distanziert sich das VG Hamburg ausdrücklich vom OVG Saarland, das im Beschluß vom 6.12.2012 (3 W 268/12) den Sofortvollzug einer landesweiten Untersagung allein mit angeblichen Mißständen an einzelnen Standorten sowie der angeblich fehlenden Kontrollierbarkeit einer Beschränkung auf erlaubnisfähige Wetten gerechtfertigt hatte, was zur Folge hatte, daß die betroffene Vermittlerin die Sportwettvermittlung komplett aufgeben mußte, d.h. auch eine materiell erlaubnisfähige Wettvermittlung für sie nicht mehr möglich war. Demgegenüber hat das VG Hamburg Eilanträgen selbst dann vollumfänglich stattgegeben, wenn die bisher festgestellte Vermittlungstätigkeit ausschließlich in Spielhallen stattgefunden hat. Eine geltungserhaltende Reduktion der Verfügung, die das Verbot beschränkt hätte auf bestimmte Wettarten oder Lokalitäten wie z.B. eine bestimmte Spielhalle, lehnt das VG Hamburg ab:

„Wäre es in dieser Situation zulässig, den Verfügungsgehalt auf das zulässige Maß zurückzuführen, käme dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Regelfall keine verwaltungslenkende Bedeutung mehr zu, da die Verwaltungsbehörde ohne ersichtliches Risiko zunächst schärfere Maßnahmen ergreifen könnte, als durch das Übermaßverbot legitimiert“. (S. 22)

Bei den Beschlüssen des VG Hamburg handelt es sich nach Einschätzung des Verfassers um die bislang sorgfältigste gerichtliche Auseinandersetzung mit der seit dem 1.7.2012 geltenden neuen Rechtslage im Sportwettenbereich, die bundesweit für weitere Verfahren Maßstäbe setzt. Besondere Beachtung verdient die konsequente Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, die gerade in Sportwettverfahren ansonsten leider oft vermißt wird.

Die Behörde für Inneres und Sport hat zwischenzeitlich übrigens alle vier Untersagungsverfügungen aufgehoben.

Kontakt:
Rechtsanwalt Dr. Thomas Bartholmes
Kuentzle Rechtsanwälte
An der Raumfabrik 29
76227 Karlsruhe
Tel: 0721-46471612
Fax: 0721-46471620
E-Mail: drose@kuentzle-rechtsanwaelte.de


VG Hamburg Beschluß vom 29.4.2013 (4 E 331/12)  pdf-download

EuGH: Gerätereduktion auch für Spielbanken ?

Berliner Spielhallen müssen Tausende Geräte abhängen.

Der Senat verschärft den Kampf gegen die Spielautomaten-Industrie. Rund ein Drittel der Automaten muss abmontiert werden. Nicht nur Spielhallen, auch Café-Casinos sollen öfter überprüft werden.

Ab dem 2. Juni dürfen Spielhallen nur noch acht statt bislang zwölf Geräte in einen Raum hängen. Das heißt, von den derzeit insgesamt rund 6600 Geldspielautomaten müssen an diesem Wochenende rund 2200 abgebaut werden.

"Das Gesetz gilt, die Automaten müssen weg", sagte daher der SPD-Abgeordnete, Daniel Buchholz.
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Die zur Novomatic AG gehörende Spielbank Berlin betreibt 750 "Einarmige Banditen" (Slotmachines) in ihren Casinos.

Wenn die Zahl der Wirtschaftsteilnehmer beschränkt wird mit dem Ziel, die Gelegenheit zum Glücksspiel zu vermindern, muss die Beschränkung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit in jedem Fall dem Anliegen gerecht werden, die Gelegenheiten zum Spiel wirklich zu vermindern und die Tätigkeiten in diesem Bereich kohärent und systematisch zu begrenzen. (EuGH, Urteil vom 06.03.2007 - C-338/04, C-359/04 und C-360/04 (Plancanica u.a.) - Rdnr. 58. )

Den Verantwortlichen in Berlin ist scheinbar auch die EuGH- Entscheidung (Fortuna C-213/11) nicht bekannt:
Nach Auffassung des EuGH muss das nationale Gericht neben der Möglichkeit einer (Um-)Programmierung der Automaten prüfen, ob die Verringerung der Stätten für Automatenspiele auch mit einer Begrenzung der Höchstzahl der Spielkasinos und der dort benutzbaren Spielautomaten einhergeht. (Rn 38) Nach der Entscheidung in den verbundenen Rechtssachen Fortuna C-213/11, Grand C-214/11 und Forta C-217/11, ist die Anzahl der benutzbaren Spielautomaten in staatlichen Spielkasinos entsprechend zu reduzieren!   Quelle

Statt das Angebot der staatlich konzessionierten Spielbanken (auch in privater Hand) zu reduzieren, wird auch im Bereich der Geldspielautomaten das Angebot weiter ausgeweitet.

In den letzten Jahren haben die staatlich konzessionierten Spielbanken mit der Schaffung von Dependancen, im Bereich der Innenstädte Automatensäle eröffnet und zielen damit auf neue Kunden mit dem „kleinen Geldbeutel“. weiterlesen

Bereits zwischen den Jahren 2000 und 2007 hat sich die Zahl der erlaubten Spielbanken in Deutschland (gemessen nach Spielbankstandorten einschließlich Dependancen) von 69 auf 85 erhöht - und anschließend bis 2009 auf nur 84 verringert -,  (VG Köln · Urteil vom 24. März 2011 · Az. 1 K 8130/09, Rn 52

Kann mit schärferen Auflagen für private Spielhallen die vom EuGH/BVerwG geforderte Gesamtkohärenz (s. Art. 49 EG)) geschaffen werden, wenn die Spielsuchtgefahr bei "Einarmigen Banditen" in staatlichen und privatisierten Spielbanken bis zu siebenmal höher ist, und sich Monopolbetriebe nicht an die Werbeauflagen halten und ihr Angebot weiter ausweiten ? weiterlesen

Mit einer weiteren staatlichen Spielbank in Köln wird das vorgegebene Ziel, Gelegenheiten zum Glücksspiel zu verringern, gerade nicht verfolgt.

Das NRW-Kabinett hatte sich Ende Januar 2013 für Köln als fünften Casinostandort entschieden. Die Stadt Köln verspricht sich durch das neue Casino jährliche Einnahmen von bis zu fünf Millionen Euro. weiterlesen

Am 22.12.2011 ging das Frankfurter Airport Casino mit 40 Spielautomaten modernster Bauart an den Start weiterlesen

Auch in Sachsen-Anhalt soll es wieder staatlich konzessionierte Spielbanken in privater Trägerschaft geben (Gauselmann)
Neues Spiel und neues Glück in Magdeburg und Günthersdorf. Das Automatenspiel dürfte in den neuen Kasinos aber wichtiger werden als bisher. Viele Spielbanken machen zwei Drittel ihres Umsatzes mit Automaten. weiterlesen

Unehrlicher Umgang mit dem Glücksspielmonopol

Der Landesgesetzgeber behindert mit einer Vielzahl von Einzelmaßnahmen die staatlich zugelassenen, gewerblichen Automatenaufsteller um vordergründig Minderjährige vom Glücksspiel abzuhalten, denen bereits durch das bundesgesetzliche Jugendschutzgesetz die Teilnahme am Glücksspiel und die Anwesenheit in einem Spielsalon verboten ist.

Die Begründung, zur Bekämpfung der Spiel-/Wettsucht sei ein staatliches Monopol erforderlich, ist unglaubwürdig, wenn gleichzeitig der Umsatz der Spielcasinos gesteigert wird und die Anzahl der Geld-Spielautomaten (Slot-Machines/einarmigen Banditen) in den staatlich konzessionierten Spielbanken zunimmt, die zum Teil privatrechtlich betrieben werden. Elf staatlich konzessionierte Spielbankunternehmen in privater Trägerschaft mit 34 Standorten in sechs Bundesländern werden durch den Bundesverband privater Spielbanken in Deutschland e. V. (BupriS) vertreten.  

Hoffmeister vermutet eine Kampagne gegen das private Glücksspiel. Insbesondere die Bundesländer versuchten, sich das nach Bundesrecht geregelte gewerbliche Spiel selbst einzuverleiben - ähnlich wie in der Schweiz, wo private Glücksspielautomaten inzwischen verboten seien. Quelle

In staatlichen (privatisierten) Spielbanken sind die Verlustmöglichkeiten an Glücksspielautomaten nicht reglementiert und die Anzahl der Geräte wurde bis zum maximal möglichen ausgeweitet, indem das klassische Glücksspiel (Lebend-Spiel) zu Gunsten von Glücksspielautomaten verschoben wurde. 

Als Haupteinnahmequelle dienen mittlerweile doch nur noch die Spielautomaten; die Roullette- und Kartentische sind lediglich ein Nostalgiefaktor. Tatsächlich unterscheiden sich die staatlichen Spielbanken mit ihren Automatensälen nicht mehr vom gewerblichen Geldgewinnspiel der staatlich zugelassenen, gewerblichen Automatenaufsteller - nur, dass bei diesen durch die Spieleverordnung die Verlustrisiken beschränkt sind.

Die Landtagsfraktion von B90/Grüne beantragte die bestehenden Regulierungen für private Spielhallen auch auf die staatlichen Spielbanken und die darin aufgestellten Automaten auszudehnen und begründete Ihren Antrag damit, dass durch die Ungleichbehandlung von privatem und staatlichem Glücksspiel der Suchtprävention in keiner Weise Rechnung getragen würde. Im Gegenteil, das Suchtpotential sei bei staatlichen Spielbanken sogar noch höher.

Novomatic machte auch 2012 deutlich mehr Umsatz und Gewinn
Der Anstieg in Deutschland sei im Wesentlichen auf die Übernahme der Spielbank Berlin durch den niederösterreichischen Glücksspielkonzern Novomatic zurückzuführen. weiterlesen
Der Umsatz der Novomatic AG wächst um 10,8 Prozent auf 1,537 Mrd. Euro. Die Novomatic Group of Companies ist mit rund 3,2 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2012 einer der größten integrierten Glücksspielkonzerne der Welt. Novomatic betreibt weltweit in über 1.400 eigenen Spielbanken und elektronischen Casinos sowie über Vermietungsmodelle mehr als 215.000 Glücksspielgeräte.  Quelle

Die private Spielbank-Berlin bietet in ihrer Zentrale am Potsdamer Platz gut 350 Spielautomaten mit diversen Jackpot-Chancen an, darunter den Berlin-Jackpot, der stets mindestens 500.000 € beinhaltet, einen der größten Jackpots der deutschen Casino-Branche.

In den Dependancen in der Hasenheide, am Alexanderplatz, am Los-Angeles-Platz und in der Ellipse Spandau befinden sich je 100 Maschinen, während in einer Spielhalle nur noch acht stehen dürfen.

Diese staatlich konzessionierten Spielhöllen werden von der Senats-Firma Visit Berlin beworben, Motto: „Für das kleine Glück zwischendurch“. Quelle

Die ebenfalls private Spielbank-Hamburg verfügt über zwei reine Automatencasinos und stellt rund 400 Glücksspielautomaten bereit.
Zum Automatenspiel stehen im Casino Esplanade 140 Geräte zur Verfügung und das Casino Reeperbahn hält weitere 100 Maschinen vor. Zusätzlich betreibt die Spielbank Hamburg in Mundsburg und am Steindamm zwei reine Automatencasinos mit jeweils circa 80 Geräten. Das Angebot umfasst dabei die neuesten Slots, Bingo, Multi-Roulette, Poker und dazu werden übergreifend der Hamburger Jackpot und verschiedene Mystery Jackpots ausgespielt. Quelle

Die 1965 verstaatlichten Spielbanken in Bayern stellen in 9 Standorten ca. 1140 Glücksspielautomaten bereit.

Im Gegensatz zu den Geldspielgeräten in Gaststätten und Spielhallen, die letztlich eine eingebaute Bremswirkung haben, können die „slot machines“ volle Fahrt aufnehmen. Von ihnen gibt es derzeit knapp 750 in Berlin, also soviel wie in 94 Spielhallen aufgestellt werden dürfen! Bei Einsätzen bis zu 50 Euro im Drei-Sekunden-Takt geht es um viel Geld. Gewinne von 50.000 Euro am Abend sind genauso dokumentiert wie Verluste in ähnlicher Größenordnung.

Update 13.06.13
Rund 140 Zocker zeigen Novomatic an
Der Vorwurf: Die Grenzen des kleinen Glücksspiels (50 Cent Einsatz, Euro 20 maximaler Gewinn) werden um ein Vielfaches überschritten.
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Staatsrechtler halten den "neuen" Glücksspielstaatsvertrag und die Ländergesetze erneut für verfassungswidrig

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Peter Schneider, Hannover
Kompetenzprobleme im neuen Spielhallenrecht der Länder GewArch 2013/4
Die Länder wollen sich mit einer extensiven Auslegung des Rechts einen möglichst großen Gestaltungsspielraum verschaffen um das gewerbliche Geldspiel zu Gunsten der eigenen Angebote weitgehend zu verdrängen.
So heißt es über die Kosten der Neuregelung des Spielhallenrechts im Gesetzesentwurf Mecklenburg-Vorpommern:
"Außerdem könnten auf lange Sicht die deutlich erhöhten Anforderungen an Spielhallen, Gaststätten und Wettannahmestellen der Buchmacher, soweit sie Geld- oder Warenspielgeräte mit Gewinnmöglichkeit bereithalten, mit einer wirtschaftlichen Stärkung der Spielbanken verbunden sein"
Zu Recht macht das Verwaltungsgericht Trier zum Ausgangspunkt seiner Prüfung die Frage, ob bei Anwendung der gesetzlich einschränkenden Regelungen überhaupt noch Raum für eine Erlaubniserteilung bleibt. Die mit den neuen glücksspielrechtlichen Regelungen eingeführte Liberalisierung und Öffnung des Marktes auch für Private muss nicht nur nach dem Gesetzestext, also auf dem Papier, sondern auch in ihrer tatsächlichen Umsetzung zu einer Freigabe des Marktes führen. Sollten die gesetzlichen Regelungen dazu führen, dass faktisch eine Erlaubniserteilung fast flächendeckend ausscheidet, verstoßen die gesetzlichen Regelungen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dies nicht nur in Bezug auf Art. 12 GG, sondern insbesondere auch im Hinblick auf die grundrechtsgleichen Rechte nach Unionsrecht.

Der Europarechtsexperte Prof. Dr. Christoph Herrmann L.L.M., Universität Passau, hat ein umfassendes Rechtsgutachten erarbeitet.


Es bestehen erhebliche europarechtliche Zweifel an der Gesamtkohärenz des 1. GlüÄndStV.
Diese gründen sich vor allem darauf, dass gerade das Angebot von Geld-Gewinnspielgeräten in Spielhallen und Gaststätten erheblich eingeschränkt und sehr strengen Vorgaben  unterworfen wird, während gleichzeitig das  Sportwettenmonopol gelockert wird und als  weitaus gefährlicher eingestufte Formen des Glücksspielangebots, insbesondere über das  Internet, neuerdings erlaubt werden, wodurch die Ziele des Glücksspielstaatsvertrages erneut nicht erreicht werden und sich die Beschränkung der europäischen  Grundfreiheiten als unverhältnismäßig darstellt. 

Laut EU-Kommission ist das Online-Glücksspiel eine der am schnellsten wachsenden Dienstleistungstätigkeiten in der EU mit jährlichen Wachstumsraten von knapp 15 % und jährlichen Einnahmen von schätzungsweise 13 Mrd. EUR im Jahr 2015. Es entwickelt sich parallel zu den raschen Fortschritten in der Online-Technologie. Die Online-Glücksspieldienste decken ein breites Spektrum an Glücksspielen ab, von Sportwetten über Poker und Kasinospiele bis hin zu Lotterien, und 6,8 Mio. Verbraucher nehmen an einer oder mehreren Arten von Online-Glücksspielen teil. Quelle

Hier wird von einer rechtswidrigen Differenzierung gleichartiger Dienstleistungen ausgegangen, mit der nicht nur gegen die Vorschriften und den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen wird, die zu einer ebenfalls unionswidrigen Wettbewerbsverzerrung führt, mit der besondere Vorteile erlangt werden, die einen fairen Wettbewerb zwischen privaten und staatlichen Spielbankbetreibern und den staatlich zugelassenen, gewerblichen Spielhallenbetreibern verhindern. (vgl. u.a. FG Baden-Württemberg, 28.11.2012 - 14 K 2883/10 s.u., EuGH-Rank, C-259/10 und C-260/10, Rn. 32, 41, 75/1ff).

Diese Wettbewerbsverzerrung ist bereits nach EuGH-Entscheidungen Zenatti (1999) und Gambelli (2003) und den Entscheidungen des BVerfG unzulässig.

Die Bundesländer, verstoßen gegen das Diskriminierungsverbot, weil ausschließlich die staatlich zugelassenen, gewerblichen Spieleanbieter Opfer dieser Politik seien und die staatlich konzessionierten Spielbanken (auch in privater Hand) davon ausgenommen sind.

Ganz offen, spricht die Politik davon, die staatlich zugelassenen, gewerblichen  Automatenaufsteller durch Auflagen und eine erdrosselnde Abgabenbelastung vom Markt verdrängen zu wollen.
„Es ist nicht einzusehen, warum der Staat möglichst attraktive Bedingungen für den Betrieb von Spielautomaten schaffen sollte“,
erklärte die Bremer Finanzsenatorin Karoline Linnert (Grüne)  Quelle

Dieses Verhalten sagt eine Menge über die Fragwürdigkeit der Politik aus, die ihrem Ruf, für die „richtigen“ Unternehmen und Personen Gesetze auf Bestellung zu liefern, wieder einmal gerecht wird!

Prof. Dr. Rüdiger Zuck:
“Das Recht kann nicht der Beliebigkeit der Politik unterworfen werden“

Es wird zu prüfen sein, ob die Bundesländer, als Gesetzgeber und als Glücksspielunternehmer in Einem, nicht gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen. Das Europäische Wettbewerbsrecht umfasst neben dem Kartellrecht das Recht der staatlichen Beihilfen, gelegentlich auch das Vergaberecht, und das Recht öffentlicher Unternehmen. Geregelt ist es in Titel VII des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, und zwar in Art. 101-105 AEUV das Kartellrecht, in Art. 106 AEUV Bestimmungen über öffentliche und monopolartige Unternehmen und in den Art. 107-109 AEUV das Beihilfenrecht.

Sie handeln unlauter indem sie gegen die direkten Konkurrenten mit einer Vielzahl von Einzelmaßnahmen Wettbewerbsbeschränkungen verhängen und die eigenen Betriebe nicht nur steuerlich begünstigen.

Während den Ostsee-Spielbanken die Steuern lediglich gestundet wurden, wurden staatliche Spielbanken in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz steuerfrei gestellt, wodurch diese, auch von der Zahlung der in der Spielbankenabgabe enthaltenen Umsatzsteuer befreit wurden. 
 
Ein Vielzahl von Spielbanken waren von Anfang an "Unternehmen in Schwierigkeiten“ und aus diesem Grund hätten keine Gelder fließen dürfen. Der Staat ist nicht dafür da, Unternehmen an den Markt zu bringen und zu halten, die nicht überlebensfähig sind. Quelle

Nicht nur die Spielbank Erfurt konnte niemals ohne staatliche Unterstützung rentabel wirtschaften, wodurch der Betrieb der Spielbank und die gewählte Vorgehensweise zu keiner Zeit dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entsprach und damit unzulässig war. Mit den Unterstützungsmaßnahmen zugunsten eines Staatsunternehmens wurde und wird der Wettbewerb verfälscht. Quelle

Die Rechtsfolgen einer Verletzung des Durchführungsverbots sind in der Rechtsprechung geklärt: Verträge, die unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV staatliche Beihilfen gewähren, sind nach § 134 BGB nichtig. Diese Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof im Jahr 2011 nochmals ausdrücklich bestätigt.

Das beihilferechtliche Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV ist zugunsten der Wettbewerber des Beihilfeempfängers Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB.

Die Inanspruchnahme des Wettbewerbsrechts in dem BGH-Vorlageverfahren vom 24.01.2013 (I ZR 171/10) an den EuGH, beweist die nach wie vor fiskalische Ausrichtung des Staates, der die Verfolgung legitimer Ziele in Wahrheit nicht systematisch und kohärent zur Bekämpfung von Suchtgefahren verfolgt, sondern im Wettbewerb, also mit dem eigentlichen Ziel, die Einnahmen durch die Ausschaltung des Wettbewerbs zu erhöhen. weiterlesen

Zusammengestellt von Volker Stiny

Mittwoch, 29. Mai 2013

EuGH: Zu Unrecht Verdächtigter hat Recht auf Rehabilitierung

Urteil s.u.

Sein guter Ruf ist dahin. Daher darf der Londoner Restaurantleiter auch heute noch gerichtlich feststellen lassen, dass seine Aufnahme in die Terrorlisten von UN und EU per se rechtswidrig war, entschied der EuGH am Dienstag. Dennoch bleiben viele Fragen offen, erklärt Stephan Lorentz.

EuGH: Stigmatisierung der Betroffenen gibt Rechtsschutzinteresse

In seinem Urteil Abdulrahim vom 28. Mai 2013 (C-239/12) betont der Europäische Gerichtshof (EuGH) nun, welch schwere Konsequenzen die Aufnahme in eine Terrorliste für den Betroffenen hat. Das Einfrieren von Geldern behindert nicht nur die Freiheit zum Abschluss von Rechtsgeschäften und erschüttert damit zutiefst das Berufs- und Familienleben. Es ruft auch das Misstrauen der Gesellschaft hervor und ist daher mit einer Stigmatisierung verbunden.

Der EuGH stellt hingegen klar, dass es nicht ausreiche, dass die Konten wieder freigegeben werden und der Betroffene über sein Geld verfügen kann. Die Rehabilitierung seines guten Rufes kann er nur erreichen, wenn gerichtlich festgestellt wird, dass die Aufnahme in die Terrorliste von vorneherein rechtswidrig war. Er hat daher auch nach der Streichung von der Terrorliste immer noch ein Rechtsschutzinteresse.

Bereits im September 2008 hat der EuGH in seinem Urteil Kadi (v. 03.09.2008, Az. C-402/05) festgestellt, dass Rat und Kommission bei der Erstellung der EU-Terrorlisten die Entscheidungen des Sanktionskomitees nicht einfach übernehmen dürfen, sondern auch an die Unionsgrundrechte gebunden sind.

Das bedeutet vor allem, dass dem Terrorverdächtigen rechtliches Gehör gewährt werden muss.
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Beschluss des Gerichts vom 28. Februar 2012 - Abdulrahim/Rat und Kommission

(Rechtssache T-127/09)

(Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik - Restriktive Maßnahmen gegen Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen - Verordnung [EG] Nr. 881/2002 - Streichung des Betroffenen von der Liste der betroffenen Personen und Institutionen - Nichtigkeitsklage - Erledigung - Schadensersatzklage - Fehlender Kausalzusammenhang)

Verfahrenssprache: Englisch

Parteien

Kläger: Abdulbasit Abdulrahim (London, Vereimigtes Königreich) (Prozessbevollmächtigte: zunächst J. Jones, Barrister, und M. Arani, Solicitor, dann E. Grieves, Barrister, und H. Miller, Solicitor)

Beklagte: Rat der Europäischen Union (Prozessbevollmächtigte: E. Finnegan und R. Szostak) und Europäische Kommission (Prozessbevollmächtigte: E. Paasivirta und G. Valero Jordana)

Gegenstand

Klage auf teilweise Nichtigerklärung der Verordnung (EG) Nr. 881/2002 des Rates vom 27. Mai 2002 über die Anwendung bestimmter spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen, und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 467/2001 des Rates über das Verbot der Ausfuhr bestimmter Waren und Dienstleistungen nach Afghanistan, über die Ausweitung des Flugverbots und des Einfrierens von Geldern und anderen Finanzmitteln betreffend die Taliban von Afghanistan (ABl. L 139, S. 9) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1330/2008 der Kommission vom 22. Dezember 2008 zur 103. Änderung der Verordnung Nr. 881/2002 (ABl. L 345, S. 60) geänderten Fassung oder der letztgenannten Verordnung und auf Ersatz des Schadens, der durch diese Rechtsakte entstanden sein soll

Tenor

Der Antrag auf Nichtigerklärung ist erledigt.

Der Schadensersatzantrag wird zurückgewiesen.

Die Europäische Kommission trägt neben ihren eigenen Kosten die von Herrn Abdulbasit Abdulrahim im Rahmen des Antrags auf Nichtigerklärung bis zum 18. Januar 2011 aufgewandten Kosten und hat der Kasse des Gerichts die hierfür als Prozesskostenhilfe vorgestreckten Beträge zu erstatten.

Herr Abdulbasit Abdulrahim trägt neben seinen eigenen Kosten sämtliche vom Rat der Europäischen Union aufgewandten Kosten und die von der Kommission nach dem 18. Januar 2011 im Rahmen des Antrags auf Nichtigerklärung aufgewandten Kosten sowie sämtliche von diesen beiden Organen im Rahmen des Antrags auf Schadensersatz aufgewandten Kosten.

____________

1 - ABl. C 167 vom 18.7.2009

Urteil: Liste der Dokumente



SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
YVES BOT

vom 22. Januar 2013(1)
Rechtssache C‑239/12 P
Abdulbasit Abdulrahim

gegen

Rat der Europäischen Union,
Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – Restriktive Maßnahmen gegen Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen – Verordnung (EG) Nr. 881/2002 – Streichung des Betroffenen aus der Liste der Personen, Gruppen und Organisationen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Rechtsschutzinteresse – Erledigung“


1.        In jüngerer Zeit hat das Gericht der Europäischen Union eine Reihe von Erledigungsbeschlüssen erlassen, nachdem die Namen von Klägern aus restriktive Maßnahmen verhängenden Listen gestrichen worden waren(2).

2.        Das vorliegende Rechtsmittel richtet sich gegen den Beschluss des Gerichts vom 28. Februar 2012, Abdulrahim/Rat und Kommission (T‑127/09, im Folgenden: angefochtener Beschluss), mit dem das Gericht u. a. entschieden hat, dass sich die Nichtigkeitsklage von Herrn Abdulrahim in der Hauptsache erledigt habe; diese Klage richtete sich gegen die Verordnung (EG) Nr. 881/2002 des Rates vom 27. Mai 2002 über die Anwendung bestimmter spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen, und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 467/2001 des Rates über das Verbot der Ausfuhr bestimmter Waren und Dienstleistungen nach Afghanistan, über die Ausweitung des Flugverbots und des Einfrierens von Geldern und anderen Finanzmitteln betreffend die Taliban von Afghanistan(3) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1330/2008 der Kommission vom 22. Dezember 2008(4) geänderten Fassung bzw. gegen diese letztgenannte Verordnung.

3.        Im Mittelpunkt des vorliegenden Rechtsmittels steht die Problematik, ob für Kläger noch ein Rechtsschutzinteresse fortbesteht, wenn die restriktive Maßnahme, die sich gegen sie richtet, im Lauf des Verfahrens aufgehoben worden ist(5).

4.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich darlegen, weswegen ich der Ansicht bin, dass dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen ist, als es die Ansicht vertrat, dass sich die Nichtigkeitsklage des Herrn Abdulrahim mangels Rechtsschutzinteresses in der Hauptsache erledigt habe.

I –    Rechtlicher Rahmen und Vorgeschichte des Rechtsstreits

5.        Am 21. Oktober 2008 wurde der Name von Herrn Abdulrahim in die Liste des Sanktionsausschusses aufgenommen, der mit der Resolution 1267 (1999) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 15. Oktober 1999 zur Situation in Afghanistan eingerichtet worden war.

6.        Mit der Verordnung Nr. 1330/2008 wurde der Name von Herrn Abdulrahim aus diesem Grund in die Liste der Personen und Organisationen aufgenommen, deren Gelder und andere wirtschaftliche Ressourcen gemäß der Verordnung Nr. 881/2002 einzufrieren sind (im Folgenden: streitige Liste).

7.        Mit Klageschrift, deren unterzeichnetes Original bei der Kanzlei des Gerichts am 15. April 2009 einging, erhob Herr Abdulrahim Klage gegen den Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission und beantragte im Wesentlichen zum einen, die Verordnung Nr. 881/2002 bzw. die Verordnung Nr. 1330/2008 für nichtig zu erklären, soweit sie ihn betreffen, und zum anderen, ihm den Schaden zu ersetzen, der ihm durch die genannten Rechtsakte entstanden sei. Diese Klage wurde unter dem Aktenzeichen T‑127/09 in das Register eingetragen.

8.        Am 22. Dezember 2010 beschloss der Sanktionsausschuss, Herrn Abdulrahims Namen aus seiner Liste zu streichen.

9.        Am 6. Januar 2011 beantragten die Rechtsanwälte von Herrn Abdulrahim schriftlich bei der Kommission, seinen Namen aus der streitigen Liste zu entfernen.

10.      Mit der Verordnung (EU) Nr. 36/2011 der Kommission vom 18. Januar 2011 zur 143. Änderung der Verordnung Nr. 881/2002 wurde Herrn Abdulrahims Name aus der streitigen Liste gestrichen(6).

11.      Mit Schreiben, das bei der Kanzlei am 27. Juli 2011 einging, übermittelte die Kommission dem Gericht eine Kopie der Verordnung Nr. 36/2011.

12.      Mit Schreiben, das am 17. November 2011 bei der Kanzlei einging, wurden die Parteien aufgefordert, sich schriftlich dazu zu äußern, welche Folgerungen aus dem Erlass der Verordnung Nr. 36/2011 insbesondere im Hinblick auf den Gegenstand der Klage zu ziehen seien.

13.      In ihren schriftlichen Stellungnahmen, die bei der Kanzlei am 6. Dezember 2011 eingingen, beantragten der Rat und die Kommission, festzustellen, dass der Antrag auf Nichtigerklärung gegenstandslos geworden und insoweit Erledigung in der Hauptsache eingetreten sei. In Bezug auf den Schadensersatz- und den Kostenantrag erhielten diese Parteien ihre früheren Anträge aufrecht.

14.      Herr Abdulrahim trat dem Antrag, dass der Nichtigkeitigkeitsantrag sich erledigt habe, entgegen. Er stützte sich insbesondere auf das Urteil des Gerichts vom 3. April 2008, PKK/Rat(7), und machte die Argumente geltend, die in Randnr. 19 des angefochtenen Beschlusses zusammengefasst werden und auf die das Gericht in diesem Beschluss eingeht.

II – Der angefochtene Beschluss

15.      Der angefochtene Beschluss erging auf der Grundlage von Art. 113 der Verfahrensordnung des Gerichts, wonach das Gericht jederzeit von Amts wegen nach Anhörung der Parteien darüber entscheiden kann, ob unverzichtbare Prozessvoraussetzungen fehlen, oder feststellen kann, dass die Klage gegenstandslos geworden und die Hauptsache erledigt ist(8). Das Gericht hielt sich aufgrund des Akteninhalts für ausreichend unterrichtet, um ohne Eröffnung der mündlichen Verhandlung zu entscheiden.

16.      In Randnr. 22 dieses Beschlusses hat es zunächst an die Rechtsprechung erinnert, nach der das Rechtsschutzinteresse eines Klägers im Hinblick auf den Klagegegenstand bei Klageerhebung gegeben sein muss und andernfalls die Klage unzulässig ist. Ebenso wie das Rechtsschutzinteresse muss auch der Streitgegenstand bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung weiter vorliegen – andernfalls ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt –, was voraussetzt, dass die Klage der Partei, die sie erhoben hat, im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann(9).

17.      In Randnr. 24 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht außerdem auf die Rechtsprechung verwiesen, nach der die Rücknahme oder unter bestimmten Umständen die Aufhebung des angefochtenen Rechtsakts durch das beklagte Organ die Nichtigkeitsklage gegenstandslos werden lässt, soweit sie für den Kläger zu dem gewünschten Ergebnis führt und ihm volle Genugtuung verschafft(10).

18.      In Randnr. 27 dieses Beschlusses hat das Gericht festgestellt, dass die Kommission mit der Verordnung Nr. 36/2011 Herrn Abdulrahims Namen aus der streitigen Liste entfernt habe, während seine Eintragung auf die Verordnung Nr. 1330/2008 zurückgegangen sei. In dieser Entfernung liege eine Aufhebung der genannten Verordnung, soweit dieser Rechtsakt Herrn Abdulrahim betreffe. In Randnr. 28 des angefochtenen Beschlusses vertritt das Gericht die Auffassung, für Herrn Abdulrahim führe diese Aufhebung zu dem gewünschten Ergebnis und verschaffe ihm volle Genugtuung, da er nach dem Erlass der Verordnung Nr. 36/2011 nicht mehr den ihn beschwerenden restriktiven Maßnahmen unterliege.

19.      In den Randnrn. 29 f. des genannten Beschlusses hat das Gericht daran erinnert, dass der Kläger bei einer Nichtigkeitsklage zwar weiterhin ein Interesse an der Nichtigerklärung einer im Laufe des Verfahrens aufgehobenen Handlung haben kann, wenn die Nichtigerklärung dieser Handlung für sich genommen Rechtsfolgen zeitigen kann(11). Werde nämlich eine Handlung für nichtig erklärt, so habe das Organ, das die Handlung erlassen habe, gemäß Art. 266 AEUV die sich aus dem Urteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen. Diese Maßnahmen beträfen nicht die Tilgung der Handlung aus der Gemeinschaftsrechtsordnung als solche, da diese aus dem Wesen der richterlichen Nichtigerklärung der Handlung folge. Sie beträfen vielmehr die Beseitigung der im Nichtigkeitsurteil festgestellten Rechtsverstöße. Mithin könne das betreffende Organ dazu veranlasst sein, den Kläger in angemessener Weise wieder in einen früheren Stand zu versetzen oder dafür zu sorgen, dass keine identische Handlung erlassen werde (12).

20.      In Randnr. 31 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht allerdings entschieden, dass sich im vorliegenden Fall weder aus der Akte noch aus den Argumenten des Klägers ergebe, dass ihm die Nichtigkeitsklage nach Erlass der Verordnung Nr. 36/2011 einen Vorteil im Sinne der in Randnr. 22 dieses Beschlusses zitierten Rechtsprechung verschaffen und dass ihm somit ein Rechtsschutzinteresse verbleiben könne.

21.      Was insbesondere erstens den Umstand betrifft, dass mit der Aufhebung einer Handlung eines Organs der Union nicht deren Rechtswidrigkeit anerkannt wird und die Aufhebung ex nunc wirkt, während ein Nichtigkeitsurteil die für nichtig erklärte Handlung rückwirkend aus der Rechtsordnung entfernt und sie so betrachtet wird, als ob sie niemals bestanden hätte(13), hat das Gericht in Randnr. 32 des angefochtenen Beschlusses darauf hingewiesen, dass dieser Umstand ein Interesse des Klägers an der Nichtigerklärung der angefochtenen Verordnung nicht begründen könne.

22.      In Randnr. 33 des genannten Beschlusses hat das Gericht darauf hingewiesen, dass zum einen nämlich unter den Umständen des vorliegenden Falles nichts darauf hindeute, dass die rückwirkende Tilgung dieser Handlung dem Kläger irgendeinen Vorteil verschaffe. Insbesondere erlaube nichts die Feststellung, dass die Kommission im Fall eines Nichtigkeitsurteils gemäß Art. 266 AEUV veranlasst wäre, Maßnahmen zur Beseitigung des festgestellten Rechtsverstoßes zu ergreifen.

23.      In Randnr. 34 des angefochtenen Beschlusses weist das Gericht darauf hin, dass zum anderen zwar das Bejahen des gerügten Rechtsverstoßes selbst eine der Formen des Schadensersatzes im Rahmen einer Schadensersatzklage nach Art. 268 AEUV und Art. 340 AEUV sein könne. Ein solches Bejahen allein könne aber noch nicht den Fortbestand des Rechtsschutzinteresses am objektiven Klageverfahren zur Nichtigerklärung von Handlungen der Organe gemäß Art. 263 AEUV und Art. 264 AEUV begründen. Andernfalls behielte ein Kläger trotz der Rücknahme oder Aufhebung einer Handlung immer ein Interesse daran, ihre Nichtigerklärung zu beantragen, was mit der in den Randnrn. 24 und 29 des genannten Beschlusses angeführten Rechtsprechung nicht in Einklang zu bringen sei.

24.      Zu der Rechtsprechung, wonach ein Kläger weiterhin ein Interesse an der Nichtigerklärung einer restriktive Maßnahmen verhängenden Entscheidung hat, die aufgehoben und ersetzt worden ist(14), hat das Gericht in Randnr. 35 des angefochtenen Beschlusses festgestellt, dass sie in einem besonderen Zusammenhang entwickelt worden sei, der sich von demjenigen des vorliegenden Falles unterscheide. Denn die Rechtsakte, die in diesen Rechtssachen in Rede gestanden hätten, seien im Gegensatz zur Verordnung Nr. 1330/2008 nicht nur aufgehoben, sondern auch durch neue Rechtsakte ersetzt worden, wobei die restriktiven Maßnahmen, die sich gegen die betroffenen Organisationen gerichtet hätten, beibehalten worden seien. Die ursprünglichen Wirkungen der aufgehobenen Rechtsakte hätten somit über die sie ersetzenden Rechtsakte gegenüber den betroffenen Organisationen weiterhin Bestand gehabt. Im vorliegenden Fall entferne aber die Verordnung Nr. 36/2011 schlicht und ergreifend den Namen des Klägers aus der streitigen Liste, womit sie die Verordnung Nr. 1330/2008, soweit sie den Kläger betreffe, aufhebe, ohne sie zu ersetzen. Die Wirkungen der Verordnung Nr. 1330/2008 dauerten somit nicht fort. Darüber hinaus beruhe die genannte Rechtsprechung auf dem Unterschied zwischen den Wirkungen der Aufhebung und denen der Nichtigerklärung eines Rechtsakts, und dieser Umstand sei im vorliegenden Fall, wie sich aus Randnr. 32 des angefochtenen Beschlusses ergebe, nicht relevant.

25.      In Randnr. 36 des angefochtenen Beschlusses hat das Gericht darauf hingewiesen, dass diese Unterscheidung durch das Urteil des Gerichtshofs vom 3. Dezember 2009, Hassan und Ayadi/Rat und Kommission(15), bestätigt werde. Denn zum einen habe sich der Gerichtshof, anstatt automatisch zu folgern, dass in den fraglichen Rechtssachen das Rechtsschutzinteresse der betreffenden Rechtsmittelführer fortbestehe, von Amts wegen in Randnr. 57 dieses Urteils die Frage gestellt, ob angesichts der Aufhebung der streitigen Verordnung und ihrer rückwirkenden Ersetzung noch über diese Rechtssachen zu entscheiden sei. Zum anderen habe der Gerichtshof in den Randnrn. 59 und 63 des genannten Urteils auf eine Reihe von Besonderheiten des ihm unterbreiteten Falles hingewiesen, die ihm in den Randnrn. 64 f. dieses Urteils die Schlussfolgerung gestatteten, dass „[u]nter diesen besonderen Umständen“ und im Unterschied zu dem, was mit Beschluss des Gerichtshofs vom 8. März 1993, Lezzi Pietro/Kommission(16), entschieden worden sei, der Erlass eines neuen Rechtsakts (und die gleichzeitige Aufhebung der streitigen Verordnung) nicht als gleichbedeutend mit einer schlichten Nichtigerklärung der streitigen Verordnung angesehen werden könne. Diese Besonderheiten seien vorliegend nicht gegeben. Insbesondere sei im vorliegenden Fall die Verordnung Nr. 36/2011 insoweit endgültig, als sie nicht mehr Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein könne. Folglich könne im Gegensatz zu dem, was der Gerichtshof in Randnr. 63 seines Urteils Hassan und Ayadi/Rat und Kommission festgestellt habe, ausgeschlossen werden, dass die Verordnung Nr. 1330/2008, soweit sie den Kläger betreffe, erneut in Kraft treten könne.

26.      Was zweitens die Tatsache betrifft, dass ein Kläger weiterhin ein Interesse daran haben kann, die Nichtigerklärung einer Handlung eines Organs der Union zu beantragen, damit vermieden wird, dass sich der Rechtsverstoß, der dieser Handlung seinem Vorbringen nach anhaftet, in Zukunft wiederholt(17), hat das Gericht in Randnr. 37 des angefochtenen Beschlusses daran erinnert, dass ein solches Rechtsschutzinteresse, das sich aus Art. 266 Abs. 1 AEUV ergebe, nur vorliegen könne, wenn sich der behauptete Rechtsverstoß unabhängig von den Umständen der Rechtssache, die zur Klageerhebung geführt hätten, in Zukunft wiederholen könne(18). Im vorliegenden Fall deute nichts in der Akte darauf hin, dass dies der Fall sein könne. Vielmehr war das Gericht, nachdem die Verordnung Nr. 36/2011 im Hinblick auf die besondere Situation des Klägers sowie offenbar auf die Entwicklung der Lage in Libyen erlassen worden sei, der Ansicht, dass es nicht wahrscheinlich sei, dass sich der behauptete Rechtsverstoß unabhängig von den Umständen, die zur Klageerhebung geführt hätten, in Zukunft wiederholen könne.

27.      Was drittens das Argument betrifft, dass ein überwiegendes öffentliches Interesse daran bestehe, dass der behauptete Verstoß gegen eine zwingende Norm des Völkerrechts geahndet werde, hat das Gericht in Randnr. 38 des angefochtenen Beschlusses die Ansicht vertreten, dass dieses Argument, ohne dass insoweit der Kommission eine Straffreiheit zugebilligt werde, nicht hinreichend sei, um das persönliche Interesse des Klägers, die Klage weiterzuverfolgen, zu begründen. Selbst wenn die Kommission, wie der Kläger vortrage, die zwingenden Normen des Völkerrechts beachten müsse und keine Entscheidung erlassen dürfe, die auf Angaben beruhe, die durch Folter erzwungen worden seien, sei der Kläger nicht befugt, im Interesse des Gesetzes oder der Organe tätig zu werden, und könne nur ein Interesse und Rügen geltend machen, die ihn persönlich beträfen(19).

28.      Was viertens etwaige schadensträchtige Folgen betrifft, die sich gegebenenfalls aus der behaupteten Rechtswidrigkeit der Verordnung Nr. 1330/2008 ergeben könnten, hat das Gericht in Randnr. 39 des angefochtenen Beschlusses darauf hingewiesen, dass der von den beklagten Organen gestellte Erledigungsantrag lediglich den Nichtigkeitsantrag betroffen habe. Es bleibe somit Herrn Abdulrahim unbenommen, den Ersatz des Schadens, der ihm seinen Angaben zufolge entstanden sei, im Rahmen seines auf die Art. 268 AEUV und 340 Abs. 2 und 3 AEUV gestützten Schadensersatzantrags weiterzuverfolgen(20).

29.      Was schließlich fünftens das Argument betrifft, dass es angeblich notwendig sei, dass für den Ersatz der vom Kläger verauslagten Kosten eine Entscheidung über die Begründetheit der vorliegenden Klage ergehe, hat das Gericht auf die Randnrn. 69 bis 71 des angefochtenen Beschlusses verwiesen.

30.      Nach diesen Ausführungen ist das Gericht in Randnr. 41 des angefochtenen Beschlusses zu dem Ergebnis gelangt, dass der Antrag auf Nichtigerklärung erledigt sei.

31.      Zum Schadensersatzantrag hat das Gericht die Ansicht vertreten, dass er im Hinblick auf die Schriftsätze, die Angaben in der Akte und die von den Parteien schriftlich eingereichten Erklärungen als offensichtlich bar jeder rechtlichen Grundlage, wenn nicht sogar als offensichtlich unzulässig erscheine.

32.      Das Gericht hat, nachdem es in Randnr. 45 des angefochtenen Beschlusses an die Voraussetzungen für die außervertragliche Haftung der Europäischen Union für rechtswidriges Verhalten ihrer Organe erinnert hat, in Randnr. 48 dieses Beschlusses entschieden, dass ein Schaden weder seinem Umfang nach dargetan noch bewiesen worden sei.

33.      Das Gericht hat außerdem in Randnr. 52 des angefochtenen Beschlusses entschieden, dass der Kausalzusammenhang nicht bewiesen sei, denn der materielle Schaden, der Herrn Abdulrahim seinen Angaben zufolge entstanden sei, aus der fehlenden Verfügbarkeit seiner Gelder, finanziellen Mittel und anderer wirtschaftlicher Ressourcen resultiere und darin bestehe, dass er sie nicht habe nutzen können, liege unmittelbar und direkt nicht im Erlass der Gemeinschaftsrechtsakte, die im vorliegenden Fall in Rede stünden, begründet, sondern im Erlass älterer Entscheidungen, nämlich zum einen in der Entscheidung des Sanktionsausschusses vom 21. Oktober 2008, seinen Namen in die Liste des genannten Ausschusses aufzunehmen, und zum anderen in der Entscheidung der britischen Behörden, gegen ihn restriktive Maßnahmen zu erlassen.

III – Das Rechtsmittel

34.      Der Rechtsmittelführer beantragt,

–        den Beschluss des Gerichts vom 28. Februar 2012 aufzuheben;

–        festzustellen, dass die Klage auf Nichtigerklärung nicht gegenstandslos ist;

–        den Rechtsstreit zur Entscheidung über die Klage auf Nichtigerklärung an das Gericht zurückzuverweisen;

–        der Kommission die Kosten dieses Rechtsmittels sowie die Kosten beim Gericht einschließlich der Kosten der Stellungnahme nach Aufforderung durch das Gericht aufzuerlegen.

35.      Der Rechtsmittelführer stützt seine Anträge auf zwei Rechtsmittelgründe.

36.      Mit seinem ersten Rechtsmittelgrund, der aus drei Teilen besteht, trägt der Rechtsmittelführer vor, dass dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen sei, als es den Generalanwalt nicht gehört habe und/oder den Rechtsmittelführer nicht aufgefordert habe, zur eventuellen Eröffnung der mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen, und/oder es unterlassen habe, die mündliche Verhandlung über die Frage zu eröffnen, ob die Klage auf Nichtigerklärung gegenstandslos geworden sei.

37.      Mit seinem zweiten Rechtsmittelgrund trägt der Rechtsmittelführer vor, dass dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen sei, indem es die Ansicht vertreten habe, dass die Klage gegenstandslos geworden sei.

IV – Würdigung

A –    Zum ersten Rechtsmittelgrund

1.      Erster Teil: rechtsfehlerhaft unterbliebene Anhörung des Generalanwalts

38.      Der Rechtsmittelführer macht geltend, dass das Gericht, indem es so vorgegangen sei, gegen Art. 114 § 4 seiner Verfahrensordnung verstoßen habe, auf den Art. 113 der Verfahrensordnung verweise, auf dessen Grundlage der angefochtene Beschluss ergangen sei.

39.      Insoweit genügt der Hinweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Verpflichtung des Gerichts, den Generalanwalt, bevor es entscheidet, anzuhören, im Licht der Art. 2 § 2, 18 und 19 der Verfahrensordnung des Gerichts zu lesen ist, wonach zum einen, wenn das Gericht als Kammer tagt, die Bestellung eines Richters des Gerichts zum Generalanwalt fakultativ ist und zum anderen die Bezugnahmen auf den Generalanwalt in der genannten Verfahrensordnung nur für die Fälle gelten, in denen tatsächlich ein Richter zum Generalanwalt bestellt worden ist(21). Da in der Rechtssache T‑127/09 kein Generalanwalt zur Unterstützung der Zweiten Kammer des Gerichts bestellt worden war, bestand keine Verpflichtung, vor der Feststellung der Erledigung einen Generalanwalt anzuhören. In dieser Hinsicht ist dem Gericht somit kein Rechtsfehler unterlaufen.

40.      Der erste Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist deshalb als unbegründet zurückzuweisen.

2.      Zweiter Teil: rechtsfehlerhaft unterbliebene Aufforderung an den Kläger, zur eventuellen Eröffnung der mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen

41.      Der Rechtsmittelführer stützt sein Vorbringen, dass das Gericht auf die mündliche Verhandlung nicht habe verzichten können, ohne ihn zuvor aufzufordern, sich hierzu zu äußern, auf einen Vergleich der Verfahrensordnung des Gerichtshofs in der zum Zeitpunkt der Einreichung des vorliegenden Rechtsmittels geltenden Fassung und der Verfahrensordnung des Gerichts sowie auf Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

42.      Hierzu genügt die Feststellung, dass der Wortlaut von Art. 113 und von Art. 114 §§ 3 und 4 der Verfahrensordnung des Gerichts eine derartige Anhörung der Parteien nicht verlangt. Das Gericht ist, worauf der Rat zutreffend hinweist, gemäß Art. 113 seiner Verfahrensordnung verfahren, als es die Parteien aufforderte, sich schriftlich dazu zu äußern, welche Folgerungen aus dem Erlass der Verordnung Nr. 36/2011 insbesondere im Hinblick auf den Gegenstand der Klage zu ziehen seien. Nach Anhörung der Parteien ist das Gericht im Einklang mit Art. 114 § 3 dieser Verfahrensordnung verfahren, als es befunden hat, dass die Eröffnung der mündlichen Verhandlung im Vorfeld seiner Entscheidung nicht erforderlich sei. Insoweit kann ihm kein Rechtsfehler angelastet werden.

43.      Der zweite Teil des ersten Rechtsmittelgrundes ist deshalb als unbegründet zurückzuweisen.

3.      Dritter Teil: rechtsfehlerhafte Nichteröffnung der mündlichen Verhandlung

44.      Der Rechtsmittelführer ist der Ansicht, dass das Gericht nur ausnahmsweise befugt sei, auf die mündliche Verhandlung zu verzichten, deren verfassungsrechtliche Bedeutung er betont. Die mündliche Verhandlung sei nur in Fällen entbehrlich, die keine essenziellen Rechts- und/oder Sachfragen aufwürfen. Nach seiner Antwort an das Gericht zum Fortbestand seines Rechtsschutzinteresses und den kurzen Stellungnahmen der Kommission und des Rates habe das Gericht unmittelbar entschieden.

45.      Der Rechtsmittelführer macht geltend, dass die Argumentation des Gerichts beinahe zur Gänze Aspekte und Rechtsprechung betreffe, über die nicht verhandelt worden sei und zu denen er sich weder schriftlich noch mündlich habe äußern können. Abgesehen von der angeführten Rechtsprechung habe das Gericht insbesondere Sachverhaltselemente zur Situation in Libyen und die Tatsache angeführt, dass es angeblich unmöglich sei, dass sich der geltend gemachte Verstoß in Zukunft wiederhole.

46.      Wie auch die Kommission ausführt, genügt der Hinweis, dass das Gericht gemäß Art. 113 und Art. 114 § 3 seiner Verfahrensordnung den angefochtenen Beschluss ohne Eröffnung der mündlichen Verhandlung erlassen konnte, da es sich für ausreichend unterrichtet hielt und der Rechtsmittelführer die Möglichkeit gehabt hatte, schriftlich zu der Frage Stellung zu nehmen(22). Darüber hinaus macht der Rechtsmittelführer, worauf der Rat hinweist, keine konkreten Angaben, welche neuen Aspekte er dem Gericht in einer mündlichen Verhandlung, verglichen mit der schriftlichen Stellungnahme, die er eingereicht hatte, hätte unterbreiten können.

47.      Nach alledem bin ich der Ansicht, dass der dritte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes als unbegründet zurückzuweisen ist.

48.      Nachdem die drei Teile des ersten Rechtsmittelgrundes erfolglos geblieben sind, ist der erste Rechtsmittelgrund insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.

B –    Zum zweiten Rechtsmittelgrund

49.      Nach Ansicht des Rechtsmittelführers war das Gericht rechtsfehlerhaft der Auffassung, dass seine Klage gegenstandslos geworden und sein Antrag auf Nichtigerklärung erledigt sei. Allgemein beanstandet er die enge Sichtweise des Gerichts, wonach eine Fortführung des Verfahrens ihm im Ergebnis keinen Vorteil habe verschaffen können.

50.      Insbesondere ergibt sich aus der Argumentation des Rechtsmittelführers vor dem Gerichtshof, dass er in Abrede stellt, dass die Entfernung seines Namens aus der streitigen Liste, die mit der Aufhebung der Verordnung Nr. 1330/2008 einhergehe, entgegen dem, was das Gericht in Randnr. 28 des angefochtenen Beschlusses entschieden habe, dazu angetan sei, ihm „volle Genugtuung zu verschaffen“. Damit beanstandet der Rechtsmittelführer eigentlich, dass das Gericht den Fortbestand seines Rechtsschutzinteresses verneint habe.

51.      Das Rechtsschutzinteresse setzt voraus, dass der Kläger bzw. der Rechtsmittelführer die praktische Wirksamkeit dartun kann, die sich für ihn aus der Nichtigerklärung des angefochtenen Rechtsakts ergibt(23). Das Erfordernis eines Rechtsschutzinteresses besteht sowohl bei der Nichtigkeitsklage als auch beim Rechtsmittel(24). Dieses Interesse muss nicht nur in der Person, sondern auch aktuell vorliegen.

52.      Die personale Dimension des Rechtsschutzinteresses kennzeichnet sich dadurch, dass die angefochtene Handlung insofern die Interessensphäre des Klägers bzw. Rechtsmittelführers beeinträchtigen muss, als sie ihm notwendig Schaden zufügt(25). Mit anderen Worten muss diese Handlung die Stellung des Klägers bzw. Rechtsmittelführers „ungünstig beeinflussen“(26), und diese Beeinflussung muss sich in einer Schädigung niederschlagen(27). Somit hat, auch wenn diese Regel zu nuancieren ist(28), grundsätzlich niemand ein Interesse daran, die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung anzugreifen, die für ihn günstig ist(29).

53.      Die Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung muss dem Kläger bzw. Rechtsmittelführer einen Vorteil verschaffen und ihm zugutekommen. Um mit Generalanwalt Lenz zu sprechen, muss, damit die personale Dimension des Rechtsschutzinteresses gegeben ist, durch die etwaige Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung „die Rechtsstellung des Klägers verbessert [werden]“(30). Der Kläger bzw. der Rechtsmittelführer muss insofern Nutzen aus der Nichtigerklärung ziehen können, als diese die nachteiligen Auswirkungen der fraglichen Handlung auf seine Rechtsstellung beseitigt(31). So ausgedrückt, spiegelt das Postulat eines notwendig persönlichen Interesses die Idee wider, dass ein Kläger nicht im Interesse des Gesetzes klagen darf(32).

54.      Darüber hinaus setzt das Rechtsschutzinteresse voraus, dass der Kläger bzw. der Rechtsmittelführer belegt, dass die angegriffene Handlung hinreichend unmittelbar und mit hinreichender Sicherheit seine rechtliche oder tatsächliche Lage beeinflusst, so dass das Urteil ihm tatsächlich, sei es auch auf rein immaterieller Ebene, Genugtuung verschaffen kann(33). Entscheidend bei der Prüfung der Voraussetzung des persönlichen Interesses ist, dass die Handlung den Kläger bzw. Rechtsmittelführer tatsächlich beschwert. Ausreichend ist somit nicht, dass die angefochtene Handlung an sich eine Beschwer bilden kann. Mit anderen Worten ist das Rechtsschutzinteresse nicht abstrakt, sondern im Hinblick auf die persönliche Lage des Klägers bzw. des Rechtsmittelführers zu beurteilen(34).

55.      Dem Kläger bzw. dem Rechtsmittelführer obliegt der Beweis der Beeinträchtigung seiner tatsächlichen oder rechtlichen Lage, auch wenn sich dieser Beweis in Wirklichkeit schon aus dem bloßen Gegenstand der Klage ergeben kann. Der Umstand, dass eine für den Kläger ungünstige Entscheidung an ihn gerichtet ist, wurde somit zuweilen als hinreichend erachtet, um ihm ein Rechtsschutzinteresse zu verleihen(35).

56.      Die zeitliche Dimension des Rechtsschutzinteresses bedeutet, dass es im Zeitpunkt der Klageerhebung vorliegen und während der Dauer des Verfahrens fortbestehen muss. Wie das Gericht in Randnr. 22 des angefochtenen Beschlusses ausgeführt hat, muss der Streitgegenstand ebenso wie das Rechtsschutzinteresse bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung weiter vorliegen – andernfalls ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt –, was voraussetzt, dass die Klage der Partei, die sie erhoben hat, im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann. Insbesondere kann – und hierauf hat das Gericht in Randnr. 29 seines Beschlusses ebenfalls hingewiesen – der Kläger bei einer Nichtigkeitsklage weiterhin ein Interesse an der Nichtigerklärung einer im Lauf des Verfahrens aufgehobenen Handlung haben, wenn die Nichtigerklärung dieser Handlung für sich genommen Rechtsfolgen zeitigen kann.

57.      Es liegt, wie das Gericht in einer anderen Rechtssache klarstellen konnte, im Interesse einer geordneten Rechtspflege, dass das Gericht feststellen kann, dass der Rechtsstreit sich in der Hauptsache erledigt hat, wenn ein Kläger, der ursprünglich ein Rechtsschutzinteresse hatte, wegen eines nach Klageerhebung eingetretenen Ereignisses jedes persönliche Interesse an der Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung verloren hat(36).

58.      Ich bin allerdings der Meinung, dass das Gericht im angefochtenen Beschluss den Fortbestand des Rechtsschutzinteresses beim Kläger übertrieben streng geprüft hat. Ebenso wie er bin ich der Ansicht, dass die Argumentation des Gerichts in mehrerer Hinsicht zu beanstanden ist.

59.      So bin ich entgegen dem, was das Gericht in Randnr. 32 des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, der Auffassung, dass der Umstand, dass mit der Aufhebung einer Handlung eines Organs der Union diese nicht als rechtswidrig anerkannt wird und diese Aufhebung lediglich Wirkungen für die Zukunft zeitigt – im Unterschied zu einem Nichtigkeitsurteil, mit dem die für nichtig erklärte Handlung rückwirkend aus der Rechtsordnung entfernt wird und sie so betrachtet wird, als ob sie niemals bestanden hätte(37) –, im Kontext der vorliegenden Rechtssache ein Interesse von Herrn Abdulrahim daran begründen kann, die Nichtigerklärung der Verordnung Nr. 1330/2008 zu erwirken. Insoweit ist es meiner Ansicht nach verfehlt, zu vertreten, wie das Gericht dies in Randnr. 33 des angefochtenen Beschlusses tut, dass „unter den Umständen des vorliegenden Falles nichts darauf hindeutet, dass die rückwirkende Tilgung dieser Handlung Herrn Abdulrahim irgendeinen Vorteil verschafft“.

60.      Der Rechtsmittelführer hat nämlich ein – trotz Aufhebung des angefochtenen Rechtsakts im Laufe des Verfahrens fortbestehendes – persönliches Interesse daran, darauf hinzuwirken, dass seine Eintragung in die streitige Liste aus der Rechtsordnung der Union rückwirkend getilgt wird, worin schlechthin der Wesensgehalt der richterlichen Nichtigerklärung eines Rechtsakts der Union besteht. Entgegen dem, was das Gericht in Randnr. 33 des angefochtenen Beschlusses für entscheidend zu halten scheint, spielt es insoweit keine Rolle, dass die Kommission und/oder der Rat im Fall eines Nichtigkeitsurteils nicht dazu veranlasst wären, gemäß Art. 266 AEUV weitere Maßnahmen zu erlassen, um die im Nichtigkeitsurteil festgestellten Rechtsverstöße zu beseitigen.

61.      Im Zusammenhang mit den im vorliegenden Fall in Rede stehenden Maßnahmen zum Einfrieren der Vermögenswerte, für die nicht bestritten werden kann, dass sie die betroffenen Personen nicht nur dadurch beschweren, dass sie die Nutzung ihres Eigentumsrechts beschränken, sondern auch dadurch, dass sie sie öffentlich als mit einer terroristischen Vereinigung in Verbindung stehend anprangern(38), ist es meiner Ansicht nach offenkundig, dass der Rechtsmittelführer trotz der Aufhebung der fraglichen Handlung der Union weiterhin ein Interesse daran hat, dass der Unionsrichter anerkennt, dass er niemals in die streitige Liste hätte aufgenommen werden dürfen oder dass dies nicht in dem von den Organen der Union durchgeführten Verfahren hätte geschehen dürfen. Vom Standpunkt des Rechtsmittelführers aus betrachtet und in Anbetracht der Genugtuung, die er mit der Erhebung einer Nichtigkeitsklage gegen seine Eintragung erstrebt, ist ein derartiges Bejahen der formellen und/oder materiellen Rechtswidrigkeit der angefochtenen Handlung nicht gleichbedeutend mit der Löschung seines Eintrags für die Zukunft. Hierbei darf man nicht vergessen, dass eine derartige Löschung für die Zukunft den Zweifel daran nicht zerstreuen kann, ob die Eintragung begründet war oder nicht und/oder ob das Verfahren, das zu dieser Eintragung bei der Union geführt hat, rechtmäßig war.

62.      Der Fortbestand des Rechtsschutzinteresses, das der Rechtsmittelführer unter den Umständen des vorliegenden Falles für sich in Anspruch nehmen kann, beruht im Einzelnen auf den folgenden Überlegungen.

63.      Erstens ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Rechtsmittelführer weiterhin ein Interesse daran haben kann, die Nichtigerklärung einer Handlung eines Organs der Union zu beantragen, damit vermieden wird, dass sich der Rechtsverstoß, der dieser Handlung seinem Vorbringen nach anhaftet, in Zukunft wiederholt(39). Nach einer anderen Formulierung besteht das Rechtsschutzinteresse fort, wenn die Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung selbst geeignet ist, rechtliche Wirkungen zu erzeugen, die insbesondere darin bestehen können, dass verhindert wird, dass sich eine rechtswidrige Praxis der Organe der Union in Zukunft wiederholt(40). Ein solches Interesse folgt aus Art. 266 Abs. 1 AEUV, wonach das Organ, dem das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergebenden Maßnahmen zu ergreifen hat(41).

64.      Zwar hat der Gerichtshof klargestellt, dass dieses Rechtsschutzinteresse nur dann gegeben sein kann, wenn sich der behauptete Rechtsverstoß unabhängig von den Umständen der Rechtssache, die zur Klageerhebung geführt haben, in Zukunft wiederholen kann. Entgegen dem, was das Gericht in Randnr. 37 des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, ist diese Voraussetzung jedoch bei der Nichtigkeitsklage, die der Rechtsmittelführer erhoben hat, erfüllt. Denn diese Klage zielt insbesondere darauf ab, die Vereinbarkeit der angefochtenen Verordnung mit dem Unionsrecht in verfahrensrechtlicher Hinsicht, insbesondere im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, in Abrede zu stellen. Der Rechtsmittelführer behält somit ein Interesse daran, dass ein Urteil über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens ergeht, das zu seiner Aufnahme in die streitige Liste bei der Union geführt hat, damit der behauptete Rechtsverstoß sich in Zukunft im Rahmen eines entsprechenden Verfahrens, das womöglich gegen ihn eingeleitet wird, nicht wiederholt(42). Ein Urteil des Unionsrichters könnte gegebenenfalls die Organe der Union dazu veranlassen, in Zukunft die Regelung zur Eintragung in die Listen in geeigneter Weise zu ändern(43).

65.      Zweitens kann der Rechtsmittelführer mit Fug und Recht geltend machen, dass ihn das Bejahen des behaupteten Rechtsverstoßes rehabilitieren könnte, indem es seinen Ruf wiederherstellt. Somit bin ich der Meinung, dass der Rechtsmittelführer zumindest ein immaterielles Interesse daran hat, dass der Unionsrichter feststellt, dass der Rechtsmittelführer niemals in die streitige Liste hätte aufgenommen werden dürfen oder dass dies nicht in dem von den Organen der Union durchgeführten Verfahren hätte geschehen dürfen(44). Im Übrigen stelle ich fest, dass der Rechtsmittelführer bei seiner Nichtigkeitsklage in der Klageschrift eine Verletzung seines Rechts auf Privat- und Familienleben insbesondere unter dem Aspekt einer Schädigung seines Rufes geltend gemacht hat(45). Unabhängig von einer Schadensersatzklage kann somit ein Nichtigkeitsurteil eine Form der Wiedergutmachung des immateriellen Schadens darstellen, der dem Rechtsmittelführer entstanden ist.

66.      Ich teile mithin nicht die Meinung der Kommission und des Rates, wenn diese Organe vortragen, dass ein Nichtigkeitsurteil, mit dem Verfahrensfehler gerügt würden, nicht dazu beitragen könnte, den Ruf des Rechtsmittelführers wiederherzustellen. Denn eine solche Argumentation scheint mir die Tatsache zu verkennen, dass formelle und materielle Aspekte eng miteinander verbunden sind, so dass ein Verfahrensfehler Auswirkungen auf den Inhalt der angefochtenen Handlung haben kann(46). Dies ist umso mehr der Fall, als der Rechtsmittelführer im vorliegenden Fall eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend macht, die ihn womöglich daran hindern konnte, darzutun, dass er keine Verbindungen zu einer terroristischen Organisation unterhalte und somit nicht hätte in die streitige Liste aufgenommen werden dürfen.

67.      Drittens hat das Gericht die Rechtsprechung unberücksichtigt gelassen, nach der ein Kläger auch insoweit weiterhin ein Interesse daran haben kann, die Nichtigerklärung einer für ihn ungünstigen Handlung zu beantragen, als eine Feststellung der Rechtswidrigkeit durch den Unionsrichter ihm zur Grundlage einer etwaigen Schadensersatzklage mit dem Ziel dienen könnte, eine angemessene Wiedergutmachung des Schadens zu erlangen, der ihm durch die angefochtene Handlung entstanden ist(47).

68.      Meines Erachtens zeigen diese Überlegungen, dass dem Rechtsmittelführer dadurch, dass die angefochtene Handlung im Lauf des Verfahrens aufgehoben worden ist, nicht „volle“ Genugtuung zuteilgeworden ist. Zwar hat er einen Teil dessen erlangt, wonach er strebte, nämlich dass sein Name aus der streitigen Liste entfernt worden ist und die daraus sich ergebenden Auswirkungen entfallen sind. Jedoch sind die etwaigen Fehler im Zusammenhang mit seiner Aufnahme in diese Liste nicht bereinigt worden. Somit ist das persönliche Rechtsschutzinteresse des Rechtsmittelführers nicht insgesamt in Wegfall geraten.

69.      Außerdem stelle ich klar, dass wir, wie das Gericht in den Randnrn. 35 f. des angefochtenen Beschlusses darlegt, zwar davon ausgehen können, dass ein Unterschied zwischen den Rechtssachen, in denen es um aufgehobene und ersetzte restriktive Maßnahmen ging, bei denen die Betreffenden weiterhin in der streitigen Liste eingetragen blieben(48), und der vorliegenden Rechtssache besteht, in der der Name des Rechtsmittelführers schlicht und ergreifend aus der streitigen Liste entfernt worden ist; ein solcher Unterschied bedeutet aber aus den vorstehend dargelegten Gründen keineswegs, dass das Rechtsschutzinteresse der Rechtsmittelführer in der zweitgenannten Konstellation als weggefallen anzusehen wäre.

70.      Nach alledem bin ich der Auffassung, dass dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen ist, als es die Ansicht vertrat, dass es über den Nichtigkeitsantrag nicht mehr befinden müsse, weil das Rechtsschutzinteresse des Rechtsmittelführers nicht mehr bestehe. Daraus folgt, dass der zweite Rechtsmittelgrund begründet ist und dass somit der angefochtene Beschluss aufzuheben ist. Ich schlage außerdem dem Gerichtshof vor, diese Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen, damit es über den Nichtigkeitsantrag von Herrn Abdulrahim befindet, und die Entscheidung über die Kosten vorzubehalten.

V –    Ergebnis

71.      Aufgrund dessen schlage ich dem Gerichtshof vor,

–        den Beschluss des Gerichts der Europäischen Union vom 28. Februar 2012, Abdulrahim/Rat und Kommission (T‑127/09), aufzuheben, soweit das Gericht der Europäischen Union entschieden hat, dass sich der Antrag auf Nichtigerklärung erledigt habe;

–        diese Rechtssache an das Gericht der Europäischen Union zurückzuverweisen, damit es über den Antrag auf Nichtigerklärung von Herrn Abdulrahim entscheidet, und die Entscheidung über die Kosten vorzubehalten.

1 – Originalsprache: Französisch.

2 – Beschlüsse des Gerichts vom 6. Juli 2011, SIR/Rat (T‑142/11), vom 6. Juli 2011, Petroci/Rat (T‑160/11), vom 7. Dezember 2011, Fellah/Rat (T‑255/11), vom 15. Dezember 2011, Gooré/Rat (T‑285/11), vom 17. Januar 2012, Afriqiyah Airways/Rat (T‑436/11), vom 31. Januar 2012, Ayadi/Kommission (T‑527/09), vom 17. Februar 2012, Dagher/Rat (T‑218/11), vom 24. April 2012, El Fatmi/Rat (T‑76/07, T‑362/07 und T‑409/08), vom 4. Juni 2012, Attey u. a./Rat (T‑118/11, T‑123/11 und T‑124/11) und Ezzedine u. a./Rat (T‑131/11, T‑132/11, T‑137/11, T‑139/11 bis T‑141/11, T‑144/11 bis T‑148/11 und T‑182/11), sowie vom 3. Juli 2012, Ghreiwati/Rat (T‑543/11).

3–      ABl. L 139, S. 9.

4–      ABl. L 345, S. 60.

5 – Weitere beim Gerichtshof anhängige Rechtssachen, wie etwa die Rechtssache Ayadi/Kommission (C‑183/12 P), werfen ein ähnliches Problem auf. Darüber hinaus ist in den noch beim Gerichtshof anhängigen verbundenen Rechtssachen Kommission u. a./Kadi (C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P) Herr Kadi im Lauf des Verfahrens von der streitigen Liste entfernt worden, ebenso wie Frau Danièle Boni-Claverie in der Rechtssache Boni-Claverie/Rat (C‑480/11 P), die beim Gerichtshof anhängig ist. Vgl. außerdem das Urteil vom 15. November 2012, Rat/Bamba (C‑417/11 P, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), in dem der Gerichtshof in Bezug auf das Rechtsschutzinteresse von Frau Bamba bei der Entscheidung der Rechtssache keine Schlussfolgerungen daraus gezogen hat, dass Frau Bamba nach einer turnusmäßigen, im Lauf des Verfahrens durchgeführten Überprüfung der Listen der Personen, gegen die die in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen angewandt wurden, nicht mehr auf diesen Listen geführt wurde (Randnr. 88).

6 – ABl. L 14, S. 11, und L 36, S. 12 (Berichtigung).

7–      T‑229/02, Randnrn. 46 bis 51.

8 – Diese Bestimmung stellt klar, dass die Entscheidung gemäß Artikel 114 § 3 („[ü]ber den Antrag wird mündlich verhandelt, sofern das Gericht nichts anderes bestimmt“) und § 4 („[n]ach Anhörung des Generalanwalts entscheidet das Gericht über den Antrag oder behält die Entscheidung dem Endurteil vor“) der Verfahrensordnung ergeht.

9 – Das Gericht hat insoweit auf die Urteile des Gerichtshofs vom 7. Juni 2007, Wunenburger/Kommission (C‑362/05 P, Slg. 2007, I‑4333, Randnr. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung), und des Gerichts vom 10. Dezember 2010, Ryanair/Kommission (T‑494/08 bis T‑500/08 und T‑509/08, Slg. 2010, II‑5723, Randnrn. 42 f.), Bezug genommen.

10 – Insoweit hat das Gericht auf seine Beschlüsse vom 28. März 2006, Mediocurso/Kommission (T‑451/04, Randnr. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung), SIR/Rat (Randnr. 18) und Petroci/Rat (Randnr. 15) Bezug genommen.

11 – Hierbei hat das Gericht auf seine Beschlüsse vom 14. März 1997, Arbeitsgemeinschaft Deutscher Luftfahrt-Unternehmen und Hapag-Lloyd/Kommission (T‑25/96, Slg. 1997, II‑363, Randnr. 16), und vom 10. März 2005, IMS Health/Kommission (T‑184/01, Slg. 2005, II‑817, Randnr. 38), Bezug genommen.

12 – Hierzu hat das Gericht auf den Beschluss Arbeitsgemeinschaft Deutscher Luftfahrt-Unternehmen und Hapag-Lloyd/Kommission (Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung) verwiesen.

13 – In diesem Sinne verweist das Gericht auf sein Urteil vom 13. Dezember 1995, Exporteurs in Levende Varkens u. a./Kommission (T‑481/93 und T‑484/93, Slg. 1995, II‑2941, Randnr. 46).

14 – Vgl. in diesem Sinne außer dem Urteil PKK/Rat (Randnrn. 46 bis 51) die Urteile des Gerichts vom 12. Dezember 2006, Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat (T‑228/02, Slg. 2006, II‑4665, Randnr. 35), vom 11. Juli 2007, Al‑Aqsa/Rat (T‑327/03, Randnr. 39), und vom 23. Oktober 2008, People’s Mojahedin Organization of Iran/Rat (T‑256/07, Slg. 2008, II‑3019, Randnr. 48).

15–      C‑399/06 P und C‑403/06 P, Slg. 2009, I‑11393.

16–      C‑123/92, Slg. 1993, I‑809.

17 – Zu dieser Fallkonstellation hat das Gericht auf das Urteil Wunenburger/Kommission verwiesen (Randnr. 50).

18–      Ebd., Randnrn. 51 f.

19 – In diesem Sinne zitiert das Gericht das Urteil des Gerichtshofs vom 30. Juni 1983, Schloh/Rat (85/82, Slg. 1983, 2105, Randnr. 14).

20 – Dieser Antrag ist in den Randnrn. 42 ff. des angefochtenen Beschlusses geprüft worden.

21 – Beschlüsse vom 25. Juni 2009, Srinivasan/Bürgerbeauftragter (C‑580/08 P, Randnr. 35), und vom 22. Oktober 2010, Seacid/Parlament und Rat (C‑266/10 P, Randnr. 11), sowie Urteil vom 22. September 2011, Bell & Ross/HABM (C‑426/10 P, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 28).

22 – Vgl. u. a. Urteil vom 19. Januar 2006, AIT/Kommission (C‑547/03 P, Slg. 2006, I‑845, Randnr. 35), und Beschluss vom 8. Dezember 2006, Polyelectrolyte Producers Group/Rat und Kommission (C‑368/05 P, Randnr. 46).

23–      Vgl. Nr. 19 der Schlussanträge des Generalanwalts Tesauro in der Rechtssache, in der das Urteil vom 19. Oktober 1995, Rendo u. a./Kommission (C‑19/93 P, Slg. 1995, I‑3319), ergangen ist.

24 – Vgl. u. a. für die Rechtsmittel die Urteile Rendo u. a./Kommission (Randnr. 13), Hassan und Ayadi/Rat und Kommission (Randnr. 58), und vom 21. Dezember 2011, France/People’s Mojahedin Organization of Iran (C‑27/09 P, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25 – Cassia, P., L’accès des personnes physiques ou morales au juge de la légalité des actes communautaires, Dalloz, 2002, S. 464.

26–      Urteil des Gerichts vom 30. April 1998, Cityflyer Express/Kommission (T‑16/96, Slg. 1998, II‑757, Randnr. 34).

27 – Cassia, P., a. a. O., S. 464.

28 – Vgl. hierzu Rideau, J., Jurisclasseur Europe, Blatt 330, Ziff. 88.

29 – Vgl. u. a. Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 15. März 1995, Cantine dei colli Berici/Kommission (T‑6/95 R, Slg. 1995, II‑647, Randnr. 29).

30–      Vgl. Nr. 9 der Schlussanträge des Generalanwalts Lenz in der Rechtssache, in der das Urteil vom 18. Mai 1994, Codorniu/Rat (C‑309/89, Slg. 1994, I‑1853), ergangen ist.

31 – Wathelet, M., Contentieux européen, Larcier, 2010, S. 186.

32 – Van Raepenbusch, S., „L’intérêt à agir dans le contentieux communautaire“, Mélanges en hommage à Georges Vandersanden, Bruylant, 2008, S. 384.

33–      Ebd., S. 385.

34–      Ebd., S. 389 f. Der Autor zitiert die Urteile des Gerichtshofs vom 12. Dezember 1967, Bauer/Kommission (15/67, Slg. 1967, 530), und des Gerichts vom 9. November 2004, Vega Rodríguez/Kommission (T‑285/02 und T‑395/02, Slg. ÖD 2004, I‑A‑333 und II‑1527, Randnr. 25), sowie den Beschluss des Gerichts für den öffentlichen Dienst vom 15. Mai 2006, Schmit/Kommission (F‑3/05, Slg. ÖD 2006, I‑A‑1‑9 und II‑A‑1‑33, Randnr. 40).

35 – Vgl. für Entscheidungen, die einen Zusammenschluss für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklären, die Urteile des Gerichts vom 25. März 1999, Gencor/Kommission (T‑102/96, Slg. 1999, II‑753, Randnr. 42), und vom 15. Dezember 1999, Kesko/Kommission (T‑22/97, Slg. 1999, II‑3775, Randnr. 57).

36–      Beschluss des Gerichts vom 17. Oktober 2005, First Data u. a./Kommission (T‑28/02, Slg. 2005, II‑4119, Randnr. 36).

37 – Vgl. zu dieser Unterscheidung u. a. die vorgenannten Urteile Exporteurs in Levende Varkens u. a./Kommission (Randnr. 46) und Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat (Randnr. 35).

38 – So hat der Gerichtshof anerkannt, dass die restriktiven Maßnahmen eine bedeutsame Auswirkung auf die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen haben. Vgl. insbesondere das Urteil Hassan und Ayadi/Rat und Kommission (Randnr. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung) und außerdem das Urteil vom 18. Januar 2007, PKK und KNK/Rat (C‑229/05 P, Slg. 2007, I‑439, Randnr. 110).

39–      Urteil Wunenburger/Kommission (Randnr. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40 – Vgl. u. a. Urteil des Gerichtshofs vom 24. Juni 1986, AKZO Chemie und AKZO Chemie UK/Kommission (53/85, Slg. 1986, 1965, Randnr. 21), sowie Urteile des Gerichts vom 9. November 1994, Scottish Football/Kommission (T‑46/92, Slg. 1994, II‑1039, Randnr. 14), und vom 11. Mai 2010, PC‑Ware Information Technologies/Kommission (T‑121/08, Slg. 2010, II‑1541, Randnrn. 39 f.). Vgl. außerdem für ein Rechtsmittelverfahren Urteil vom 3. September 2009, Moser Baer India/Rat (C‑535/06 P, Slg. 2009, I‑7051, Randnr. 25).

41–      Urteil Wunenburger/Kommission (Randnr. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42 – Vgl. entsprechend das Urteil Wunenburger/Kommission (Randnrn. 52 bis 59) und das Urteil des Gerichts vom 18. März 2009, Shanghai Excell M&E Enterprise und Shanghai Adeptech Precision/Rat (T‑299/05, Slg. 2009, II‑565, Randnrn. 48 bis 52).

43–      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 1979, Simmenthal/Kommission (92/78, Slg. 1979, 777, Randnr. 32).

44 – Zum immateriellen Interesse eines Klägers am Ausgang eines Rechtsstreits vgl. u. a. Urteile vom 10. Juni 1980, M./Kommission (155/78, Slg. 1980, 1797, Randnr. 6), und vom 22. Dezember 2008, Gordon/Kommission (C‑198/07 P, Slg. 2008, I‑10701, Randnrn. 42 bis 45), sowie die Nrn. 49 bis 53 meiner Schlussanträge zu dieser Rechtssache. Vgl. auch Urteil des Gerichts vom 21. März 2002, Shaw und Falla/Kommission (T‑131/99, Slg. 2002, II‑2023, Randnr. 36).

45 – Vgl. Randnr. 99 der Klageschrift in der Rechtssache T‑127/09.

46 – So hat der Rechtsmittelführer, soweit sich ein Verfahrensfehler auf die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verordnung auswirken konnte, ein legitimes Interesse daran, die etwaige Nichtbeachtung wesentlicher Formerfordernisse zu rügen (vgl. Urteil vom 7. Mai 1991, Oliveira/Kommission, C‑304/89, Slg. 1991, I‑2283, Randnr. 17).

47 – Vgl. u. a. Urteile vom 5. März 1980, Könecke Fleischwarenfabrik/Kommission (76/79, Slg. 1980, 665, Randnr. 9), vom 31. März 1998, Frankreich u. a./Kommission (C‑68/94 und C‑30/95, Slg. 1998, I‑1375, Randnr. 74), vom 13. Juli 2000, Parlament/Richard (C‑174/99 P, Slg. 2000, I‑6189, Randnrn. 33 f.), und vom 6. Dezember 2007, Marcuccio/Kommission (C‑59/06 P, Randnr. 32). Vgl. außerdem Beschluss des Gerichts vom 29. Mai 1997, Contargyris/Rat (T‑6/96, Slg. ÖD 1997, I‑A‑119 und II‑357, Randnr. 32), und Urteil Shanghai Excell M&E Enterprise und Shanghai Adeptech Precision/Rat (Randnr. 53).

48 – Vgl. u. a. die in Fn. 14 dieser Schlussanträge angeführten Urteile sowie Urteil Hassan und Ayadi/Rat und Kommission.


Quelle