Donnerstag, 31. Dezember 2015

Happy New Year 2016




Happy New Year 2016




Ich wünsche allen Teilnehmern, Freunden und Unterstützern

Fröhliche Weihnachten
und
alles erdenklich Gute,
vor allem Gesundheit, Glück, Liebe und Erfolg
im neuen Jahr 2016.

Wenn´s alte Jahr erfolgreich war,
dann freue dich auf´s Neue.
Und war es schlecht,
ja dann erst recht.
(Albert Einstein)

Ihr Volker Stiny
von winyourhome.de/braincontest.org

Mittwoch, 9. Dezember 2015

Heute im TV: In der Gutachterfalle


Mi, 9. Dez 2015 · 20:15-21:00 · SWR BW
betrifft: In der Gutachterfalle

SWR Eberhart Herrmann - Der erfolgreiche Kunst- und Teppichhändler ist vor den Folgen eines vermeintlichen Fehlgutachtens über ihn in die Schweiz geflohen: "Gegen Gutachter hat man keine Chance! - Das wusste ich von meinem Jura-Studium." - Seine Lebensgefährtin ist fassungslos über das deutsche Gutachtersystem.

Wenn die Justiz am Ende ist

Beschreibung
"Was kann mir schon passieren? - ich bin ja gesund", dachte Ilona Haselbauer. Wegen eines Nachbarschaftsstreits stand sie vor Gericht. Sie soll ihre Hausmeisterin mit einem Einkaufswagen verletzt haben. Haselbauer bestreitet das energisch. Dem Richter wird es zu bunt, er will ein psychiatrisches Gutachten. Der Gutachter kommt zu dem Schluss: "Querulatorische Persönlichkeitsstörung! Eine Gefahr für die Allgemeinheit!

Die Sozialpädagogin kommt in eine forensische Klinik - für sieben Jahre!
Kaum zu glauben und dennoch kein Einzelfall.

Der Film stellt drei Menschen vor, die falsch begutachtet und weggesperrt wurden. 

Der Gutachter kommt zu dem Schluss: "Querulatorische Persönlichkeitsstörung! - Das mit dem Einkaufswagen ist erst der Anfang, weitere und noch gefährlichere Straftaten sind zu erwarten." Eine anmaßende, schwer zu belegende Behauptung, so scheint es. Aber wenn ein Gutachter so etwas schreibt, hat das Folgen: Haselbauer gilt nun als "vermindert schuldfähig" und als "Gefahr für die Allgemeinheit".  "Als ich das Gutachten gelesen habe, dachte ich, es geht um einen anderen Menschen. Das bin ich nicht!", so Haselbauer. Der Richter entscheidet, dass die damals 51jährige Sozialpädagogin in eine forensische Klinik muss. Die Gesellschaft müsse vor ihr geschützt werden. Sage und schreibe sieben Jahre wird sie weggesperrt. Haselbauer mag bisweilen unbequem oder auch rabiat sein, aber eine ernsthafte Gefahr?  Sieben Jahre Freiheitsentzug?

Man kann es kaum glauben, aber es ist wahr und sie ist kein Einzelfall, denn auch Michael Perez ist es ähnlich ergangen. Der junge Mann ist ebenfalls seit sieben Jahren in der Forensik - bis heute. Seine Straftat: ein Faustschlag in das Gesicht des Sohnes seines Vermieters. Die beiden hatten seit langem Streit, der immer weiter eskalierte. Seine Schwester kämpft seit zwei Jahren um seine Entlassung: "Das steht doch in überhaupt keinem Verhältnis mehr! Ich habe Angst, dass mein Bruder sich aufgibt", fürchtet Bianka Perez. 

Es gibt wohl eine ganze Reihe von Gutachtern, die Menschen ohne lange zu zögern als "schuldunfähig" oder "vermindert schuldfähig" einstufen, auch bei Bagatelldelikten. Wohl wissend, dass das häufig viele Jahre im Maßregelvollzug bedeuten kann. Die Schwere der Tat spielt da keine Rolle.  Es scheint so, als würden moralische Bedenken oder auch wissenschaftliche Standards teilweise ausgeblendet werden. Persönliches Gerechtigkeitsempfinden, Antipathie, Angst vor Rückfällen und auch die Erwartungen der Auftraggeber spielen offensichtlich eine große Rolle.

Da viele Richter psychiatrische Gutachten nicht oder nur selten kritisch hinterfragen, machen sie die Gutachter zu den eigentlichen Richtern. Das ist vor allem deshalb bedenklich, weil Fehlgutachten nicht die Ausnahme, sondern fast die Regel sind, wie ein Studie vermuten lässt:
In 85 Prozent der untersuchten Fälle wurde die Gefährlichkeit von entlassenen Straftätern falsch eingeschätzt. 
Diese Erfahrung musste auch Eberhard Herrmann machen: der erfolgreiche Geschäftsmann ist vor den Folgen eines vermeintlichen Fehlgutachtens ins Ausland geflohen. Zwanzig Jahre lang hat er gegen seinen Gutachter prozessiert. Der Psychiatrie-Professor hat Herrmann nie persönlich gesprochen, diagnostiziert aber aufgrund von Schilderungen eine "gefährliche Manie". Warum haben Gutachter eine solche Macht? Wer kontrolliert die Gutachter - und die Vergabe von Gutachteraufträgen? Wie wird die Qualität von Gutachten überprüft? - Fragen, die sich nicht erst seit dem spektakulären Fehlgutachten von Gustl Mollath stellen.

Tagtäglich werden Menschen falsch begutachtet - und weggesperrt.  Die ehemalige Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hat in den letzten Monaten ihrer Amtszeit die Weichen für eine Gutachterreform gestellt. Eine Reform, die Macht und Willkür der Gutachter einschränken und für mehr Gerechtigkeit sorgen sollte. Sie liegt dem Justizministerium vor und wird kontrovers diskutiert. - Fehlt die Bereitschaft, wirklich etwas zu ändern?

Zusätzliche Information
Die journalistischen Filme zeigen Entwicklungen auf, beziehen Standpunkt, liefern Analysen und erzählen Geschichten einzelner Menschen emotional nah am Zuschauer.

Weitere beteiligte Personen
Thomas Diehl (Autor)
Webseite 

s.a.: Viel Geld für viel Leid:
Wie Gerichtsgutachter Familien zerstören

weiterlesen

Fall Mollath: Revision des Angeklagten als unzulässig verworfen


Bundesgerichtshof

Mitteilung der Pressestelle

Nr. 201/2015 vom 09.12.2015

Fall Mollath: Revision des Angeklagten als unzulässig verworfen


Beschluss vom 14. Oktober 2015 - 1 StR 56/15

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat im Fall Mollath die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 14. August 2014 verworfen.

Das Landgericht Regensburg hatte den Angeklagten mit Urteil vom 14. August 2014 in dem wiederaufgenommenen Verfahren freigesprochen und ihm für näher bestimmte Zeiträume der Unterbringung eine Entschädigung zugesprochen. Eine Maßregel hatte das Landgericht Regensburg nicht mehr angeordnet. Einen Teil der dem Angeklagten zur Last gelegten Vorwürfe hatte es nach der Beweiswürdigung als nicht erwiesen angesehen und den Angeklagten insoweit aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Im Hinblick auf den Vorwurf einer gefährlichen Körperverletzung im Jahr 2001 war das Landgericht Regensburg zu der Überzeugung gelangt, der Angeklagte habe den gesetzlichen Tatbestand vorsätzlich und rechtswidrig erfüllt, im Tatzeitpunkt aber nicht ausschließbar ohne Schuld im Sinne des § 20 StGB gehandelt. Der Freispruch des Angeklagten von diesem Vorwurf fußt auf diesen rechtlichen Erwägungen.

Der Angeklagte hat mit seiner gegen dieses Urteil gerichteten Revision seine Freisprechung beanstandet, soweit diese (nur) aus Rechtsgründen erfolgt ist; durch die ihm nachteiligen Feststellungen des Urteils sei er trotz der Freisprechung faktisch beschwert.

Der 1. Strafsenat hat die Revision des Angeklagten als unzulässig verworfen. Ein Angeklagter kann eine Entscheidung nur dann zulässig anfechten, wenn er durch sie beschwert ist. Dies bedeutet, dass die Urteilsformel einen unmittelbaren Nachteil für den "Beschwerten" enthalten muss. Es genügt nicht, wenn ihn – wie im vorliegenden Fall – nur der Inhalt der Urteilsgründe in irgendeiner Weise belastet. Aus verfassungsrechtlichen Vorgaben und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt sich vorliegend nichts anderes. Danach ist die Revision gegen ein freisprechendes Urteil nur ausnahmsweise unter eng umgrenzten Umständen zulässig. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor.

Vorinstanz:

LG Regensburg - Urteil vom 14. August 2014 - 6 KLs 151 Js 4111/2013 WA

Karlsruhe, den 9. Dezember 2015

§ 349 StPO lautet auszugsweise wie folgt:

Absatz 1:

Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluss als unzulässig verwerfen.

Pressestelle des Bundesgerichtshofs
76125 Karlsruhe
Telefon (0721) 159-5013
Telefax (0721) 159-5501


Die "Schuldfeststellung" einer gefährlichen Körperverletzung erfolgte durch das LG Regensburg ohne jeglichen Sachbeweis! Die angeblichen Würgemale befinden sich am Oberarm! Wer diese verursachte wurde nie geklärt!

Eine "Schuld" i. S. der Anklage wurde nie zweifelsfrei nachgewiesen!

Das Bundesverfassungericht (2 BvR 2735/14) verlangt entsprechend dem internationalem Recht den Nachweis von Tat und Schuld. (s.u.)

Dieser Vorgabe entspricht die "Schuldfeststellung" einer gefährlichen Körperverletzung ohne jeglichen Sachbeweis durch das LG Regensburg nicht - was den BGH jedoch erneut nicht störte die Revison abzulehnen!
weiterlesen


Urteil im Mollath-Prozess
Freispruch mit Makel

Das Landgericht Regensburg hat Gustl Mollath in vollem Umfang freigesprochen, sieht ihn aber als gewalttätig.
weiterlesen


Oliver García
Was ist eigentlich ein Justizopfer? Und: Gibt es so etwas überhaupt? Der „immerwährende“ Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bayerischen Landtag, Franz Schindler (SPD), ist einmal mit der Behauptung aufgefallen, es gäbe gar keine Justizopfer. Da irrte er sich gleich mehrfach. In der Begriffswelt des öffentlichen Rechts, das nicht gerade für übertriebene Skandalisierungen bekannt ist, gibt es das Opfer in der Gestalt des Sonderopfers und der Aufopferung. Wessen legitimes Privatinteresse auf dem Altar der Allgemeininteressen geopfert wurde, soll dafür – so ein alter Gerechtigkeitssatz – zumindest einen finanziellen Ausgleich erhalten. Wenn sich im Strafrecht ein (wie sich …
Weiter zum vollständigen Artikel ...


Das 2717 Tage währende Martyrum des Gustl Mollath, dessen Schuld oder Unschuld nie festgestellt wurde kostete den Steuerzahler ca. 760.946,00 EUR.
Quelle: Gustl Mollath´s Webseite

siehe dazu u.a.:

Gustl Mollath bekommt Hilfe vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

v. Oliver García
.....Mollath wendet sich vor dem BGH gegen die Begründung, auf die der Freispruch gestützt wurde. Die Strafkammer beim LG Regensburg hatte nämlich den Anklagevorwurf, daß Mollath seine frühere Ehefrau schwer mißhandelt hätte, als zutreffend angesehen. Auf Freispruch erkannte sie in diesem Punkt nur deshalb, weil sie meinte, nicht ausschließen zu können, daß Mollath den Übergriff im Zustand der (vollständigen) Schuldunfähigkeit begangen hatte.
Weiter zum vollständigen Artikel ...

„Verletzung von Menschenrechten“

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg stellte jetzt die Verletzung von Menschenrechten in den Urteilsgründen eines Strafurteils des Landgerichts Münster fest.

Der Gerichtshof stellte eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (Grundsatz des fairen Verfahrens) fest und urteilte, dass im Falle eines Freispruchs in den Urteilsgründen Ausführungen dahingehend, dass das Gericht aber gleichwohl der Auffassung sei, an den Vorwürfen „sei etwas dran“, menschenrechtsverletzend seien. Diese Ausführungen stellten einen Verstoß gegen den international geltenden Zweifelssatz – im Zweifel für den Angeklagten – dar. Folglich wurde die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung eines Schmerzensgeldes und zum Ersatz sonstigen Schadens verurteilt.

Der Gerichtshof hat nach Auffassung Röttgrings erfreulicherweise klargestellt, dass auch in strafgerichtlichen Entscheidungen die Grenze zulässiger Äußerungen überschritten ist, wenn diese Ausführungen den Charakter einer Schuldfeststellung erreichen, welche die Öffentlichkeit ermuntert, an die Schuld des Betroffenen zu glauben nach dem Motto: „Irgendwas wird schon drangewesen sein“.

Freispruch ist Freispruch, so Rechtsanwalt Röttgering, einen solchen erster oder zweiter Klasse gebe es nicht. Das sei jetzt einmal mehr festgeschrieben.
Weiter zum vollständigen Artikel ...


EuGH: Stigmatisierung der Betroffenen gibt Rechtsschutzinteresse

In seinem Urteil Abdulrahim vom 28. Mai 2013 (C-239/12) betont der Europäische Gerichtshof (EuGH) nun, welch schwere Konsequenzen die Aufnahme in eine Terrorliste für den Betroffenen hat. Das Einfrieren von Geldern behindert nicht nur die Freiheit zum Abschluss von Rechtsgeschäften und erschüttert damit zutiefst das Berufs- und Familienleben. Es ruft auch das Misstrauen der Gesellschaft hervor und ist daher mit einer Stigmatisierung verbunden.

Der EuGH stellte klar, dass es nicht ausreiche, dass die Konten wieder freigegeben werden und der Betroffene über sein Geld verfügen kann. Die Rehabilitierung seines guten Rufes kann er nur erreichen, wenn gerichtlich festgestellt wird, dass die Aufnahme in die Terrorliste von vorneherein rechtswidrig war. Er hat daher auch nach der Streichung von der Terrorliste immer noch ein Rechtsschutzinteresse.
weiterlesen


Über den Rechtsgrundsatz „In dubio pro reo“ ging auch das erkennende Gericht wie die Gerichte in früheren Verfahren großzügig hinweg, und der das Urteil prüfende Bundesgerichtshof (BGH) winkte die Entscheidung, wie bereits 2007 (Beschl. v. 13.02.2007, Az. 1 StR 6/07),  erneut  durch.
s.a. lto.de

Der Grundsatz In dubio pro reo (lat. „Im Zweifel für den Angeklagten“), kurz Zweifelssatz, ist ein schlagwortartiger Ausdruck dafür, dass im Strafprozess ein Angeklagter nicht verurteilt werden darf, wenn dem Gericht Zweifel an seiner Schuld verbleiben.

Der Grundsatz ist im deutschen Recht gesetzlich nicht normiert, wird aber abgeleitet aus Art. 103 II GG, Art. 6 II EMRK  sowie aus § 261 StPO. Der Grundsatz hat Verfassungsrang.  Wikipedia

Bundesverfassungsgericht zum Schuldgrundsatz  und Anwendungsvorrang...
Beschluss vom 15. Dezember 2015 (2 BvR 2735/14)

37) 1 Als Rechtsgemeinschaft von derzeit 28 Mitgliedstaaten könnte sie nicht bestehen, wenn die
einheitliche Geltung und Wirksamkeit ihres Rechts nicht gewährleistet wäre (vgl. grundlegend EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Costa/ENEL, 6/64, Slg. 1964, S. 1251 <1269 f.="">). Art. 23 Abs. 1 GG enthält insoweit auch ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen für das unionale Recht (vgl. BVerfGE 126, 286 <302>).

43  bb) Um zu verhindern, dass sich deutsche Behörden und Gerichte ohne weiteres über den Geltungsanspruch des Unionsrechts hinwegsetzen, verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Art. 79 Abs. 3 GG zum Schutz der Funktionsfähigkeit der unionalen Rechtsordnung und bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aber, dass die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleibt (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>). Dies wird auch durch die Regelung des Art. 100 Abs. 2 GG unterstrichen, nach der bei Zweifeln, ob eine allgemeine Regel des Völkerrechts Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt, das Bundesverfassungsgericht angerufen werden muss  (vgl. BVerfGE 37, 271 <285>). Mit der Identitätskontrolle kann das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) befasst werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <354 f.="">).

55  bb) Der Schuldgrundsatz ist somit zugleich ein zwingendes Erfordernis des Rechtsstaatsprinzips. Das Rechtsstaatsprinzip ist eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes (BVerfGE 20, 323 <331>; 133, 168 <198 55="" rn.="">). Es sichert den Gebrauch der  Freiheitsrechte, indem es Rechtssicherheit gewährt, die Staatsgewalt an das Gesetz bindet und Vertrauen schützt (BVerfGE 95, 96 <130>).

57 aa) Die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt, ist zentrales Anliegen des Strafprozesses (vgl. BVerfGE 57, 250 <275>; 118, 212 <231>; 122, 248 <270>; 130, 1 <26>; 133, 168 <199 56="" rn.="">).  weiterlesen

Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht

Art. 48/1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union:


 Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschudig

Art. 6 II EMRK   
Abs. 2 dieses Artikels enthält das Recht auf die Unschuldsvermutung. Das bedeutet, dass jede angeklagte Person so lange als unschuldig zu gelten hat, bis ihre Schuld auf einem gesetzlichen Weg bewiesen ist.

UN – Resolution 217 a vom 10.12.1948
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 11:

1. Jeder, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, hat das Recht, als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.

Dem genügt eine "Überzeugung" des Gerichtes nicht!
Ein rechtsförmlich erbrachter "Nachweis" einer Schuld fehlt noch immer!

Selbst wenn nur ein Prozent Zweifel bestehe, gelte der Grundsatz „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten, so Richter Klotz (AG Memmingen).
weiterlesen

Zweifelssatz ("in dubio pro reo") und Prozessvoraussetzungen
Weiter zum vollständigen Artikel ...

Entscheidungssuche auf dejure.org

BVerfG/BGH/BFH: unvollständige Sachverhaltsaufklärung ist grundrechtswidrig!
weiterlesen

BVerfG: Richter sind verpflichtet der Wahrheit zu dienen !
weiterlesen

Effektiver Rechtsschutz
Die Grundsätze des effektiven Rechtsschutzes sind bei der Auslegung verfahrensrechtlicher Vorschriften zu beachten.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 21.10.2015 (Az. 2 BvR 912/15, Rn 22) ausgeführt:
Nach Art. 19 Abs. 4 GG darf der Zugang zu den Gerichten und den vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 <274>; 78, 88 <99>; 88, 118 <124>). Dies muss auch der Richter bei der Auslegung prozessualer Normen beachten. Er darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch eine überstrenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer leer laufen lassen (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>; 96, 27 <39>). Formerfordernisse dürfen nicht weiter gehen, als es durch ihren Zweck geboten ist, da von ihnen die Gewährung des Rechtsschutzes abhängt (vgl. BVerfGE 88, 118 <125>; BVerfGK 14, 211 <214>). Dies gilt auch für die Darlegungsanforderungen nach § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO (vgl. BVerfGK 2, 45 <50>; 5, 45 <48>; 14, 211 <214>).

Hintergrund:

Es war ein Urteil, das diesen Namen nicht verdient, weil Grundregeln der Juristerei missachtet wurden - nicht einmal Ansätze einer Beweiswürdigung finden sich darin. Trotzdem wurde es vom BGH durchgewunken! Der BGH verwirft die Revision von Gustl Mollath als unbegründet und stellt fest dass: "die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat".  weiterlesen

s.a.: Gustl Mollath legt Revision ein

Gustl Mollath´s Webseite





Keine Einbürgerung bei fehlendem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung

Verwaltungsgericht Aachen: Keine Einbürgerung bei fehlendem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung

30.11.2015

Mit ihrem am 19. November 2015 verkündeten Urteil hat die 5. Kammer die Klage einer marokkanischen Staatsangehörigen auf Einbürgerung abgewiesen.

Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt:

Das Staatsangehörigkeitsgesetz verlange für die Einbürgerung ein Bekenntnis des Ausländers zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Diese Erklärung sei keine bloße Formalität. Ziel des Bekenntnisses zur Verfassungstreue sei es, die Einbürgerung von Verfassungsfeinden und die daraus herrührende Gefahr für das Staatswesen zu verhindern. Daher müsse es von einer entsprechenden Überzeugung getragen sein.

Daran fehle es hier.

Zweifel am Bekenntnis der Klägerin zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ergäben sich zunächst daraus, dass sie im gesamten sich über mehrere Jahre hinziehenden Einbürgerungsverfahren immer wieder falsche Angaben gemacht und diese auch in der Gerichtsverhandlung nicht klargestellt habe. So sei ihre Erklärung, von 2005 bis 2009 eine öffentliche Realschule besucht zu haben, nicht korrekt.

Jedenfalls sei die Kammer wegen der Verbindungen der Klägerin zu zwei Moscheen in Aachen, die nach Erkenntnissen des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes salafistisch-extremistisch ausgerichtet seien, davon überzeugt, dass ihr formal abgegebenes Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht von einer entsprechenden inneren Überzeugung getragen sei. Die Kammer gehe davon aus, dass die Klägerin der salafistisch-extremistischen Ausrichtung des Islam zumindest sehr nahe stehe; vieles spreche dafür, dass sie eine Anhängerin dieser Ausrichtung sei. Ihr Vater sei Vorsitzender des Trägervereins einer der beiden Moscheen. Die salafistische Ideologie aber widerspreche in wesentlichen Punkten (Gesellschaftsbild, politisches Ordnungssystem, Gleichberechtigung, individuelle Freiheit) den Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die Gelegenheit, sich im Lauf des Gerichtsverfahrens von der salafistisch-extremistischen Ausrichtung der Moscheen zu distanzieren, habe die Klägerin nicht genutzt. Stattdessen habe sie sich darauf beschränkt, den Medien vorzuwerfen, die Muslime in ein schlechtes Licht zu rücken. Ihre Erklärung in der mündlichen Verhandlung, sie habe keine Ahnung, welche Denkweise in den einzelnen Moscheen vertreten werde und gar nicht zu wissen, was Salafismus sei, erscheine geradezu lebensfremd: Die 1994 geborene Klägerin sei seit dem Schuljahr 1999/2000 in der Schule einer Moschee eingeschrieben gewesen. Sie sei dort mit fünf Wochenstunden in den Fächern Arabisch sowie Islamische Ethik mit den Schwerpunkten Koran und Islamische Erziehung unterrichtet worden und habe jedenfalls im Schuljahr 2011/2012 "ausgesprochen aktiv am Unterricht teilgenommen". Von 1. September 2012 bis 1. Juli 2013 sei sie mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von vier bis fünf Stunden selbst als Lehrerin in einer Moschee beschäftigt gewesen, auch wenn sie nach ihrer Aussage niemals Koranunterricht erteilt habe. Ausweislich der Homepage der Moschee bestehe die Aufgabe der Schule in der Vermittlung der arabischen Sprache und der islamischen Erziehung der Kinder und Jugendlichen. Auffallend seien auch ihre kurzen, aufgesetzt wirkenden Antworten betreffend zentrale Diskussionsthemen im Islam und in der Gesellschaft, wie die Stellung von Mann und Frau oder die Konversion von Moslems oder die Bedeutung der Scharia.

Schließlich lasse der Umstand, dass die in Deutschland geborene Klägerin sich nach Überzeugung der Kammer seit ihrer Kindheit ausschließlich in streng islamistisch oder salafistisch orientierten Kreisen bewege, keine günstige Zukunftsprognose hinsichtlich der islamistischen Haltung der Klägerin zu.

Gegen das Urteil kann die Klägerin die Zulassung der Berufung beantragen, über die das Oberverwaltungsgericht in Münster entscheidet.

Aktenzeichen: 5 K 480/14
Quelle

s.a.: dejure


Dienstag, 8. Dezember 2015

Heute im TV: Mollath - Und plötzlich bist du verrückt


Bayerns größter Justizirrtum
Di, 8. Dez 2015 · 22:45-00:15 · BR
Mollath - Und plötzlich bist du verrückt

Mediathek  Übersicht (Mollath)

Es war Bayerns bekanntester Justizskandal: Sechs Jahre nachdem Gustl Mollath in die Psychiatrie eingewiesen worden war, wurden Zweifel an der Rechtmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit seiner Unterbringung laut. Nach siebeneinhalb Jahren kam er schließlich als Folge des öffentlichen Drucks frei. Die Filmemacherinnen Annika Blendl und Leonie Stade begleiteten Gustl Mollath nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie und zeichnen ein intensives Porträt.
Regie: Annika Blendl
Redaktion: Natalie Lambsdorff

Gustl Mollath hat seine Haftentschädigung bis heute nicht erhalten.
Weiter zum vollständigen Artikel ...

Strafrechtler wirft Justiz gravierende Fehler vor  
weiterlesen

Der Anwalt Gerhard Strate übt scharfe Kritik an den bayrischen Gerichten, die nach wie vor Fehlentscheidungen rechtfertigten.
weiterlesen

Justiz-Klatsche?
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde im „Fall Mollath“
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. (vgl. Rn 30, s.u.)

Bundesverfassungsgericht:
Die Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) in Verbindung mit dem Verhältnis­mäßig­keits­grundsatz (Art. 20 Abs. 3 GG).
Entzug der persönlichen Freiheit muss hinreichend geprüft und begründet werden
Richter muss Würdigung eingehend abfassen und Bewertung substantiiert offenlegen
Entlastende Umstände für Beschwerdeführer finden keine erkennbare Berücksichtigung

Beschluss vom 26. August 2013 - 2 BvR 371/12
Rn 30
1. a) Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Weder das Landgericht Bayreuth noch das Oberlandesgericht Bamberg hätten im Rahmen der angegriffenen Beschlüsse Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechts des Beschwerdeführers verkannt. Die Gerichte hätten - nach Einholung eines externen Sachverständigengutachtens - ausgeführt, dass derzeit die Wahrscheinlichkeit, dass es zu vergleichbaren Taten wie den Anlasstaten, insbesondere massiven Körperverletzungshandlungen, komme, sehr hoch sei. Es sei daher sowohl die Art der zu erwartenden Straftaten als auch der Grad der Wahrscheinlichkeit ihres erneuten Eintritts konkretisiert worden. Darüber hinaus hätten sich die Gerichte auch mit der gestellten Diagnose auseinandergesetzt und Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit der weiteren Unterbringung getätigt. Das eingeholte externe Sachverständigengutachten entspreche den Anforderungen, die an derartige Gutachten zu stellen seien, und die Gerichte seien ihrer richterlichen Kontrollpflicht nachgekommen, indem sie die maßgeblichen Wertungen des Gutachtens aufgrund eigener Wertungen hinterfragt hätten. Obwohl die Unterbringung des Beschwerdeführers im Jahr 2011 bereits fünf Jahre angedauert habe, könne ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht festgestellt werden, da die weiterhin zu erwartenden gefährlichen Körperverletzungshandlungen zu einer massiven Beeinträchtigung eines hochwertigen Rechtsgutes, nämlich der körperlichen Unversehrtheit, führten und der Beschwerdeführer nach wie vor keinerlei Zugang zu seiner eigenen Aggressivität gefunden habe.
weiterlesen

Dokumentation von Annika Blendl und Leonie Stade
Es war Bayerns bekanntester Justizskandal: Sechs Jahre nachdem Gustl Mollath in die Psychiatrie eingewiesen worden war, wurden Zweifel an der Rechtmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit seiner Unterbringung laut. Nach siebeneinhalb Jahren kam er schließlich als Folge des öffentlichen Drucks frei. Die Filmemacherinnen Annika Blendl und Leonie Stade begleiteten Gustl Mollath nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie und zeichnen ein intensives Porträt.  Es ist der wohl größte Justizskandal, der Bayern in den letzten Jahren erschüttert hat: Gustl Mollath, der Betreiber einer auf die Restaurierung von Oldtimern spezialisierten Kfz-Werkstatt, wurde nach der Trennung von seiner Frau wegen angeblicher körperlicher Gewalt und Sachbeschädigung in den "psychiatrischen Maßregelvollzug" eingewiesen. Doch nach sechs Jahren in der Psychiatrie wurden nach Recherchen von Journalisten zahlreiche Zweifel an den damaligen Vorwürfen und der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens laut. Obendrein hatte Mollath vor seiner Einweisung versucht, die Schwarzgeldgeschäfte seiner Frau aufzudecken - doch weil man ihn für unzurechnungsfähig hielt, wurde den Vorwürfen nicht nachgegangen. Tatsächlich erwiesen sich diese später als wahr. Der Verdacht, man habe mit der Einweisung diese Schwarzgeldgeschäfte vertuschen wollen, machte Mollath zu einer öffentlichen Person, vom unzurechnungsfähigen Täter wurde er zum Opfer eines Justizirrtums und zum heldenhaften Märtyrer stilisiert. Sein Fall löste eine kontroverse Debatte über Schuld und Unschuld, die Staatsgewalt und die Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug aus. Die Dokumentarfilmerinnen Annika Blendl und Leonie Stade fragten sich, wer der Mensch Mollath ist und begleiteten ihn nach seiner Freilassung bis zur Wiederaufnahme des Verfahrens mit der Kamera - und zeichnen ein intensives und differenziertes Porträt von ihm.  "Wir wissen nicht, ob Gustl Mollath die Vergehen begangen hat, die ihm vorgeworfen wurden. Also sagen wir nichts darüber. Uns interessieren die Graustufen zwischen wahr und falsch", so die Regisseurinnen Annika Blendl und Leonie Stade. Sie begleiteten Gustl Mollath neben ihrem Studium in Dokumentarfilmregie an der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) München von seiner Freilassung bis zum Beginn des Wiederaufnahmeverfahrens. Im Mittelpunkt ihrer Dokumentation stehen Mollaths erschütternde Schilderungen der Entmündigung und der Zeit in der Psychiatrie, aber auch seine mitunter skurril anmutende Weltsicht. Blendl und Stade lassen nicht nur Mollath zu Wort kommen, sondern besuchten Solidaritätskundgebungen, sprachen mit Freunden, Anwälten und Journalisten. Entstanden ist so nicht nur ein sehr facettenreiches Porträt des Menschen Gustl Mollath, sondern auch eine spannende Untersuchung der Dynamik öffentlicher Meinungsbildung.
Zusätzliche Information
"Mollath - Und plötzlich bist Du verrückt" entstand als Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk und ist an diesem Abend als deutsche Erstausstrahlung zu sehen.
Regie: Annika Blendl, Leonie Stade Kontakt Natalie Lambsdorff
Quelle

Donnerstag, 3. Dezember 2015

BFH: Urteil vom 18.08.15 V R 13/14 - Umsatzsteuerfreie Pflegeleistungen


Pressemitteilung Nr. 71/15 vom 14.10.2015

Nr. 71 vom 14. Oktober 2015
Pflegeleistungen durch Mitglieder eines Vereins können umsatzsteuerfrei sein
Urteil vom 18.08.15   V R 13/14


Mit Urteil vom 18. August 2015 V R 13/14 hat der V. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) entschieden, dass Pflegeleistungen unter Berufung auf das Unionsrecht (Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuersystemrichtlinie) steuerfrei sind. Voraussetzung ist, dass die Pflegekraft die Möglichkeit hat, Verträge nach § 77 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches Elftes Buch (SGB XI) mit Pflegekassen abzuschließen.


Das Verfahren betraf eine Klägerin, die als Mitglied eines eingetragenen Vereins für den Verein gegen Entgelt als Pflegehelferin tätig war. Über eine Ausbildung als Kranken- oder Altenpflegerin verfügte die Klägerin nicht. Der Verein hatte mit der Klägerin eine Qualitätsvereinbarungen abgeschlossen. Der Verein erbrachte umsatzsteuerfreie Pflegeleistungen an Pflegekassen. Diese Art der Erbringung von Pflegeleistungen durch Mitglieder eines eingetragenen Vereins ist in Deutschland verbreitet.


Das Finanzamt sah die Tätigkeit der Klägerin für den Verein als umsatzsteuerpflichtig an. Ihre Klage zum Finanzgericht hatte Erfolg. Der BFH bestätigte das Urteil der Vorinstanz. Zwar seien die Leistungen der Klägerin nach nationalem Recht steuerpflichtig. Sie könne sich aber auf die weitergehenden Steuerbefreiungstatbestände des Unionsrechts berufen, die das nationale Recht nur ungenügend umgesetzt habe. Für die nach dem Unionsrecht erforderliche Anerkennung reiche es aus, dass für die Klägerin die Möglichkeit bestanden habe, Leistungen nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI an Pflegekassen erbringen zu können.


Bei seiner Entscheidung hat der BFH auch den gerichtsbekannten Pflegenotstand und das sich hieraus ergebende hohe Gemeinwohlinteresse berücksichtigt, das an der Erbringung steuerfreier Pflegeleistungen besteht.

Bundesfinanzhof
Pressestelle      Tel. (089) 9231-400
Pressereferent  Tel. (089) 9231-300

Quelle



BUNDESFINANZHOF
Urteil vom 18.8.2015, V R 13/14

Umsatzsteuerfreie Pflegeleistungen

Leitsätze

Pflegeleistungen sind unter Berufung auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL steuerfrei, wenn die Pflegekraft die Möglichkeit hat, Verträge nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI mit Pflegekassen abzuschließen.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 14. Januar 2014  15 K 4674/10 U wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Tatbestand


I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) war in den Streitjahren 2007 und 2008 Mitglied des eingetragenen Vereins B. Sie erbrachte für den Verein im Rahmen des "B-Modells" Pflegeleistungen. Die Klägerin war dabei als Pflegehelferin tätig, ohne über eine Ausbildung als Kranken- oder Altenpflegerin zu verfügen. Im Rahmen des "B-Modells" schloss der Verein Verträge mit pflegebedürftigen Personen und Pflegekassen. Pflegehelfer wie die Klägerin schlossen mit dem Verein Qualitätsvereinbarungen ab und wurden so zu sog. aktiven Vereinsmitgliedern. Für den Verein war die Klägerin in zwei "Teams" tätig. Weitere Tätigkeiten erbrachte sie für den Verein K. Nach Aufstellungen des Vereins B wurden die Kosten der Leistungen des "Teams II" in 2007 zu 96 % und in 2008 zu 82 % von den Pflegekassen getragen.

2
Im Anschluss an eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung ging der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) davon aus, dass die Klägerin gegenüber den Vereinen umsatzsteuerpflichtige Leistungen erbracht habe und erließ am 21. Januar 2010 erstmalige Umsatzsteuerbescheide für beide Streitjahre, in denen es auch einen sich aus der Steuerpflicht ergebenden Vorsteuerabzug sowie eine private Wertabgabe berücksichtigte. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

3
Demgegenüber gab das Finanzgericht (FG) mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2014, 868 veröffentlichten Urteil der Klage statt. Danach war die Klägerin zwar als Unternehmerin tätig, da sie über ihren Tätigkeitsumfang frei entscheiden konnte und keinen bezahlten Urlaub sowie keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhielt. Ihre Leistungen seien auch nach nationalem Recht steuerpflichtig. Die Klägerin könne sich aber auf das für sie günstigere Unionsrecht, insbesondere auf die Bestimmungen der Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem 2006/112/EG (MwStSystRL) und auf die zur Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) berufen. Für die Steuerfreiheit nach dem Unionsrecht reiche es aus, dass die Kosten für Pflegeleistungen von den Trägern der sozialen Sicherheit übernehmbar seien. Fehlende unmittelbare Leistungsbeziehungen zu den hilfebedürftigen Personen oder den Pflegekassen seien unerheblich.

4
Hiergegen wendet sich das FA mit seiner Revision, für die es die Verletzung materiellen Rechts anführt. Für eine Berufung auf die Richtlinie fehle es der Klägerin an der erforderlichen Anerkennung. Hierfür sei auf eine unmittelbare Kostentragung durch die Pflegekassen abzustellen. Die Stellung als Subunternehmer für einen Verein, der Leistungen an die Pflegekassen erbringe, reiche nicht aus. Dies ergebe sich auch aus der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH). Vertragsschlüsse durch Pflegekassen mit Einzelpersonen lägen kaum bis nicht vor. Die Klägerin sei nicht hinreichend geeignet, da sie keine Pflegefachkraft sei. § 77 Abs. 1 Satz 1 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) komme nur lückenschließende Funktion zu.

5
Das FA beantragt,

das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie hilfsweise das Verfahren auszusetzen, um ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zur Klärung der Fragen, ob für die Auslegung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL die konkrete Anerkennung der Pflegekraft erforderlich ist und

ob die Pflegekasse nicht einen Vertrag i.S. des § 77 Abs. 1 SGB XI beweisbar hätte abschließen können oder wollen,

äußerst hilfsweise wird beantragt, die Verhandlung entsprechend § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen wegen der Vorlage an den EuGH zur Vermeidung einer anerkannten Einrichtung mit sozialem Charakter bei Subunternehmern (BFH-Beschluss vom 12. Dezember 2013 XI B 88/13, BFH/NV 2014, 550).

6    
Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

7    
Maßgeblich sei die Kostentragung durch die Pflegekassen. Dabei sei eine unmittelbare Kostentragung nicht erforderlich. Die Klägerin sei auch kein Subunternehmer, sondern Vereinsmitglied bei ihrem Auftraggeber. Zahlungen der Sozialkassen würden durch den Verein nur durchgeleitet. Die Möglichkeit eines Vertragsschlusses mit den Pflegekassen reiche aus. Der Pflegekasse sei bekannt gewesen, dass der Verein durch selbständig tätige Pflegekräfte gehandelt habe. Das für eine Anerkennung erforderliche Gemeinwohlinteresse an der Leistungserbringung liege vor. Andere Steuerpflichtige seien anerkannt, so dass eine Steuerpflicht der Klägerin gegen den Grundsatz der Neutralität verstoße. Ein Abstellen auf konkrete Vertragsschlüsse gefährde die erforderliche Rechtssicherheit. Eine Übernehmbarkeit der Kosten reiche aus.

Entscheidungsgründe
    
8
II. Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat die Leistungen der Klägerin zu Recht unter Berufung auf das Unionsrecht als steuerfrei angesehen.

9    
1. Die Pflegeleistungen der Klägerin sind --wovon auch die Beteiligten übereinstimmend und zutreffend ausgehen-- nicht nach § 4 Nr. 16 Buchst. d und e des Umsatzsteuergesetzes in seiner in den Streitjahren geltenden Fassung (UStG) steuerfrei. Da es sich bei diesen Vorschriften um abschließend spezielle Steuerbefreiungen für Pflegeleistungen handelt, kommt eine ergänzende Anwendung von § 4 Nr. 18 UStG nicht in Betracht (vgl. BFH-Urteil vom 8. August 2013 V R 13/12, BFHE 242, 557, Leitsatz 1).

10    
2. Für eine Steuerfreiheit ihrer Leistungen kann sich die Klägerin aber auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL berufen.

11    
a) Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL befreien die Mitgliedstaaten eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden.

12    
In Bezug auf Pflegeleistungen durch andere Unternehmer als Einrichtungen des öffentlichen Rechts knüpft diese Bestimmung an leistungs- wie auch an personenbezogene Voraussetzungen an: Es muss sich um eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen handeln, der leistende Unternehmer muss als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt sein.

13
b) Die von der Klägerin erbrachten Pflegeleistungen sind insgesamt eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 24. Januar 2008 V R 54/06, BFHE 221, 391, BStBl II 2008, 643, unter II.2.a aa), wie das FG zutreffend unter Berücksichtigung der von ihm herangezogenen Grundsätze zu Haupt- und Nebenleistung entschieden hat, und wie zwischen den Beteiligten unter Berücksichtigung der in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat abgegebenen Erklärungen im Revisionsverfahren nunmehr auch unstreitig ist. Die Klägerin war auch als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt.

14    
aa) Nach dem zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG ergangenen EuGH-Urteil Zimmermann vom 15. November 2012 C-174/11 (EU:C:2012:716, Rz 26) legt die Richtlinie die Voraussetzungen und Modalitäten der Anerkennung nicht fest. Vielmehr ist es Sache des innerstaatlichen Rechts jedes Mitgliedstaats, die Regeln aufzustellen, nach denen Einrichtungen die erforderliche Anerkennung gewährt werden kann. Dabei haben die nationalen Behörden im Einklang mit dem Unionsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte die für die Anerkennung maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Zu diesen gehören das Bestehen spezifischer Vorschriften, bei denen es sich um nationale oder regionale Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit handeln kann, das mit den Tätigkeiten des betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse, die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen, und die Übernahme der Kosten der fraglichen Leistungen zum großen Teil durch Krankenkassen oder durch andere Einrichtungen der sozialen Sicherheit (EuGH-Urteil Zimmermann, EU:C:2012:716, Rz 31).

15    
Der Steuerpflichtige kann sich auf die in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG vorgesehene Steuerfreiheit berufen, um sich einer Regelung zu widersetzen, die mit dieser Bestimmung unvereinbar ist. Es ist Sache der nationalen Gerichte, anhand aller maßgeblichen Umstände zu bestimmen, ob der Steuerpflichtige eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung im Sinne dieser Bestimmung ist. Dabei haben die nationalen Gerichte zu prüfen, ob die zuständigen Behörden die Grenzen des ihnen eingeräumten Ermessens unter Beachtung der Grundsätze des Unionsrechts eingehalten haben, zu denen insbesondere der Grundsatz der Gleichbehandlung gehört, der im Mehrwertsteuerbereich im Grundsatz der steuerlichen Neutralität zum Ausdruck kommt (EuGH-Urteil Zimmermann, EU:C:2012:716, Rz 32 f.). Dies gilt auch für Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL. Der erkennende Senat folgt dieser Rechtsprechung (BFH-Urteil vom 25. April 2013 V R 7/11, BFHE 241, 475, BStBl II 2013, 976, Rz 19 ff.).

16    
bb) Im Streitfall hat das FG die Anerkennung zu Recht bejaht. Sie folgt aus § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI.

17    
(1) Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in seiner bis zum 30. Juni 2008 geltenden Fassung konnten die Pflegekassen zur "Sicherstellung der häuslichen Pflege und hauswirtschaftlichen Versorgung ... einen Vertrag mit einzelnen geeigneten Pflegekräften schließen, soweit und solange eine Versorgung nicht durch einen zugelassenen Pflegedienst gewährleistet werden kann; Verträge mit Verwandten oder Verschwägerten des Pflegebedürftigen bis zum dritten Grad sowie mit Personen, die mit dem Pflegebedürftigen in häuslicher Gemeinschaft leben, sind unzulässig".

18    
§ 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in seiner ab 1. Juli 2008 geltenden Fassung durch Art. 1 Nr. 44 Buchst. a des Gesetzes vom 28. Mai 2008 (BGBl I 2008, 874) hatte folgenden Wortlaut:

19
"Zur Sicherstellung der häuslichen Pflege und Betreuung sowie der hauswirtschaftlichen Versorgung kann die zuständige Pflegekasse Verträge mit einzelnen geeigneten Pflegekräften schließen, soweit

1. die pflegerische Versorgung ohne den Einsatz von Einzelpersonen im Einzelfall nicht ermöglicht werden kann,

2. die pflegerische Versorgung durch den Einsatz von Einzelpersonen besonders wirksam und wirtschaftlich ist (§ 29),

3. dies den Pflegebedürftigen in besonderem Maße hilft, ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen (§ 2 Abs. 1), oder

4. dies dem besonderen Wunsch der Pflegebedürftigen zur Gestaltung der Hilfe entspricht (§ 2 Abs. 2);

Verträge mit Verwandten oder Verschwägerten des Pflegebedürftigen bis zum dritten Grad sowie mit Personen, die mit dem Pflegebedürftigen in häuslicher Gemeinschaft leben, sind unzulässig."

20    
(2) Zu § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI hat das FG in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise entschieden, dass die Möglichkeit, Verträge mit Pflegekassen abzuschließen, für die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter genügt. Entsprechend dem FG-Urteil reicht es dabei aus, dass die Klägerin als geeignete Pflegekraft i.S. von § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI anzusehen war, da sie mit dem Verein Qualitätsvereinbarungen abschloss und "Nachweise über Fortbildungen" vorgelegt hat. Auf einen Berufsabschluss in einem Pflegeberuf kommt es nicht an. Somit liegen die personenbezogenen Voraussetzungen des § 77 Abs. 1 Satz 1 SGB XI in seiner jeweiligen Fassung vor, ohne dass es auf die weiteren Bedingungen dieser Vorschrift ankommt.

21    
Unerheblich ist, ob vertragliche Vereinbarungen mit Pflegekassen bestehen. Ohne Widerspruch zum Senatsurteil vom 8. November 2007 V R 2/06 (BFHE 219, 428, BStBl II 2008, 634) konnte das FG auch berücksichtigen, dass die Klägerin Mitglied in einem "anerkannten" Verein zur Erbringung von Pflegeleistungen war, dessen Kosten weitgehend von den Pflegekassen getragen worden sind. Insoweit besteht eine über den Verein durchgeleitete Kostentragung. Der Senat berücksichtigt dabei auch den gerichtsbekannten Pflegenotstand und das sich hieraus ergebende hohe Gemeinwohlinteresse, das an der Erbringung steuerfreier Pflegeleistungen besteht.

22
3. Für die vom FA angeregte Einholung eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV besteht keine Veranlassung (vgl. zu den Voraussetzungen EuGH-Urteile Cilfit u.a. vom 6. Oktober 1982  283/81, EU:C:1982:335, Rz 21, Slg. 1982, 3415; Gaston Schul vom 6. Dezember 2005 C-461/03, Eu:C:2005:742, Slg. 2005, I-10513; Intermodal Transports vom 15. September 2005 C-495/03, EU:C:2005:552, Slg. 2005, I-8151). Für den Senat bestehen keine Zweifel an der zutreffenden Auslegung von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL, da zu berücksichtigen ist, dass diese Bestimmung die dort bezeichneten Dienstleistungen, die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Gerechtigkeit verbunden sind, "einschließlich" derjenigen die "durch Altenheime ... oder andere ... anerkannte Einrichtungen bewirkt werden" befreit. Danach kommt der Anerkennung keine zwingende Bedeutung zu.

23
4. Auf die vom FA in Bezug genommene Beurteilung durch den BFH im summarischen Verfahren (BFH-Beschluss in BFH/NV 2014, 550) kommt es für die Entscheidung im hier vorliegenden Hauptsacheverfahren nicht an.

24    
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

Quelle




Dienstag, 1. Dezember 2015

Mehrwertsteuer-Befreiung von Tanzkursen


FG Baden-Württemberg Urteil vom 30.4.2015, 12 K 2582/12

Tanzkurse eines gemeinnützigen Vereins als sportliche Veranstaltung i.S. von § 4 Nr. 22 Buchst. b UStG

Tenor

1. Die Bescheide über Umsatzsteuer für das Kalenderjahr 2009 vom 22. Februar 2011 in der Gestalt des Bescheids vom 14. März 2011 und für das Kalenderjahr 2010 vom 22. September 2011 - jeweils in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 6. Juli 2012 werden mit der Maßgabe geändert, dass die Einnahmen einschließlich der Umsatzsteuer für das Kalenderjahr 2009 um 2.017,00 Euro und für das Kalenderjahr 2010 um 3.368,70 Euro gemindert werden und der Beklagte die danach festzusetzende Umsatzsteuer zu berechnen hat. Der Beklagte hat den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mitzuteilen; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekannt zu geben.

Rn36 Das Tatbestandsmerkmal der sportlichen Veranstaltungen im Sinne von § 4 Nr. 22 Buchst. b UStG bezieht sich auf Sport und Körperertüchtigung im Allgemeinen. Es beschränkt sich nicht auf bestimmte Arten von Sport. Es setzt auch nicht voraus, dass die sportliche Betätigung auf einem bestimmten Niveau, beispielsweise auf professionellem Niveau, oder in einer bestimmten Art und Weise, nämlich regelmäßig oder organisiert oder mit dem Ziel der Teilnahme an sportlichen Wettkämpfen, ausgeübt wird, soweit die Ausübung dieser Tätigkeit indessen nicht rein im Rahmen von Erholung oder Unterhaltung stattfindet. Das Tatbestandsmerkmal erfasst vielmehr alle in engem Zusammenhang mit Sport und Körperertüchtigung stehende Dienstleistungen, die von Einrichtungen, die - wie im Streitfall der Kläger - gemeinnützigen Zwecken dienen, an Personen erbracht werden, die Sport oder Körperertüchtigung ausüben. Mithin können auch nicht organisierte und nicht planmäßige sportliche Betätigungen, die nicht auf die Teilnahme an Sportwettkämpfen abzielen, als Ausübung von Sport im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union [EuGH] vom 21. Februar 2013, C-18/12, Deutsches Steuerrecht [DStR] 2013, 407, bei Rdnrn. 21 ff., zu Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Richtlinie 2006/112/EG des Rates [der Europäischen Union] vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem [Mehrwertsteuerrichtlinie]).

Rn37 Im Streitfall entnimmt der Berichterstatter den vorgelegten Schriftsätzen ebenso wie den Angaben, die der Kläger auf seiner Internetseite - www.....de (zuletzt eingesehen am 20. April 2015) - macht, dass die Teilnehmer der Tanzkurse die genannten Tänze („die üblichen Standard- und Lateinamerikanischen Tänze“) mit ihrer jeweiligen Abfolge an Schritten, Figuren und Gleichgewichtslagen und der damit verbundenen Abfolge an Anspannung oder Entspannung der jeweiligen Bereiche ihrer Muskulatur erlernen und einüben, verbessern oder ihre Fähigkeiten je nach ihrem Alter wenigstens erhalten oder den Abbau dieser Fähigkeiten verlangsamen wollen und auch sollen. Dass damit auch Erholung oder Unterhaltung stattfindet, ist eher eine Nebenfolge, die sich auch im auf Wettkämpfe ausgerichteten (Leistungs-)Sport beobachten und erfahren lässt. Es kennzeichnet mithin nicht nur den sog. Breitensport, der aber ebenfalls bereits als „Sport“ im Sinne von § 4 Nr. 22 Buchst. b UStG anzusehen ist (vgl. EuGH-Urteil vom 21. Februar 2013, C-18/12, DStR 2013, 407, bei Rdnr. 23, zu Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie).

Rn38 Damit sind die streitigen Tanzkurse auch nicht bloß als bestimmte in „engem“ Zusammenhang mit Sport und Körperertüchtigung stehende Dienstleistungen anzusehen (vgl. Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie; vgl. hierzu auch BFH-Urteil vom 9. August 2007 V R 27/04, BFH/NV 2007, 2213, unter II. 3. a, bb, m. w. Nachw. und mit dem Hinweis, dass die Vorschrift des § 4 Nr. 22 Buchst. b UStG die gemeinschaftsrechtlichen Befreiungsbestimmungen des Art. 13 Teil A Abs. 1 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG [Richtlinie 77 / 388 / EWG] ersichtlich nicht umsetzt, sondern an die „sportliche Veranstaltung" im Sinne von § 67a AO anknüpft).
Zum Urteil

Mehrwertsteuerrichtlinie (MwStSystR)
mehrsprachig

s.a.: Rechtslupe
Tanzkurse als Breitensport

s.a.:  BFH, Urteil vom 20.03.2014, – V R 4/13, BFH/NV 2014, 1470, unter II. 2. A

vgl. EuGH, Urteil vom 21.02.2013 – C-18/12, DStR 2013, 407, bei Rdnrn. 21 ff., bei Rdnr. 23, zu Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie 2006/112/EG


URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

21. Februar 2013(*)

„Steuer – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 132 Abs. 1 Buchst. m – Befreiung – In engem Zusammenhang mit Sport und Körperertüchtigung stehende Dienstleistungen – Nicht organisiert und nicht planmäßig ausgeübte sportliche Betätigungen – Städtischer Aquapark“

In der Rechtssache C-18/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Nejvyšší správní soud (Tschechische Republik) mit Entscheidung vom 15. Dezember 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Januar 2012, in dem Verfahren

Město Žamberk

gegen

Finanční ředitelství v Hradci Králové, jetzt Odvolací finanční ředitelství,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter) sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász, D. Šváby und C. Vajda,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Dezember 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Město Žamberk, vertreten durch J. Lukáš, advokát,

–        des Finanční ředitelství v Hradci Králové, vertreten durch E. Horáková als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios, M. Šimerdová und Z. Malůšková als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Město Žamberk (Stadt Žamberk/Senftenberg) und dem Finanční ředitelství v Hradci Králové (Finanzdirektion Hradec Králové/Königgrätz), jetzt Odvolací finanční ředitelství (Einspruchsfinanzdirektion), über die Frage, ob der als Gegenleistung für den von der Stadt Žamberk gewährten Zugang zum städtischen Aquapark erhobene Eintrittspreis der Mehrwertsteuer unterliegt.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegen der Mehrwertsteuer „Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt“.

4        Art. 132 Abs. 1 Buchst. m dieser Richtlinie, der sich in Kapitel 2 („Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten“) des Titels IX der Richtlinie befindet, sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:



m)      bestimmte, in engem Zusammenhang mit Sport und Körperertüchtigung stehende Dienstleistungen, die Einrichtungen ohne Gewinnstreben an Personen erbringen, die Sport oder Körperertüchtigung ausüben“.

5        In Art. 134 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„In folgenden Fällen sind Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen von der Steuerbefreiung des Artikels 132 Absatz 1 [Buchst. m] ausgeschlossen:

a)      [S]ie sind für die Umsätze, für die die Steuerbefreiung gewährt wird, nicht unerlässlich;

b)       sie sind im Wesentlichen dazu bestimmt, der Einrichtung zusätzliche Einnahmen durch Umsätze zu verschaffen, die in unmittelbarem Wettbewerb mit Umsätzen von der Mehrwertsteuer unterliegenden gewerblichen Unternehmen durchgeführt werden.“

 Tschechisches Recht

6        § 61 („Andere von der Steuer ohne Recht auf Abzug der Steuer befreite Umsätze“) Buchst. d des Gesetzes Nr. 235/2004 über die Mehrwertsteuer bestimmt in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung:

„Außerdem sind folgende Umsätze von der Steuer befreit:



d)      in engem Zusammenhang mit Sport und Körperertüchtigung stehende Dienstleistungen, die von juristischen Personen, die nicht zu gewerblichen Zwecken gegründet oder errichtet wurden, an Personen, die Sport oder Körperertüchtigung ausüben, erbracht werden“.

7        Gemäß § 2 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 115/2001 über die Sportförderung umfasst der Begriff Sport alle Formen körperlicher Betätigung, die mittels organisierter oder nicht organisierter Teilnahme eine harmonische Entwicklung der körperlichen und seelischen Befindlichkeit, eine Festigung der Gesundheit und die Erzielung sportlicher Leistungen in Wettkämpfen auf jedem Niveau bezwecken.

8        § 2 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 115/2001 definiert den Begriff „Sport für alle“ dahin, dass es sich dabei um organisierten und nicht organisierten Sport und für breite Schichten der Bevölkerung bestimmte Bewegung zur Erholung handelt.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9        Die Stadt Žamberk stellt gegen die Zahlung einer Eintrittsgebühr einen städtischen Aquapark zur Verfügung, in dem sich u. a. ein in mehrere Schwimmbahnen eingeteiltes und mit Sprungbrettern versehenes Schwimmbecken, ein Kinderplanschbecken, Wasserrutschen, ein Massagebad, ein Naturschwimmbad, ein Beachvolleyball-Feld, Tischtennisplatten und Sportgeräte zur Miete befinden. Das vorlegende Gericht hat dargelegt, dass, soweit ihm bekannt sei, kein Sportverein und keine Sporteinrichtung auf diesem Gelände tätig seien und dass keine Schule oder andere Einrichtung das Gelände für die Körperertüchtigung nutze.

10      Die Stadt Žamberk gab in ihrer Steuererklärung für den Steuerzeitraum des ersten Quartals 2009 einen Vorsteuerüberschuss in Höhe von 198 182 CZK an. Der Finanční úřad v Žamberku (Finanzbehörde Žamberk) vertrat insoweit die Auffassung, dass es sich bei den Leistungen des Aquaparks der Stadt Žamberk um von der Mehrwertsteuer befreite Leistungen handele, für die kein Recht auf Vorsteuerabzug bestehe, und setzte demzufolge mit Steuerbescheid vom 17. Juni 2009 den Vorsteuerüberschuss für den fraglichen Steuerzeitraum auf 154 105 CZK fest.

11      Nachdem dieser Steuerbescheid mit Entscheidung des Finanční ředitelství v Hradci Králové vom 15. Dezember 2009 bestätigt worden war, erhob die Stadt Žamberk Klage beim Krajský soud v Hradci Králové (Regionalgericht Hradec Králové), der den Bescheid des Finanční ředitelství v Hradci Králové aufhob. Dieser legte daraufhin Kassationsbeschwerde beim Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) ein.

12      Angesichts der auf innerstaatlicher Ebene in § 2 des Gesetzes Nr. 115/2001 verankerten Definition des Begriffs „Sport“ möchte der Nejvyšší správní soud im Wesentlichen wissen, ob nicht organisierte und nicht planmäßige sportliche Betätigungen als „Sport“ im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie angesehen werden können.

13      Er fragt sich ferner, ob sich die Umstände, dass ein Aquapark wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende seinen Besuchern nicht nur die Möglichkeit zur Ausübung bestimmter sportlicher Tätigkeiten bietet, sondern auch Tätigkeiten zur Unterhaltung oder Erholung, und dass nicht notwendigerweise jeder Besucher beabsichtigt, sportliche Tätigkeiten auszuüben, auf die Anwendbarkeit von Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie auswirken können.

14      Der Nejvyšší správní soud stellt klar, dass sein Ersuchen nicht auf die Auslegung des Begriffs „Einrichtungen ohne Gewinnstreben“ im Sinne dieser Vorschrift gerichtet sei, da er nach tschechischem Verfahrensrecht im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht darüber zu befinden habe, ob die Stadt Žamberk unter diesen Begriff falle. Außerdem zielten die Vorlagefragen nicht auf die in Art. 134 der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zusätzlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Mehrwertsteuer ab.

15      Unter diesen Umständen hat der Nejvyšší správní soud beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Können nicht organisierte, nicht planmäßige und zur Erholung erfolgende sportliche Betätigungen, die in dieser Weise auf dem Gelände eines Freibads ausgeübt werden können (z. B. Schwimmen oder Ballspiele u. ä. zur Erholung), als Ausübung von Sport oder Körperertüchtigung im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie angesehen werden?

2.      Bei Bejahung der ersten Frage: Ist die Gewährung entgeltlichen Zugangs zu einem solchen Freibadgelände, das seinen Besuchern die genannte Möglichkeit der Ausübung sportlicher Betätigung – wenn auch neben anderen Arten der Unterhaltung oder Erholung – bietet, als im Sinne der genannten Bestimmung der Mehrwertsteuerrichtlinie in engem Zusammenhang mit Sport und Körperertüchtigung stehende Dienstleistung, die an Personen, die Sport oder Körperertüchtigung ausüben, erbracht wird, und mithin als Dienstleistung anzusehen, die, sofern sie von einer Einrichtung ohne Gewinnstreben erbracht wird und die übrigen Voraussetzungen dieser Richtlinie erfüllt sind, von der Mehrwertsteuer befreit ist?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

16      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass nicht organisierte und nicht planmäßige sportliche Betätigungen, die nicht auf die Teilnahme an Sportwettkämpfen abzielen, als Ausübung von Sport im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden können.

17      Zunächst ist im Hinblick auf den im innerstaatlichen Recht enthaltenen Begriff „Sport“ festzustellen, dass die in dem genannten Artikel vorgesehenen Steuerbefreiungen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs autonome unionsrechtliche Begriffe sind, die eine von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche Anwendung des Mehrwertsteuersystems verhindern sollen (vgl. u. a. Urteile vom 25. Februar 1999, CPP, C-349/96, Slg. 1999, I-973, Randnr. 15, vom 14. Juni 2007, Horizon College, C-434/05, Slg. 2007, I-4793, Randnr. 15, sowie vom 16. Oktober 2008, Canterbury Hockey Club und Canterbury Ladies Hockey Club, C-253/07, Slg. 2008, I-7821, Randnr. 16).

18      Wie die Überschrift des Kapitels zeigt, zu dem Art. 132 der Mehrwertsteuerrichtlinie gehört, wird mit den in dieser Vorschrift vorgesehenen Steuerbefreiungen die Förderung bestimmter, dem Gemeinwohl dienender Tätigkeiten bezweckt (vgl. Urteil vom 23. April 2009, TNT Post UK, C-357/07, Slg. 2009, I-3025, Randnr. 32). Diese Befreiungen betreffen jedoch nicht alle dem Gemeinwohl dienenden Tätigkeiten, sondern nur diejenigen, die in der Vorschrift einzeln aufgeführt und sehr genau beschrieben sind (vgl. Urteile Horizon College, Randnr. 14, Canterbury Hockey Club und Canterbury Ladies Hockey Club, Randnr. 18, sowie vom 10. Juni 2010, Future Health Technologies, C-86/09, Slg. 2010, I-5215, Randnr. 29).

19      Die Begriffe, mit denen die genannten Steuerbefreiungen bezeichnet sind, sind eng auszulegen, da diese Steuerbefreiungen Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass jede Leistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt. Diese Regel einer engen Auslegung bedeutet jedoch nicht, dass die zur Definition der Steuerbefreiungen nach Art. 132 verwendeten Begriffe in einer Weise auszulegen sind, die den Befreiungen ihre Wirkung nähme (Urteile vom 18. November 2004, Temco Europe, C-284/03, Slg. 2004, I-11237, Randnr. 17, Horizon College, Randnr. 16, sowie Canterbury Hockey Club und Canterbury Ladies Hockey Club, Randnr. 17).

20      Diese Begriffe sind somit nach ihrem Sachzusammenhang sowie nach den Zielsetzungen und der Systematik der Mehrwertsteuerrichtlinie auszulegen, wobei insbesondere der Normzweck der betreffenden Steuerbefreiung zu berücksichtigen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Temco Europe, Randnr. 18, vom 3. März 2005, Fonden Marselisborg Lystbådehavn, C-428/02, Slg. 2005, I-1527, Randnr. 28, sowie Canterbury Hockey Club und Canterbury Ladies Hockey Club, Randnr. 17).

21      Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie bezieht sich nach dem Wortlaut dieser Vorschrift auf Sport und Körperertüchtigung im Allgemeinen. Angesichts dieses Wortlauts soll die mit dieser Vorschrift vorgesehene Steuerbefreiung nicht lediglich bestimmten Arten von Sport zugutekommen (vgl. in diesem Sinne Canterbury Hockey Club und Canterbury Ladies Hockey Club, Randnr. 27).

22      Die Anwendbarkeit von Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie setzt auch nicht voraus, dass die sportliche Betätigung auf einem bestimmten Niveau, beispielsweise auf professionellem Niveau, oder in einer bestimmten Art und Weise, nämlich regelmäßig oder organisiert oder im Hinblick auf die Teilnahme an sportlichen Wettkämpfen, ausgeübt wird, soweit die Ausübung dieser Tätigkeit indessen nicht rein im Rahmen von Erholung oder Unterhaltung stattfindet.

23      Zum Ziel des Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie ist festzustellen, dass mit dieser Vorschrift bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten gefördert werden sollen, nämlich in engem Zusammenhang mit Sport und Körperertüchtigung stehende Dienstleistungen, die von Einrichtungen ohne Gewinnstreben an Personen erbracht werden, die Sport oder Körperertüchtigung ausüben. Sie zielt somit darauf ab, eine solche Betätigung durch breite Schichten der Bevölkerung zu fördern.

24      Eine Auslegung dieser Vorschrift, die den Anwendungsbereich der in ihr vorgesehenen Steuerbefreiung auf organisiert, planmäßig oder mit dem Ziel der Teilnahme an Sportwettkämpfen ausgeübte sportliche Betätigungen beschränkte, liefe diesem Ziel zuwider.

25      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass nicht organisierte und nicht planmäßige sportliche Betätigungen, die nicht auf die Teilnahme an Sportwettkämpfen abzielen, als Ausübung von Sport im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden können.

 Zur zweiten Frage

26      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass der Zugang zu einem Aquapark, der den Besuchern nicht nur Einrichtungen anbietet, die die Ausübung sportlicher Betätigungen ermöglichen, sondern auch andere Arten der Unterhaltung oder Erholung, eine in engem Zusammenhang mit Sport stehende Dienstleistung darstellen kann.

27      Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, ist bei einem Umsatz, der verschiedene Einzelleistungen und Handlungen umfasst, eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, um zu bestimmen, ob zwei oder mehr getrennte Leistungen vorliegen oder eine einheitliche Leistung und ob im letztgenannten Fall diese einheitliche Leistung unter die fragliche Steuerbefreiung fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Oktober 2005, Levob Verzekeringen und OV Bank, C-41/04, Slg. 2005, I-9433, Randnr. 19, vom 29. März 2007, Aktiebolaget NN, C-111/05, Slg. 2007, I-2697, Randnr. 21, und vom 10. März 2011, Bog u. a., C-497/09, C-499/09, C-501/09 und C-502/09, Slg. 2011, I-1457, Randnr. 52).

28      Eine einheitliche Leistung liegt dann vor, wenn zwei oder mehr Handlungen oder Einzelleistungen des Steuerpflichtigen für den Kunden so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv einen einzigen untrennbaren wirtschaftlichen Vorgang bilden, dessen Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre (Urteile Levob Verzekeringen und OV Bank, Randnr. 22, vom 21. Februar 2008, Part Service, C-425/06, Slg. 2008, I-897, Randnr. 43, und Bog u. a., Randnr. 53). Außerdem liegt eine einheitliche Leistung vor, wenn ein oder mehrere Teile die Hauptleistung bilden, andere Teile dagegen als eine oder mehrere Nebenleistungen anzusehen sind, die das steuerrechtliche Schicksal der Hauptleistung teilen (vgl. u. a. Urteile CPP, Randnr. 30, Levob Verzekeringen und OV Bank, Randnr. 21, sowie Bog u. a., Randnr. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Bei der Prüfung, ob eine komplexe einheitliche Leistung als in engem Zusammenhang mit Sport stehende Leistung im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie einzustufen ist, obwohl diese Leistung auch Teile umfasst, bei denen kein solcher Zusammenhang besteht, sind sämtliche Umstände, unter denen der Umsatz abgewickelt wird, zu berücksichtigen, um dessen charakteristische Bestandteile zu ermitteln und darunter die dominierenden Bestandteile zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 2. Mai 1996, Faaborg-Gelting Linien, C-231/94, Slg. 1996, I-2395, Randnrn. 12 und 14, Levob Verzekeringen und OV Bank, Randnr. 27, sowie Bog u. a., Randnr. 61).

30      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der dominierende Bestandteil aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Levob Verzekeringen und OV Bank, Randnr. 22, sowie vom 2. Dezember 2010, Everything Everywhere, C-276/09, Slg. 2010, I-12359, Randnr. 26) und – im Rahmen einer Gesamtbetrachtung – mit Rücksicht auf die qualitative und nicht nur quantitative Bedeutung der unter die Steuerbefreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie fallenden Bestandteile im Vergleich zu den nicht unter diese Befreiung fallenden Bestandteilen zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil Bog u. a., Randnr. 62).

31      Ob in einem konkreten Fall der Steuerpflichtige eine einheitliche und unter diese Steuerbefreiung fallende Leistung erbringt, haben im Rahmen der mit Art. 267 AEUV errichteten Zusammenarbeit die nationalen Gerichte festzustellen, die dazu alle endgültigen Tatsachenbeurteilungen vorzunehmen haben (vgl. in diesem Sinne Urteile CPP, Randnr. 32, Levob Verzekeringen und OV Bank, Randnr. 23, sowie Bog u. a., Randnr. 55). Der Gerichtshof hat jedoch diesen Gerichten alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können (vgl. Urteile Levob Verzekeringen und OV Bank, Randnr. 23, sowie vom 27. September 2012, Field Fisher Waterhouse, C-392/11, Randnr. 20).

32      Was das Vorliegen einer komplexen einheitlichen Leistung im Ausgangsverfahren betrifft, ist zu prüfen, ob die Einrichtungen in dem in Rede stehenden Aquapark eine Gesamtheit bilden, so dass der Zugang zu dieser Gesamtheit eine einzige Leistung darstellt, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre. Wenn insoweit, wie im vorliegenden Fall, die einzige Art von Eintrittskarten für den Aquapark Zugang zu sämtlichen Einrichtungen eröffnet, ohne dass in irgendeiner Weise hinsichtlich der Art der tatsächlich benutzten Einrichtung sowie der Art und Weise und der Dauer ihrer Benutzung während der Gültigkeit der Eintrittskarte unterschieden wird, stellt dies ein wichtiges Indiz für das Vorliegen einer komplexen einheitlichen Leistung dar.

33      Ob im Rahmen einer solchen komplexen einheitlichen Leistung der dominierende Bestandteil die Möglichkeit ist, unter Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie fallende sportliche Betätigungen auszuüben, oder vielmehr die reine Erholung und Unterhaltung, ist, wie oben in Randnr. 30 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers festzustellen, die auf der Grundlage einer Gesamtheit objektiver Gesichtspunkte zu bestimmen ist. Im Rahmen dieser Gesamtbeurteilung ist insbesondere die Konzeption des in Rede stehenden Aquaparks zu berücksichtigen, die sich aus seinen objektiven Merkmalen ergibt, d. h. den verschiedenen Arten der angebotenen Einrichtungen, ihrer Anordnung, ihrer Zahl und ihrer Bedeutung im Verhältnis zum Park insgesamt.

34      Was insbesondere die Schwimmbecken betrifft, hat das nationale Gericht u. a. zu berücksichtigen, ob diese sich für die Ausübung sportlichen Schwimmens anbieten, indem sie beispielsweise in Schwimmbahnen unterteilt sind, mit Startblöcken ausgestattet sind und eine angemessene Tiefe und angemessene Ausmaße haben, oder ob sie vielmehr so angelegt sind, dass sie sich im Wesentlichen für eine spielerische Nutzung eignen.

35      Der Umstand, dass sich die Absicht einer bestimmten Zahl von Besuchern nicht auf den derart bestimmten dominierenden Bestandteil der Leistung bezieht, kann diese Bestimmung dagegen nicht in Frage stellen.

36      Eine Vorgehensweise, bei der darauf abgestellt würde, welche Absicht jeder einzelne Besucher für sich genommen in Bezug auf die Benutzung der zur Verfügung gestellten Einrichtungen verfolgt, wäre nämlich mit den Zielen des Mehrwertsteuersystems unvereinbar, die Rechtssicherheit und die richtige und einfache Anwendung der in Art. 132 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen zu gewährleisten. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass, um die mit der Anwendung der Mehrwertsteuer verbundenen Maßnahmen zu erleichtern, von Ausnahmefällen abgesehen auf die objektive Natur des betreffenden Umsatzes abzustellen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. April 1995, BLP Group, C-4/94, Slg. 1995, I-983, Randnr. 24, vom 9. Oktober 2001, Cantor Fitzgerald International, C-108/99, Slg. 2001, I-7257, Randnr. 33, und vom 27. September 2007, Teleos u. a., C-409/04, Slg. 2007, I-7797, Randnr. 39).

37      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass der Zugang zu einem Aquapark, der den Besuchern nicht nur Einrichtungen anbietet, die die Ausübung sportlicher Betätigungen ermöglichen, sondern auch andere Arten der Unterhaltung oder Erholung, eine in engem Zusammenhang mit Sport stehende Dienstleistung darstellen kann. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu ermitteln, ob dies im Licht der vom Gerichtshof im vorliegenden Urteil gegebenen Auslegungshinweise und unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Ausgangsrechtsstreits in diesem der Fall ist.

 Kosten

38      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass nicht organisierte und nicht planmäßige sportliche Betätigungen, die nicht auf die Teilnahme an Sportwettkämpfen abzielen, als Ausübung von Sport im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden können.

2.      Art. 132 Abs. 1 Buchst. m der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass der Zugang zu einem Aquapark, der den Besuchern nicht nur Einrichtungen anbietet, die die Ausübung sportlicher Betätigungen ermöglichen, sondern auch andere Arten der Unterhaltung oder Erholung, eine in engem Zusammenhang mit Sport stehende Dienstleistung darstellen kann. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu ermitteln, ob dies im Licht der vom Gerichtshof im vorliegenden Urteil gegebenen Auslegungshinweise und unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Ausgangsrechtsstreits in dieser Rechtssache der Fall ist.

Unterschriften

Quelle