In den verbundenen Rechtssachen C 72/10 und C 77/10
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Italien) mit Entscheidungen vom 10. November 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Februar 2010, in den Strafverfahren gegen
Marcello Costa (C 72/10),
Ugo Cifone (C 77/10)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. C. Bonichot, der Richter K. Schiemann (Berichterstatter) und L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. Juni 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Herrn Costa, vertreten durch D. Agnello, avvocatessa,
– von Herrn Cifone, vertreten durch D. Agnello, R. Jacchia, A. Terranova, F. Ferraro, A. Aversa, A. Piccinini, F. Donati und A. Dossena, avvocati,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Arena, avvocato dello Stato,
– der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von P. Vlaemminck, advocaat, und A. Hubert, avocat,
– der spanischen Regierung, vertreten durch F. Diéz Moreno als Bevollmächtigten,
– der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und P. Mateus Calado als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Traversa und S. La Pergola als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Oktober 2011
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1. Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 43 EG und 49 EG.
2. Sie ergehen im Rahmen von Strafverfahren gegen Herrn Costa und Herrn Cifone, die Datenübertragungszentren (im Folgenden: DÜZ) betreiben und vertraglich an die Gesellschaft englischen Rechts Stanley International Betting Ltd (im Folgenden: Stanley) gebunden sind, wegen Verstoßes gegen die italienischen Rechtsvorschriften über die Annahme von Wetten, insbesondere das Regio Decreto Nr. 773, Testo Unico delle Leggi di Pubblica Sicurezza (Testo Unico der Gesetze auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit), vom 18. Juni 1931 (GURI Nr. 146 vom 26. Juni 1931) in der durch Art. 37 Abs. 4 des Gesetzes Nr. 388 vom 23. Dezember 2000 (GURI Nr. 302 vom 29. Dezember 2000, Supplemento ordinario) geänderten Fassung (im Folgenden: Regio Decreto). Die Ersuchen stehen in einem rechtlichen und tatsächlichen Rahmen, der demjenigen ähnlich ist, in dem die Urteile vom 21. Oktober 1999, Zenatti (C 67/98, Slg. 1999, I 7289), vom 6. November 2003, Gambelli u. a. (C 243/01, Slg. 2003, I 13031), vom 6. März 2007, Placanica u. a. (C 338/04, C 359/04 und C 360/04, Slg. 2007, I 1891), sowie vom 13. September 2007, Kommission/Italien (C 260/04, Slg. 2007, I 7083), ergangen sind.
Rechtlicher Rahmen
3. Die italienische Regelung sieht im Wesentlichen vor, dass die Tätigkeiten des Sammelns und der Verwaltung von Wetten nur von Personen ausgeübt werden, die aufgrund einer Ausschreibung eine Konzession erlangt und ferner eine ordnungspolizeiliche Genehmigung erhalten haben. Ein Verstoß gegen diese Vorschriften ist strafbar.
Konzessionen
4. Bis zur Änderung der Rechtsvorschriften im Jahr 2002 durfte Wirtschaftsteilnehmern mit der Rechtsform von Kapitalgesellschaften, deren Anteile auf reglementierten Märkten gehandelt werden, keine Glücksspielkonzession erteilt werden. Diese Wirtschaftsteilnehmer waren daher von den 1999 durchgeführten Verfahren zur Vergabe von Konzessionen ausgeschlossen. Die Rechtswidrigkeit dieses Ausschlusses im Hinblick auf die Art. 43 EG und 49 EG wurde u. a. im Urteil Placanica u. a. festgestellt.
5. Durch das Decreto-legge Nr. 223 vom 4. Juli 2006, disposizioni urgenti per il rilancio economico e sociale, per il contenimento e la razionalizzazione della spesa pubblica, nonché interventi in materia di entrate e di contrasto all’evasione fiscale (Sofortmaßnahmen für den wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufschwung und zur Eindämmung und Begrenzung der öffentlichen Ausgaben sowie mit Maßnahmen im Bereich der Steuereinnahmen und zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung), umgewandelt in das Gesetz Nr. 248 vom 4. August 2006 (GURI Nr. 18 vom 11. August 2006) (im Folgenden: Dekret Bersani), wurde der italienische Glücksspielsektor reformiert, um ihn an die Anforderungen des Unionsrechts anzupassen.
6. Nach Art. 38 („Maßnahmen gegen illegales Spielen“) Abs. 1 des Dekrets Bersani waren bis zum 31. Dezember 2006 eine Reihe von Vorschriften zu erlassen, „um der Ausbreitung des regelwidrigen und illegalen Spielens sowie der Steuerumgehung und hinterziehung im Bereich des Spiels entgegenzuwirken und den Schutz des Spielers sicherzustellen“.
7. In den Abs. 2 und 4 dieses Artikels sind die neuen Modalitäten des Vertriebs von Glücksspielen zum einen bei anderen Ereignissen als Pferderennen und zum anderen bei Pferderennen geregelt. Darunter sind hervorzuheben:
– Es sind mindestens 7 000 neue Annahmestellen für Glücksspiele mit Bezug auf andere Ereignisse als Pferderennen und mindestens 10 000 neue Annahmestellen für Glücksspiele mit Bezug auf Pferderennen vorgesehen;
– die Höchstzahl der Annahmestellen je Gemeinde wird nach der Einwohnerzahl und unter Berücksichtigung der Annahmestellen, für die bereits nach der Ausschreibung von 1999 eine Konzession vergeben wurde, festgelegt;
– die neuen Annahmestellen müssen Mindestabstände zu den Annahmestellen, für die bereits nach der Ausschreibung von 1999 eine Konzession vergeben wurde, einhalten;
– die Amministrazione Autonoma dei Monopoli di Stato (Autonome Staatsmonopolverwaltung, im Folgenden: AAMS), die dem Ministero dell’Economia e delle Finanze untersteht, legt die „Modalitäten des Schutzes“ der Inhaber von nach der Ausschreibung von 1999 vergebenen Konzessionen fest.
Polizeiliche Genehmigungen
8. Dem Konzessionssystem stellt das Regio Decreto ein System von Kontrollen der öffentlichen Sicherheit zur Seite. Nach Art. 88 des Regio Decreto wird eine polizeiliche Genehmigung ausschließlich Inhabern einer Konzession oder denjenigen erteilt, die von einem Ministerium oder einer anderen gesetzlich zur Organisation oder Veranstaltung von Wetten befugten Einrichtung eine entsprechende Erlaubnis erhalten haben.
Strafrechtliche Sanktionen
9. Die Organisation von Spielen, auch auf elektronischem Weg oder über Telefon, ohne die erforderliche Konzession oder polizeiliche Genehmigung ist in Italien eine Straftat, die gemäß Art. 4 der Legge, n. 401, recante interventi nel settore del giuoco e delle scommesse clandestini e tutela della correttezza nello svolgimento di manifestazioni sportive (Gesetz Nr. 401 über Interventionen auf dem Gebiet des heimlichen Spiels und der heimlichen Wetten und zum Schutz des ordnungsgemäßen Ablaufs sportlicher Wettkämpfe) vom 13. Dezember 1989 (GURI Nr. 294 vom 18. Dezember 1989) in der durch Art. 37 Abs. 5 des Gesetzes Nr. 388 vom 23. Dezember 2000 (GURI Nr. 302 vom 29. Dezember 2000, Supplemento ordinario) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 401/89) mit Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet werden kann.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
Stanley und ihre Situation in Italien
10. Stanley besitzt aufgrund einer von den Behörden in Liverpool erteilten Konzession die Genehmigung, im Vereinigten Königreich als Buchmacher tätig zu sein. Stanley bietet Wetten zu festen Quoten auf eine breite Palette von nationalen und internationalen Sport- und anderen Ereignissen an.
11. Stanley ist in Italien durch mehr als 200 Agenturen tätig, die als DÜZ betrieben werden. DÜZ sind öffentlich zugängliche Räumlichkeiten, in denen Wettteilnehmer elektronisch unter Zugriff auf einen Server von Stanley im Vereinigten Königreich oder in einem anderen Mitgliedstaat Sportwetten abschließen, ihre Einsätze zahlen und gegebenenfalls ihre Gewinne vereinnahmen können. Die DÜZ werden von unabhängigen Wirtschaftsteilnehmern betrieben, die vertraglich an Stanley gebunden sind. Stanley ist in Italien ausschließlich durch diese physischen Wettbüros tätig und daher kein Anbieter von Internet-Glücksspielen.
12. Im Hinblick auf ihre Arbeitsweise steht fest, dass eigentlich Stanley verpflichtet ist, für die Ausübung der Tätigkeiten des Sammelns und der Verwaltung von Wetten in Italien eine Konzession einzuholen, woraufhin die DÜZ ihren Tätigkeiten nachgehen dürften.
13. Stanley, die zu einer Unternehmensgruppe gehörte, deren Anteile auf reglementierten Märkten gehandelt wurden, war von dem Verfahren im Jahr 1999, bei dem 1 000 Konzessionen für den Vertrieb von Sportwetten auf andere Ereignisse als Pferderennen vergeben wurden, die sechs Jahre gültig waren und um weitere sechs Jahre verlängert werden konnten, unionsrechtswidrig ausgeschlossen worden.
14. Das Dekret Bersani wurde durch Ausschreibungsverfahren durchgeführt, die das AAMS im Jahr 2006 eröffnete. Am 28. August 2006 wurden mit zwei Bekanntmachungen gemäß Art. 38 Abs. 2 und 4 des Dekrets Bersani Konzessionen für 500 auf Pferderennen spezialisierte Annahmestellen und für 9 500 nicht auf Pferderennen spezialisierte Annahmestellen zusätzlich zur Einrichtung von Netzen für Online-Pferderennwetten sowie Konzessionen für 1 900 auf Sportereignisse spezialisierte Annahmestellen und für 4 400 nicht auf Sportereignisse spezialisierte Annahmestellen zusätzlich zur Einrichtung von Netzen für Online-Sportwetten ausgeschrieben. Diese Bekanntmachungen wurden außerdem am 30. August 2006 im Amtsblatt der Europäischen Union (Verfahren Nrn. 2006/S 163 175655 und 2006/S 164 176680) veröffentlicht. Als Frist für die Angebotsabgabe wurde für alle Konzessionsarten der 20. Oktober 2006 festgesetzt.
15. Die Ausschreibungsunterlagen umfassten u. a. eine Leistungsbeschreibung mit acht Anhängen sowie das Muster für einen Vertrag zwischen der AAMS und dem Zuschlagsempfänger über die Konzession betreffend Glücksspiele mit Bezug auf andere Ereignisse als Pferderennen (im Folgenden: Mustervertrag).
16. Nach der genannten Leistungsbeschreibung setzte die Teilnahme an der Ausschreibung zum einen gemäß ihrem Art. 13 die Stellung einer vorläufigen Bankgarantie und zum anderen gemäß ihrem Art. 14 die Zusage voraus, für die Verpflichtungen aus der Konzession eine endgültige Bankgarantie zu stellen.
17. Nach Art. 23 Abs. 2 Buchst. a des Mustervertrags muss die AAMS die Konzession entziehen, wenn „gegen den Konzessionär, seinen gesetzlichen Vertreter oder Mitglieder seiner Geschäftsleitung Sicherungsmaßnahmen ergriffen werden oder der zuständige Richter um Entscheidung in der Sache ersucht wird wegen eines im Gesetz Nr. 55 vom 19. Mai 1990 genannten Straftatbestands oder sonstiger Straftatbestände, die geeignet sind, die vom Vertrauen getragenen Beziehungen mit der AAMS zu zerrütten“.
18. Ferner muss die AAMS nach Art. 23 Abs. 3 des Mustervertrags „die Konzession, nachdem sie diese vorsorglich mit sofortiger Wirkung ausgesetzt hat, entziehen, wenn der Konzessionär selbst oder durch eine mit ihm verbundene Gesellschaft – ungeachtet der Natur dieser Verbindung – auf italienischem Gebiet oder über Server, die sich außerhalb des Staatsgebiets befinden, Glücksspiele anbietet, die mit öffentlichen Glücksspielen oder anderen von der AAMS verwalteten Glücksspielen oder nach italienischem Recht verbotenen Glücksspielen vergleichbar sind“.
19. Nach Art. 23 Abs. 6 des Mustervertrags führt der Entzug der Konzession zum Verfall der vom Konzessionär zugunsten der AAMS gestellten Bankgarantie, unbeschadet eines darüber hinausgehenden Schadensersatzanspruchs der AAMS.
20. Nach Veröffentlichung der Vergabebekanntmachungen teilte Stanley erneut ihr Interesse an einer Konzession für das Sammeln und die Verwaltung von Wetten mit und erhielt von der AAMS den für die Einreichung eines Angebots erforderlichen Datenträger. Sodann bat sie die AAMS um Erläuterung einzelner Bestimmungen, die ihrer Teilnahme an der Ausschreibung möglicherweise im Wege stünden und ihr in bestimmter Hinsicht unklar erschienen.
21. Mit Schreiben vom 21. September 2006 fragte Stanley die AAMS, ob das Geschäftsmodell der mit ihr verbundenen DÜZ als Verletzung der Grundsätze und Bestimmungen der Ausschreibungsunterlagen, insbesondere Art. 23 Abs. 3 des Mustervertrags, betrachtet werde, so dass eine Teilnahme an den Verfahren und ihr etwaiger positiver Ausgang der Fortsetzung dieser Tätigkeit im Wege stehen könnten, und ob deren Fortsetzung einen Grund darstellen könnte, etwa vergebene Konzessionen zu widerrufen, zu entziehen oder auszusetz en.
22. Mit Schreiben vom 6. Oktober 2006 antwortete die AAMS, die Teilnahme an den Ausschreibungen setze voraus, dass in Italien auf die Ausübung von grenzüberschreitenden Tätigkeiten verzichtet werde, und bestätigte insbesondere, dass das neue System es den Bewerbern ermögliche, Vertriebsnetze aufzubauen, die auch landesweiten Charakter haben könnten. Sie wies jedoch darauf hin, dass diese Netze „naturgemäß dazu neigen, etwa vorhandene alte Netze zu ersetzen, und in diesem Zusammenhang durch Art. 23 des Mustervertrags ein geeigneter Schutz für die Investitionen geschaffen wird, die diese Konzessionäre getätigt haben“.
23. Auf dieses Schreiben bat Stanley die AAMS am 10. Oktober 2006, ihren Standpunkt zu überprüfen und „die Ausschreibungsbedingungen, insbesondere Art. 23 des Mustervertrags, dahin abzuändern, dass [Stanley] eine Teilnahme an dem Verfahren ermöglicht werde, ohne auf die Ausübung ihrer Grundfreiheit, Dienstleistungen grenzüberschreitend anzubieten, verzichten zu müssen“.
24. Zudem übermittelte Stanley an die AAMS am 12. Oktober 2006 folgende weitere Frage:
„Für den Fall, dass Stanley auf die Erbringung ihrer grenzüberschreitenden Dienstleistungen in Italien verzichten und an den Ausschreibungsverfahren teilnehmen würde, könnten dann die derzeitigen Betreiber ihres Netzes – mit landesweitem Charakter – jeweils ihre eigenen Berechtigungen verlieren; wenn nicht, müssten sie zusätzliche Anforderungen erfüllen oder brauchten sie nur den AAMS-Mustervertrag zu schließen?“
25. Am 17. Oktober 2006 teilte Stanley mit, dass sie auf ihre Rückfragen vom 10. und 12. Oktober 2006 keine Antwort erhalten habe und dass sie diese dringend benötige, um beschließen zu können, ob sie an den Ausschreibungsverfahren teilnehmen werde oder nicht. Am 18. Oktober 2006 wies die AAMS die Rückfragen von Stanley endgültig zurück, woraufhin diese beschloss, nicht an den Verfahren teilzunehmen.
26. Stanley erhob Klage auf Nichtigerklärung der Bekanntmachungen und Rechtsakte betreffend die Ausschreibungsverfahren; ihre insoweit beim Tribunale amministrativo regionale del Lazio am 27. November 2006 eingereichte Klage Nr. 10869/2006 ist noch anhängig.
27. Die Ausschreibungsverfahren wurden im Dezember 2006 mit der Vergabe von etwa 14 000 neuen Konzessionen abgeschlossen.
Verfahren, an denen zu Stanley gehörende DÜZ-Betreiber beteiligt sind
28. Obwohl Stanley keine Konzession für das Sammeln und die Verwaltung von Wetten erhalten hatte, beantragten Herr Costa und Herr Cifone für die Ausübung ihrer Tätigkeit als DÜZ-Betreiber die in Art. 88 des Regio Decreto vorgesehene polizeiliche Genehmigung.
Rechtssache Costa (C 72/10)
29. Zur im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit war Herr Costa aufgrund eines Vertrags vom 27. Mai 2008 Betreiber eines DÜZ in Rom (Italien).
30. Auf seinen Antrag auf polizeiliche Genehmigung hin nahm die Polizia di Stato di Roma am 8. Oktober 2008 im DÜZ von Herrn Costa Kontrollen vor und stellte fest, dass insbesondere durch Annahme von Sportwetten ohne die erforderliche Konzession und polizeiliche Genehmigung der Tatbestand des Vergehens der unerlaubten Wetttätigkeit nach Art. 4 des Gesetzes Nr. 401/89 erfüllt sei.
31. Mit Entscheidung vom 27. Januar 2009 sprach der Giudice per le indagini preliminari (Ermittlungsrichter) beim Tribunale di Roma Herrn Costa von dem Vorwurf frei, „weil der Tatbestand nicht mehr als Vergehen anzusehen ist“. Nach einem Urteil der Corte suprema di cassazione in einer ähnlichen Sache verstoße die italienische strafrechtliche Vorschrift gegen Unionsrecht und habe daher unangewendet zu bleiben (Urteil vom 27. Mai 2008, Nr. 27532/08).
32. Die Staatsanwaltschaft macht mit ihrer Kassationsbeschwerde bei der Corte suprema di cassazione geltend, dass die nationale Regelung über Konzessionen und polizeiliche Genehmigungen mit dem Unionsrecht vereinbar sei und dass Herr Costa angesichts des Fehlens einer die Konzessionsvergabe ablehnenden Entscheidung der italienischen Behörden, die mit verwaltungsgerichtlichem Rechtsbehelf hätte angefochten werden können, ohnehin nicht berechtigt sei, Verstöße der Italienischen Republik gegen Unionsrecht zu rügen und die Nichtanwendung der Regelung zu fordern, der er sich aus freien Stücken entzogen habe.
Rechtssache Cifone (C 77/10)
33. Zur im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit war Herr Cifone Betreiber eines DÜZ in Molfetta, Provinz Bari (Italien). Am 26. Juli 2007 wurde dem Questore (Polizeipräfekt) von Bari eine polizeiliche Genehmigung vorgelegt.
34. Am 7. November 2007 ging bei der Staatsanwaltschaft beim Tribunale di Trani eine Anzeige eines Wettbewerbers ein, der im Besitz einer vom AAMS gemäß dem Dekret Bersani erteilten Konzession war. Die Anzeige war auf die Einleitung von Strafverfahren gegen mehrere in der Provinz Bari tätige Mittelspersonen, darunter Herr Cifone, gerichtet wegen des Tatbestands des Vergehens der unerlaubten Wetttätigkeit nach Art. 4 des Gesetzes Nr. 401/89.
35. Am 20. Oktober 2007 beschlagnahmte die Guardia di finanza di Molfetta (Finanzpolizei Molfetta) aus eigener Initiative die Geräte und Räumlichkeiten des DÜZ von Herrn Cifone.
36. Die Staatsanwaltschaft bestätigte die Rechtmäßigkeit dieser Beschlagnahme und beantragte beim Ermittlungsrichter des Tribunale di Trani, die vorläufige Beschlagnahme der Räumlichkeiten und Geräte aller Beschuldigten, darunter Herr Cifone, im Strafverfahren anzuordnen. Mit Entscheidung vom 26. Mai 2008 ordnete der Richter die vorläufige Beschlagnahme u. a. wegen Verstoßes gegen Art. 4 des Gesetzes Nr. 401/89 an; diese Entscheidung wurde vom Tribunale del riesame di Bari mit Beschluss vom 10. und 14. Juli 2008 bestätigt.
37. Am 9. September 2008 legte Herr Cifone Kassationsbeschwerde gegen den Beschluss vom 10. und 14. Juli 2008 ein. Er beantragt, die nationale Regelung einschließlich ihrer strafrechtlichen Wirkungen unangewendet zu lassen, weil sie, indem sie die alten Konzessionen für gültig erkläre, Grenzen für die Einrichtung neuer Annahmestellen vorsehe, um die bestehenden zu begünstigen, und Voraussetzungen für den Entzug der Konzessionen einführe, die stark diskriminierend seien, gegen Unionsrecht verstoße.
Vorlagefrage
38. Sowohl in der Rechtssache Costa als auch in der Rechtssache Cifone stellt die Corte suprema di cassazione Auslegungszweifel fest in Bezug auf die Reichweite der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit und insbesondere der „Möglichkeit, dass diese Reichweite durch innerstaatliche Rechtsvorschriften beschränkt wird, die … diskriminierende Züge aufweisen oder aufzuweisen scheinen und Ausschlusswirkungen entfalten oder zu entfalten scheinen“.
39. Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione die beiden Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Wie sind die Art. 43 EG und 49 EG in Bezug auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im Bereich der Sportwetten auszulegen, um festzustellen, ob die angeführten Bestimmungen des Vertrags eine nationale Regelung zulassen, die eine Monopolregelung zugunsten des Staates und ein System von Konzessionen und Genehmigungen festlegt, das im Rahmen einer bestimmten Anzahl von Konzessionen Folgendes vorsieht:
a) eine allgemeine Ausrichtung des Schutzes für die Inhaber von Konzessionen, die früher aufgrund eines Verfahrens erteilt wurden, das rechtswidrig einen Teil der Wirtschaftsteilnehmer ausschloss;
b) die Geltung von Vorschriften, die praktisch die Aufrechterhaltung von Geschäftspositionen sicherstellen, die aufgrund eines Verfahrens erworben wurden, das rechtswidrig einen Teil der Wirtschaftsteilnehmer ausschloss (wie etwa die Verpflichtung neuer Konzessionäre, bei der Einrichtung ihrer Schalter einen Mindestabstand zu bereits bestehenden Schaltern einzuhalten);
c) die Festlegung von Tatbeständen des Konzessionsentzugs oder des Verfalls von Sicherheitsleistungen in erheblicher Höhe, darunter den Fall, dass der Konzessionär unmittelbar oder mittelbar grenzüberschreitenden Wetttätigkeiten nachgeht, die mit den konzessionierten vergleichbar sind?
40. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 6. April 2010 sind die Rechtssachen C 72/10 und C 77/10 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zur Zulässigkeit der Vorlagefrage
41. Die italienische Regierung bezweifelt die Zulässigkeit der Vorlagefrage.
42. Erstens sei die Vorlagefrage hypothetisch. Eine eventuelle Feststellung der Unvereinbarkeit der neuen italienischen Regelung, wie sie sich aus dem Dekret Bersani ergebe, mit dem Unionsrecht habe keine Folgen für die Beschuldigten der Ausgangsverfahren, denn Stanley habe freiwillig von einer Teilnahme an den Ausschreibungen von 2006 Abstand genommen, die nach dieser neuen Regelung durchgeführt worden seien. Die Merkmale einer Konzessionsregelung, von der kein Gebrauch gemacht worden sei, könnten keinen Einfluss auf die strafrechtliche Situation von Herrn Costa und Herrn Cifone haben.
43. Hierzu geht aus einer ständigen Rechtsprechung hervor, dass ein Mitgliedstaat keine strafrechtlichen Sanktionen wegen einer nicht erfüllten Verwaltungsformalität verhängen darf, wenn er die Erfüllung dieser Formalität unter Verstoß gegen das Unionsrecht abgelehnt oder vereitelt hat (Urteil Placanica u. a., Randnr. 69). Da es in der Vorlagefrage gerade darum geht, ob die Voraussetzungen, an die die Vergabe einer Konzession nach der nationalen Regelung gebunden ist und die dazu führten, dass Stanley auf die Teilnahme an der in den Ausgangsverfahren fraglichen Ausschreibung verzichtete, unionsrechtswidrig sind, kann die Entscheidungserheblichkeit dieser Frage für die Ausgangsverfahren nicht in Zweifel gezogen werden.
44. Zweitens hält die italienische Regierung die Vorlagefrage für unzulässig, weil sie zu allgemein sei.
45. Insoweit trifft es zwar zu, dass die Genauigkeit und sogar der Nutzen sowohl der Erklärungen der Regierungen der Mitgliedstaaten und der anderen Beteiligten als auch der Antwort des Gerichtshofs davon abhängen können, dass die Angaben zum Inhalt und zu den Zielen der im Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Regelung hinreichend detailliert sind. Gleichwohl genügt es in Anbetracht der Aufgabenteilung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof, dass sich der Gegenstand sowie diejenigen Punkte des Ausgangsrechtsstreits, die für die Unionsrechtsordnung hauptsächlich von Interesse sind, aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergeben, damit sich die Mitgliedstaaten gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs äußern und wirkungsvoll am Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligen können (Urteil vom 8. September 2009, Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, C 42/07, Slg. 2009, I 7633, Randnr. 41). Die Vorlageentscheidungen in den Ausgangsverfahren genügen diesen Anforderungen.
46. Die Einwände der italienischen Regierung gegen die Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen sind daher zurückzuweisen.
Zur Vorlagefrage
47. Das vorlegende Gericht wirft mit seiner Frage zwei Probleme auf, die getrennt zu prüfen sind.
48. Zum einen soll es entscheiden, ob die Maßnahmen des Gesetzgebers zur Korrektur des rechtswidrigen Ausschlusses von Wirtschaftsteilnehmern wie Stanley von der Ausschreibung von 1999 mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Das vorlegende Gericht meint zwar, dass die im Dekret Bersani vorgesehene Vergabe von etwa 16 000 neuen Konzessionen dem ersten Anschein nach den Anforderungen des Gerichtshofs in Randnr. 63 des Urteils Placanica u. a. entspreche, hat aber Zweifel, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, dass bestimmte Elemente der neuen Regelung die Geschäftspositionen von Wirtschaftsteilnehmern, die nach den Ausschreibungen von 1999 eine Konzession erhalten hatten, vor dem potenziellen Wettbewerb durch Wirtschaftsteilnehmer schützen, die von der Ausschreibung von 1999 rechtswidrig ausgeschlossen waren und 2006 erstmals an einem Verfahren zur Vergabe von Konzessionen teilnehmen konnten. Das vorlegende Gericht verweist insoweit insbesondere auf die in Art. 38 Abs. 2 und 4 des Dekrets Bersani vorgesehene Verpflichtung neuer Konzessionäre, mit ihren Einrichtungen einen Mindestabstand zu den bereits vorhandenen Konzessionären einzuhalten.
49. Zum anderen hebt das vorlegende Gericht hervor, dass zwar durch die im Jahr 2002 erfolgten Änderungen der Rechtsvorschriften der im Urteil Placanica u. a. beanstandete Grund für den Ausschluss von der Ausschreibung von 1999 beseitigt worden sei, doch seien mit dem Erlass des Dekrets Bersani eine Reihe neuer Beschränkungen eingeführt worden, insbesondere durch die in Art. 23 des Mustervertrags vorgesehenen Tatbestände des Entzugs der Konzession und des Verfalls von Garantien. Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit dieser neuen Beschränkungen mit dem Unionsrecht.
Zum Schutz der Geschäftspositionen von Wirtschaftsteilnehmern, die nach der Ausschreibung von 1999 Konzessionen erhalten haben
50. Mit dem ersten Teil seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 43 EG und 49 EG dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat, der unionsrechtswidrig eine Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern von der Vergabe von Konzessionen für die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ausgeschlossen hat und diesen Verstoß durch Ausschreibung einer großen Zahl von neuen Konzessionen beheben will, verbieten, die von den bestehenden Betreibern erworbenen Geschäftspositionen u. a. durch das Vorschreiben von Mindestabständen zwischen den Einrichtungen der neuen Konzessionäre und denen der bestehenden Betreiber zu schützen.
51. Insoweit ist zunächst auf die Feststellung des Gerichtshofs in Randnr. 63 des Urteils Placanica u. a. hinzuweisen, dass es Aufgabe des innerstaatlichen Rechts ist, Verfahrensmodalitäten vorzusehen, die den Schutz der Rechte der rechtswidrig von der ersten Ausschreibung ausgeschlossenen Wirtschaftsteilnehmer gewährleisten, wobei diese Modalitäten jedoch nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als für entsprechende Sachverhalte innerstaatlicher Art (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz).
52. Weiter hat der Gerichtshof in dieser Randnummer des Urteils Placanica u. a. ausgeführt, dass sowohl eine Rücknahme und Neuverteilung der alten Konzessionen als auch die Ausschreibung einer angemessenen Zahl neuer Konzessionen eine angemessene Lösung sein könnten. Beide Lösungen sind grundsätzlich geeignet, den rechtswidrigen Ausschluss bestimmter Wirtschaftsteilnehmer, jedenfalls für die Zukunft, zu beheben, indem sie es diesen ermöglichen, ihre Tätigkeit auf dem Markt unter den gleichen Voraussetzungen wie die bestehenden Betreiber auszuüben.
53. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn die von den bestehenden Betreibern erworbenen Geschäftspositionen durch innerstaatliche Rechtsvorschriften geschützt werden. Bereits der Umstand, dass die bestehenden Betreiber einige Jahre früher als die rechtswidrig ausgeschlossenen Wirtschaftsteilnehmer ihre Tätigkeit aufnehmen und sich auf dem Markt mit einer gewissen Bekanntheit und Stammkunden etablieren konnten, verschafft ihnen einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil. Ihnen gegenüber den neuen Konzessionären zusätzliche Wettbewerbsvorteile einzuräumen, hat zur Folge, dass die Wirkungen des rechtswidrigen Ausschlusses dieser neuen Konzessionäre von der Ausschreibung von 1999 aufrechterhalten und verstärkt werden, und stellt damit eine weitere Verletzung der Art. 43 EG und 49 EG sowie des Grundsatzes der Gleichbehandlung dar. Eine solche Maßnahme erschwert auch rechtswidrig von der Ausschreibung von 1999 ausgeschlossenen Wirtschaftsteilnehmern übermäßig die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte, so dass sie nicht dem Effektivitätsgrundsatz genügt.
54. In diesem Kontext ist daran zu erinnern, dass die öffentlichen Stellen, die Konzessionen auf dem Gebiet der Glücksspiele vergeben, die Grundregeln der Verträge, insbesondere die Art. 43 EG und 49 EG, sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz, das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und das daraus folgende Transparenzgebot zu beachten haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juni 2010, Sporting Exchange, C 203/08, Slg. 2010, I 4695, Randnr. 39, sowie vom 9. September 2010, Engelmann, C 64/08, Slg. 2010, I 0000, Randnr. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55. Auch wenn das Transparenzgebot, das gilt, wenn die betreffende Konzession für ein Unternehmen von Interesse sein kann, das in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem diese Konzession erteilt wird, ansässig ist, nicht unbedingt eine Ausschreibung vorschreibt, verpflichtet es doch die konzessionserteilende Stelle, zugunsten der potenziellen Bewerber einen angemessenen Grad an Öffentlichkeit sicherzustellen, der eine Öffnung der Konzessionen für den Wettbewerb und die Nachprüfung ermöglicht, ob die Vergabeverfahren unparteiisch durchgeführt worden sind (Urteile Kommission/Italien, Randnr. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung, Sporting Exchange, Randnrn. 40 und 41, sowie Engelmann, Randnr. 50).
56. Die Vergabe solcher Konzessionen muss daher auf objektiven, nicht diskriminierenden und im Voraus bekannten Kriterien beruhen, damit der Ermessensausübung durch die nationalen Behörden Grenzen gesetzt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Engelmann, Randnr. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
57. Der Grundsatz der Gleichbehandlung verlangt im Übrigen, dass alle potenziellen Bieter die gleichen Chancen haben, und impliziert somit, dass sie denselben Bedingungen unterliegen. Dies gilt umso mehr in einer Situation wie der in den Ausgangsverfahren gegebenen, in der eine Verletzung des Unionsrechts durch den betreffenden öffentlichen Auftraggeber für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer bereits eine Ungleichbehandlung zur Folge hatte.
58. Insbesondere bewirkt die in Art. 38 Abs. 2 und 4 des Dekrets Bersani vorgesehene Maßnahme, nach der neue Konzessionäre verpflichtet sind, mit ihren Einrichtungen einen Mindestabstand zu den bereits vorhandenen Konzessionären einzuhalten, dass die von den bereits etablierten Betreibern erworbenen Geschäftspositionen zum Nachteil der neuen Konzessionäre geschützt sind und sich diese an Orten niederlassen müssen, die geschäftlich weniger interessant sind als die der etablierten Betreiber. Eine solche Maßnahme bedeutet somit eine Diskriminierung der von der Ausschreibung von 1999 ausgeschlossenen Wirtschaftsteilnehmer.
59. Hinsichtlich einer etwaigen Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung können nach ständiger Rechtsprechung wirtschaftliche Gründe wie das Ziel, den Wirtschaftsteilnehmern, die bei der Ausschreibung von 1999 eine Konzession erhielten, Kontinuität, finanzielle Stabilität und angemessene Renditen aus den getätigten Investitionen zu gewährleisten, nicht als zwingende Gründe des Allgemeininteresses, die eine Beschränkung einer vom Vertrag garantierten Grundfreiheit rechtfertigen könnten, anerkannt werden (Urteile Kommission/Italien, Randnr. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 11. März 2010, Attanasio Group, C 384/08, Slg. 2010, I 2055, Randnrn. 53 bis 56).
60. Im Übrigen kann sich die italienische Regierung unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren nicht mit Erfolg auf das angeführte Ziel berufen, durch eine gleichmäßige Verteilung der Annahmestellen für Glücksspiele auf das Staatsgebiet solle zum einen verhindert werden, dass Verbraucher, die in der Nähe dieser Annahmestellen wohnten, einem Überangebot ausgesetzt seien, und zum anderen der Gefahr entgegengetreten werden, dass sich die in schlechter versorgten Orten lebenden Verbraucher auf illegale Spiele einließen.
61. Diese Ziele, die zum einen auf die Verringerung der Gelegenheiten zum Spiel gerichtet sind und zum anderen auf die Bekämpfung der Kriminalität, indem die auf diesem Gebiet tätigen Wirtschaftsteilnehmer einer Kontrolle unterworfen und die Tätigkeiten des Glücksspiels somit in kontrollierte Bahnen gelenkt werden, gehören zwar zu den Zielen, die von der Rechtsprechung als zur Rechtfertigung von Beschränkungen von Grundfreiheiten auf dem Gebiet des Glücksspiels geeignet angesehen werden (Urteil Placanica u. a., Randnrn. 46 und 52).
62. Doch war, was das erste dieser Ziele angeht, wie der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge hervorhebt und der Gerichtshof in Randnr. 54 des Urteils Placanica u. a. festgestellt hat, der italienische Glücksspielsektor lange Zeit durch eine expansive Politik gekennzeichnet, die mit dem Ziel einer Erhöhung der Staatseinnahmen betrieben wurde, so dass vor diesem Hintergrund weder das Ziel einer Beschränkung der Spielleidenschaft der Verbraucher noch das einer Eindämmung des Spielangebots als Rechtfertigung dienen können. Da durch das Dekret Bersani die Zahl der Gelegenheiten zum Spiel gegenüber der in der Rechtssache Placanica u. a. maßgeblichen Zeit noch deutlich erhöht wurde, gilt dieses Ergebnis in der derzeitigen Situation des Sektors erst recht.
63. Sodann ergibt sich, was das zweite der angeführten Ziele angeht, aus einer ständigen Rechtsprechung, dass von den Mitgliedstaaten auferlegte Beschränkungen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen müssen und dass eine nationale Regelung nur dann geeignet ist, die Verwirklichung des geltend gemachten Ziels zu gewährleisten, wenn die eingesetzten Mittel kohärent und systematisch sind (Urteil Placanica u. a., Randnrn. 48 und 53).
64. Wie jedoch der Generalanwalt in Nr. 67 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, gilt die Mindestabstandsregelung ausschließlich für die neuen Konzessionäre und nicht für die bereits etablierten. Somit käme, selbst wenn eine Regelung über Mindestabstände zwischen Annahmestellen als solche gerechtfertigt sein könnte, eine Anwendung solcher Beschränkungen unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren, wo sie nur die neu in den Markt eintretenden Konzessionäre benachteiligen, nicht in Betracht.
65. Jedenfalls ließe sich eine Regelung über Mindestabstände zwischen Annahmestellen nur dann rechtfertigen, wenn – was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts wäre – ihr wirkliches Ziel nicht im Schutz der Geschäftspositionen der bestehenden Betreiber bestünde, sondern vielmehr, wie die italienische Regierung geltend macht, darin, die Nachfrage nach Glücksspielen in kontrollierte Bahnen zu lenken. Das vorlegende Gericht hätte gegebenenfalls auch zu prüfen, ob die Verpflichtung zur Einhaltung von Mindestabständen, die der Einrichtung zusätzlicher Annahmestellen in vom Publikum stark frequentierten Zonen entgegensteht, zur Erreichung des angegebenen Ziels wirklich geeignet ist und tatsächlich zur Folge hat, dass sich die neuen Betreiber an weniger frequentierten Orten niederlassen und damit das nationale Hoheitsgebiet abdecken.
66. Somit ist auf den ersten Teil der Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 43 EG und 49 EG sowie die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Effektivität dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat, der unionsrechtswidrig eine Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern von der Vergabe von Konzessionen für die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ausgeschlossen hat und diesen Verstoß durch Ausschreibung einer großen Zahl von neuen Konzessionen beheben will, verbieten, die von den bestehenden Betreibern erworbenen Geschäftspositionen u. a. durch das Vorschreiben von Mindestabständen zwischen den Einrichtungen der neuen Konzessionäre und denen der bestehenden Betreiber zu schützen.
Zu den neuen Beschränkungen, die mit Erlass des Dekrets Bersani eingeführt wurden
67. Mit dem zweiten Teil seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 43 EG und 49 EG dahin auszulegen sind, dass sie einem innerstaatlichen rechtlichen Rahmen wie dem in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, der den Entzug der Konzession für die Tätigkeiten des Sammelns und der Verwaltung von Wetten sowie den Verfall der für die Erlangung einer solchen Konzession gestellten finanziellen Sicherheit vorsieht, wenn
– gegen den Konzessionär, seinen gesetzlichen Vertreter oder Mitglieder seiner Geschäftsleitung wegen eines Straftatbestands, „der geeignet ist, die vom Vertrauen getragenen Beziehungen mit der AAMS zu zerrütten“, ein Strafverfahren eingeleitet wird (Art. 23 Abs. 2 Buchst. a des Mustervertrags);
– der Konzessionär im Inland oder über Server, die sich im Ausland befinden, Glücksspiele anbietet, die mit von der AAMS verwalteten Glücksspielen oder nach innerstaatlichem Recht verbotenen Glücksspielen vergleichbar sind (Art. 23 Abs. 3 des Mustervertrags).
68. Wie den beim Gerichtshof eingereichten Unterlagen zu entnehmen ist, stellen diese Tatbestände, obwohl Art. 23 des Mustervertrags für sie förmlich den Entzug der Konzession vorsieht, in der Praxis auch Voraussetzungen für den Zugang zu einer Konzession dar, da einem Wirtschaftsteilnehmer, der sie im Zeitpunkt der Konzessionsvergabe nicht erfüllt, die Konzession sofort wieder entzogen würde. Da im Hinblick auf ihre Arbeitsweise eigentlich Stanley verpflichtet ist, eine Konzession einzuholen, woraufhin DÜZ wie die von Herrn Costa und Herrn Cifone ihren Tätigkeiten nachgehen dürften, werden durch jegliches Hindernis für die Vergabe einer Konzession an Stanley automatisch auch deren Tätigkeiten beschränkt.
Vorbemerkungen
69. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Art. 43 EG und 49 EG die Aufhebung jeder Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs verlangen – selbst wenn diese Beschränkung unterschiedslos für inländische Dienstleistende wie für solche aus den anderen Mitgliedstaaten gilt –, sofern sie geeignet ist, die Tätigkeiten des Dienstleistenden, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, in dem er rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (Urteil Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, Randnr. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).
70. Es steht fest, dass eine nationale Rechtsvorschrift wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit vom Erhalt einer Konzession abhängig macht und mehrere Tatbestände des Konzessionsentzugs vorsieht, eine Beschränkung der durch die Art. 43 EG und 49 EG garantierten Freiheiten darstellt.
71. Solche Beschränkungen können jedoch aufgrund der in den Art. 45 EG und 46 EG ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen zugelassen werden oder durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sofern sie den Anforderungen der Rechtsprechung des Gerichtshofs hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit entsprechen. Die Rechtsprechung hat insoweit eine Reihe von zwingenden Gründen des Allgemeininteresses anerkannt, wie die Ziele des Verbraucherschutzes, der Betrugsvorbeugung, der Vermeidung von Anreizen für die Bürger zu überhöhten Ausgaben für das Spielen und der Verhütung von Störungen der sozialen Ordnung im Allgemeinen (Urteil Placanica u. a., Randnrn. 45, 46 und 48).
72. Im Übrigen ergibt sich aus den in Randnr. 54 des vorliegenden Urteils angeführten Bestimmungen und Grundsätzen, dass die konzessionserteilende Stelle bei der Vergabe von Konzessionen wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden an ein Transparenzgebot gebunden ist, das u. a. dazu verpflichtet, zugunsten der potenziellen Bewerber einen angemessenen Grad an Öffentlichkeit sicherzustellen, der eine Öffnung der Konzessionen für den Wettbewerb und die Nachprüfung ermöglicht, ob die Vergabeverfahren unparteiisch durchgeführt worden sind (Urteile Kommission/Italien, Randnr. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung, Sporting Exchange, Randnrn. 40 und 41, sowie Engelmann, Randnr. 50).
73. Der Grundsatz der Transparenz, der mit dem Gleichheitssatz einhergeht, soll in diesem Zusammenhang im Wesentlichen gewährleisten, dass alle interessierten Wirtschaftsteilnehmer auf der Grundlage sämtlicher einschlägiger Informationen an Ausschreibungen teilnehmen können, und die Gefahr von Günstlingswirtschaft oder von willkürlichen Entscheidungen der Vergabestelle ausschließen. Er verlangt, dass alle Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens klar, genau und eindeutig formuliert sind, so dass zum einen alle durchschnittlich fachkundigen Bieter bei Anwendung der üblichen Sorgfalt die genaue Bedeutung dieser Informationen verstehen und sie in gleicher Weise auslegen können und zum anderen dem Ermessen der konzessionserteilenden Stelle Grenzen gesetzt werden und diese tatsächlich überprüfen kann, ob die Gebote der Bieter die für das Verfahren geltenden Kriterien erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. April 2004, Kommission/CAS Succhi di Frutta, C 496/99 P, Slg. 2004, I 3801, Randnr. 111, sowie vom 13. Dezember 2007, United Pan-Europe Communications Belgium u. a., C 250/06, Slg. 2007, I 11135, Randnrn. 45 und 46).
74. Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet im Übrigen, dass Rechtsvorschriften vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können, klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen voraussehbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2005, VEMW u. a., C 17/03, Slg. 2005, I 4983, Randnr. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung).
75. Im Licht dieser Erwägungen ist der zweite Teil der Vorlagefrage zu prüfen.
Zum Entzug der Konzession wegen Einleitung eines Strafverfahrens
76. Wie der Generalanwalt in Nr. 93 seiner Schlussanträge hervorhebt, kann der Ausschluss von Wirtschaftsteilnehmern, deren Betreiber strafrechtlich verurteilt worden sind, grundsätzlich als zur Bekämpfung der Kriminalität gerechtfertigte Maßnahme angesehen werden. Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass Glücksspiele in Anbetracht der Höhe der Beträge, die mit ihnen eingenommen werden können, und der Gewinne, die sie den Spielern bieten können, eine erhöhte Gefahr von Betrug und anderen Straftaten bergen (Urteil Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, Randnr. 63).
77. Der Entzug der Konzession stellt jedoch für den Konzessionär eine besonders schwerwiegende Maßnahme dar, erst recht unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren, wo er nach Art. 23 Abs. 6 des Mustervertrags automatisch den Verfall einer beträchtlichen finanziellen Sicherheit und eventuell Verpflichtungen zum Ersatz von der AAMS entstandenen Schäden nach sich zieht.
78. Damit ein potenzieller Bieter das Risiko, dass ihn solche Sanktionen treffen, sicher abschätzen kann, sowie um die Gefahr von Günstlingswirtschaft oder von willkürlichen Entscheidungen der Vergabestelle auszuschließen und um schließlich die Einhaltung des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu gewährleisten, muss daher klar, genau und eindeutig bestimmt sein, unter welchen Umständen diese Sanktionen zur Anwendung kommen.
79. Die Bezugnahme in Art. 23 Abs. 2 Buchst. a des Mustervertrags auf die „im Gesetz Nr. 55 vom 19. März 1990 genannten Straftatbestände“, die Mafia-Delikte und andere eine schwere Gefahr für die Gesellschaft darstellende Formen der Kriminalität betreffen, scheint – vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – diesem Erfordernis zu genügen. Dagegen scheint dies – wiederum vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – nicht der Fall zu sein, soweit in der genannten Bestimmung auf „sonstige Straftatbestände, die geeignet sind, die vom Vertrauen getragenen Beziehungen mit der AAMS zu zerrütten“, Bezug genommen wird. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob ein durchschnittlich fachkundiger Bieter bei Anwendung der üblichen Sorgfalt die genaue Bedeutung dieser Bezugnahme hätte verstehen können.
80. Es wird dabei insbesondere zum einen die Tatsache, dass die potenziellen Bieter für die Prüfung der Ausschreibungsunterlagen über eine Frist von weniger als zwei Monaten verfügten, und zum anderen das Verhalten der AAMS auf die Ersuchen um Klarstellung, die Stanley an sie gerichtet hatte, zu berücksichtigen haben.
81. Jedenfalls dürfen nach ständiger Rechtsprechung die durch innerstaatliche Rechtsvorschriften auferlegten Beschränkungen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des mit ihnen verfolgten Ziels erforderlich ist (Urteil Gambelli u. a., Randnr. 72). Somit kann es zwar unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein, gegen einen Betreiber von Glücksspielen, der aufgrund beweiskräftiger Indizien unter Verdacht steht, in kriminelle Aktivitäten verwickelt zu sein, Vorkehrungen zu treffen, doch kann ein Ausschluss vom Markt durch Entzug der Konzession nur dann als dem Ziel der Bekämpfung der Kriminalität angemessen betrachtet werden, wenn er auf einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer hinreichend schweren Straftat beruht. Eine Rechtsvorschrift, die einen Ausschluss von Wirtschaftsteilnehmern – sei es auch nur vorübergehend – vom Markt zulässt, könnte nur dann als angemessen betrachtet werden, wenn ein wirksames gerichtliches Verfahren und, falls sich der Ausschluss später als ungerechtfertigt erweisen sollte, Ersatz für den entstandenen Schaden vorgesehen sind.
82. Im Übrigen war anscheinend – vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – der Tatbestand des Entzugs nach Art. 23 Abs. 2 Buchst. a des Mustervertrags für Wirtschaftsteilnehmer wie Stanley, gegen deren Vertreter seinerzeit Strafverfahren anhängig waren – die vor Verkündung des Urteils Placanica u. a. eingeleitet worden waren und später mit Freisprüchen endeten –, in der Praxis ein Hindernis, an den Ausschreibungen von 2006 teilzunehmen.
83. In diesem Kontext ist daran zu erinnern, dass die Italienische Republik, wie aus dem Urteil Placanica u. a. hervorgeht, keine strafrechtlichen Sanktionen wegen Sammelns von Wetten ohne Konzession oder polizeiliche Genehmigung gegen Personen verhängen kann, die an einen Wirtschaftsteilnehmer gebunden sind, der von den maßgeblichen Ausschreibungen unionsrechtswidrig ausgeschlossen worden war (Urteil Placanica u. a., Randnr. 70). Dieses Urteil wurde am 6. März 2007 verkündet, d. h. vier Monate, nachdem am 20. Oktober 2006 die Angebotsfrist der Ausschreibung nach dem Dekret Bersani abgelaufen war.
84. Folglich ist im Fall eines Wirtschaftsteilnehmers wie Stanley davon auszugehen, dass sein Ausschluss von der früheren im Urteil Placanica u. a. beanstandeten Ausschreibung durch die neue im Dekret Bersani vorgesehene Ausschreibung nicht wirksam behoben wurde, da gegen ihn oder seine Vertreter oder Mitglieder seiner Geschäftsleitung im Zeitpunkt dieser neuen Ausschreibung Strafverfahren – die, wie sich später insbesondere im Licht des Urteils Placanica u. a. herausstellte, einer rechtlichen Grundlage entbehrten – anhängig waren, die seine Teilnahme an dieser Ausschreibung in der Praxis ausschlossen, weil ihm seine Konzession wegen dieser Strafverfahren sofort wieder entzogen worden wäre.
85. Somit können auch nach der neuen im Dekret Bersani vorgesehenen Ausschreibung aus den gleichen Gründen wie den im Urteil Placanica u. a. genannten keine Sanktionen wegen Sammelns von Wetten ohne Konzession oder polizeiliche Genehmigung gegen Personen verhängt werden, die wie Herr Costa und Herr Cifone an einen Wirtschaftsteilnehmer wie Stanley gebunden sind, der von früheren Ausschreibungen unionsrechtswidrig ausgeschlossen worden war.
86. Die Antwort, die angesichts der vorstehenden Erwägungen auf diesen Teil der Frage zu geben ist, macht die Prüfung entbehrlich, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die beanstandete Bestimmung, wie Herr Costa und Herr Cifone vortragen, gegen die Unschuldsvermutung verstößt, die Teil der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und in Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt ist.
Zum Entzug der Konzession wegen des Angebots von Glücksspielen über Server, die sich außerhalb des Staatsgebiets befinden
87. Sowohl der in den Randnrn. 21 bis 26 des vorliegenden Urteils zusammengefasste Schriftwechsel zwischen Stanley und der AAMS als auch der Umstand, dass der Generalanwalt Anlass gesehen hat, in den Nrn. 72 bis 89 seiner Schlussanträge zwei Lösungsalternativen vorzutragen, denen völlig unterschiedliche Auslegungen von Art. 23 Abs. 3 des Mustervertrags zugrunde liegen, machen deutlich, dass es dieser Bestimmung an Klarheit fehlt.
88. Es ist nämlich unklar, welchen Zweck und welche Wirkung diese Bestimmung hat. Sie könnten darin bestehen, zu verhindern, dass ein Konzessionär im italienischen Staatsgebiet andere Glücksspiele anbietet als die, für die er eine Konzession besitzt, oder darin, jede grenzüberschreitende Tätigkeit im Glücksspielsektor zu verhindern, insbesondere eine Tätigkeit entsprechend einer auf DÜZ gestützten Arbeitsweise wie der von Stanley.
89. Zwar obliegt die Auslegung nationaler Vorschriften im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Systems der Zusammenarbeit den nationalen Gerichten und nicht dem Gerichtshof (Urteil Placanica u. a., Randnr. 36). Wie aus der in den Randnrn. 72 bis 74 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hervorgeht, verlangt das Unionsrecht jedoch, dass die Bedingungen und Modalitäten eines Vergabeverfahrens wie des in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden klar, genau und eindeutig formuliert sind. Dies ist bei Art. 23 Abs. 3 des Mustervertrags selbst im Licht der von der AAMS auf Anfrage von Stanley gelieferten zusätzlichen Erläuterungen nicht der Fall.
90. Einem Wirtschaftsteilnehmer wie Stanley kann nicht vorgeworfen werden, auf eine Bewerbung um eine Konzession angesichts fehlender Rechtssicherheit verzichtet zu haben, solange hinsichtlich der Vereinbarkeit seiner Arbeitsweise mit den Bestimmungen des bei der Vergabe der Konzession zu unterzeichnenden Vertrags Unklarheit bestand. Soweit ein solcher Wirtschaftsteilnehmer von der im Urteil Placanica u. a. beanstandeten vorherigen Ausschreibung unionsrechtswidrig ausgeschlossen war, ist davon auszugehen, dass dieser Ausschluss durch die neue Ausschreibung nicht wirksam behoben wurde.
91. Nach alledem ist auf den zweiten Teil der Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 43 EG und 49 EG dahin auszulegen sind, dass sie Sanktionen wegen Sammelns von Wetten ohne Konzession oder polizeiliche Genehmigung gegen Personen, die an einen Wirtschaftsteilnehmer gebunden sind, der von einer Ausschreibung unionsrechtswidrig ausgeschlossen worden war, auch nach der Neuausschreibung zur Behebung dieses Unionsrechtsverstoßes entgegenstehen, soweit diese Ausschreibung und die daraus folgende Vergabe neuer Konzessionen den rechtswidrigen Ausschluss des Wirtschaftsteilnehmers von der früheren Ausschreibung nicht wirksam behoben haben.
92. Aus den Art. 43 EG und 49 EG, dem Grundsatz der Gleichbehandlung, dem Transparenzgebot und dem Grundsatz der Rechtssicherheit folgt, dass die Bedingungen und Modalitäten eines Vergabeverfahrens wie des in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden und insbesondere Bestimmungen, die wie Art. 23 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 3 des Mustervertrags den Entzug von nach einer solchen Ausschreibung vergebenen Konzessionen vorsehen, klar, genau und eindeutig formuliert sein müssen; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.
Kosten
93. Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil des bei d em vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Tenor
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Art. 43 EG und 49 EG sowie die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Effektivität sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat, der unionsrechtswidrig eine Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern von der Vergabe von Konzessionen für die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ausgeschlossen hat und diesen Verstoß durch Ausschreibung einer großen Zahl von neuen Konzessionen beheben will, verbieten, die von den bestehenden Betreibern erworbenen Geschäftspositionen u. a. durch das Vorschreiben von Mindestabständen zwischen den Einrichtungen der neuen Konzessionäre und denen der bestehenden Betreiber zu schützen.
2. Die Art. 43 EG und 49 EG sind dahin auszulegen, dass sie Sanktionen wegen Sammelns von Wetten ohne Konzession oder polizeiliche Genehmigung gegen Personen, die an einen Wirtschaftsteilnehmer gebunden sind, der von einer Ausschreibung unionsrechtswidrig ausgeschlossen worden war, auch nach der Neuausschreibung zur Behebung dieses Unionsrechtsverstoßes entgegenstehen, soweit diese Ausschreibung und die daraus folgende Vergabe neuer Konzessionen den rechtswidrigen Ausschluss des Wirtschaftsteilnehmers von der früheren Ausschreibung nicht wirksam behoben haben.
3. Aus den Art. 43 EG und 49 EG, dem Grundsatz der Gleichbehandlung, dem Transparenzgebot und dem Grundsatz der Rechtssicherheit folgt, dass die Bedingungen und Modalitäten eines Vergabeverfahrens wie des in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden und insbesondere Bestimmungen, die wie Art. 23 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 3 des Mustervertrags zwischen der Amministrazione Autonoma dei Monopoli di Stato und dem Zuschlagsempfänger über die Konzession betreffend Glücksspiele in Bezug auf andere Ereignisse als Pferderennen den Entzug von nach einer solchen Ausschreibung vergebenen Konzessionen vorsehen, klar, genau und eindeutig formuliert sein müssen; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.
Quelle
Vorabentscheidungsersuchen der Corte Suprema di Cassazione (Italien), eingereicht am 9. Februar 2010 - Strafverfahren gegen Marcello Costa
(Rechtssache C-72/10)
Verfahrenssprache: Italienisch
Vorlegendes Gericht
Corte Suprema di Cassazione
Beteiligter des Ausgangsverfahrens
Marcello Costa
Vorlagefrage
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird ersucht, sich zur Auslegung der Art. 43 und 49 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Union in Bezug auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im Bereich der Sportwetten zu äußern, um festzustellen, ob die angeführten Bestimmungen des Vertrags eine nationale Regelung zulassen, die eine Monopolstellung zugunsten des Staates und ein System von Konzessionen und Erlaubnissen festlegt, und für eine bestimmte Anzahl von Konzessionsnehmern folgendes vorsieht: a) eine allgemeine Ausrichtung des Schutzes für die Inhaber von Konzessionen, die früher aufgrund eines Verfahrens erteilt wurden, das rechtswidrig einen Teil der Wirtschaftsteilnehmer ausschloss; b) die Geltung von Vorschriften, die praktisch die Aufrechterhaltung von Geschäftspositionen sicherstellen, die aufgrund eines Verfahrens erworben wurden, das rechtswidrig einen Teil der Wirtschaftsteilnehmer ausschloss (wie etwa das Verbot für neue Konzessionsnehmer, ihre Schalter näher als in der festgelegten Entfernung von einem bereits bestehenden Schalter zu eröffnen); c) die Festlegung von Tatbeständen des Konzessionsentzugs oder des Verfalls von Sicherheitsleistungen in erheblicher Höhe, darunter den Fall, dass der Konzessionsnehmer unmittelbar oder mittelbar grenzüberschreitenden Wetttätigkeiten nachgeht, die mit den konzessionierten vergleichbar sind. Quelle
Vorabentscheidungsersuchen der Corte Suprema di Cassazione (Italien), eingereicht am 9. Februar 2010 - Ugo Cifone
(Rechtssache C-77/10)
Verfahrenssprache: Italienisch
Vorlegendes Gericht
Corte Suprema di Cassazione
Beteiligter des Ausgangsverfahrens
Ugo Cifone
Vorlagefrage
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird ersucht, sich zur Auslegung der Art. 43 und 49 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Union in Bezug auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im Bereich der Sportwetten zu äußern, um festzustellen, ob die angeführten Bestimmungen des Vertrags eine nationale Regelung zulassen, die eine Monopolstellung zugunsten des Staates und ein System von Konzessionen und Erlaubnissen festlegt, und für eine bestimmte Anzahl von Konzessionsnehmern folgendes vorsieht: a) eine allgemeine Ausrichtung des Schutzes für die Inhaber von Konzessionen, die früher aufgrund eines Verfahrens erteilt wurden, das rechtswidrig einen Teil der Wirtschaftsteilnehmer ausschloss; b) die Geltung von Vorschriften, die praktisch die Aufrechterhaltung von Geschäftspositionen sicherstellen, die aufgrund eines Verfahrens erworben wurden, das rechtswidrig einen Teil der Wirtschaftsteilnehmer ausschloss (wie etwa das Verbot für neue Konzessionsnehmer, ihre Schalter näher als in der festgelegten Entfernung von einem bereits bestehenden Schalter zu eröffnen); c) die Festlegung von Tatbeständen des Konzessionsentzugs oder des Verfalls von Sicherheitsleistungen in erheblicher Höhe, darunter den Fall, dass der Konzessionsnehmer unmittelbar oder mittelbar grenzüberschreitenden Wetttätigkeiten nachgeht, die mit den konzessionierten vergleichbar sind. Quelle
WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS: Für die Angaben auf der Website des EuGH besteht Haftungsausschluss und Urheberrechtsschutz.
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
PEDRO CRUZ VILLALÓN
vom 27. Oktober 2011(1)
Rechtssache C‑72/10
Strafsache
gegen
Marcello Costa
(Vorabentscheidungsersuchen der Corte Suprema di Cassazione [Italien])
Rechtssache C‑77/10
Strafsache
gegen
Ugo Cifone
(Vorabentscheidungsersuchen der Corte Suprema di Cassazione [Italien])
„Freier Dienstleistungsverkehr –
Niederlassungsfreiheit – Annahme von Sportwetten – Erfordernis einer
Konzession und einer polizeilichen Genehmigung – Politik der
‚kontrollierten Expansion‘ im Glücksspielsektor – Bekämpfung des
illegalen Glücksspiels – Mindestabstände zwischen Annahmestellen –
Entzug der Konzession wegen grenzüberschreitender Tätigkeit – Entzug der
Konzession wegen Ergreifens von Vorbeugemaßnahmen bzw. Einleitung eines
Strafverfahrens“
I – Einleitung
1. Die
Entwicklung der italienischen Glücksspielgesetzgebung ist von einer
Reihe von Entscheidungen des Gerichtshofs gekennzeichnet,
die den Ausgangspunkt für die Prüfung der nunmehr von der Corte
Suprema di Cassazione vorgelegten Vorlagefrage darstellen.
2. Die Urteile vom 21. Oktober 1999, Zenatti(2), vom 6. November 2003, Gambelli u. a.(3), und vom 6. März 2007, Placanica u. a.(4),
befassten sich nacheinander mit dem Problem einer nationalen Regelung,
durch die ein System von beschränkten Konzessionen
und polizeilichen Genehmigungen für die Erbringung von
Glücksspielleistungen geschaffen und Kapitalgesellschaften von ihrer
Vergabe ausgeschlossen wurden. Im Urteil Placanica nahm der
Gerichtshof besonders deutlich zur Art der vom italienischen Gesetzgeber
verfolgten Ziele Stellung und ließ den nationalen Gerichten
dadurch wenig Spielraum für die Feststellung, ob die zitierte
italienische Regelung mit dem Recht der Union vereinbar ist.
Eine solch detaillierte Antwort wurde aufgrund der umfangreichen
Divergenzen erforderlich, zu denen das Urteil Gambelli unter
den italienischen Gerichten geführt hatte(5).
Trotz der Eindeutigkeit des Urteils Placanica scheinen zwischen den
italienischen Gerichten weiterhin bedeutende Meinungsverschiedenheiten
im Hinblick auf die Vereinbarkeit der neuen italienischen
Regelung, die infolge dieses Urteils erging, mit dem Recht der Union
zu bestehen. Einige machen auf einer Linie mit dem Vorbringen
der Herren Costa und Cifone in dieser Rechtssache geltend, dass
durch die neue Regelung die praktische Wirksamkeit des Urteils
Placanica aufgehoben worden sei, da neue Diskriminierungen
eingeführt worden seien. Andere vertreten auf einer Linie mit
der Italienischen Republik die Auffassung, dass die eingeführten
Beschränkungen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses
gerechtfertigt seien.
3. Die
vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof erneut Gelegenheit, seine
bereits umfangreiche Rechtsprechung auf dem Gebiet
des Glücksspiels in einem teilweise bekannten Kontext, dem
italienischen Glücksspielsektor, klarzustellen. Das Urteil Placanica
stellt hierbei ein unverzichtbares Instrument dar, denn in ihm
finden bereits die Besonderheiten dieses Kontexts Berücksichtigung:
insbesondere die klare Entscheidung des italienischen
Gesetzgebers zugunsten einer Politik auf dem Glücksspielsektor, die
entschieden expansiv ist, so sehr sie auch als „kontrollierte
Expansion“ dargestellt wird. Dieser Umstand bedingt meiner Ansicht
nach die Prüfung der vorliegenden Rechtssache, ohne dass
dadurch eine bereits gefestigte Rechtsprechung in Frage gestellt
wird, die den Mitgliedstaaten einen weiten Handlungsspielraum
im Glücksspielsektor einräumt.
II – Rechtlicher Rahmen: die italienische Regelung
A – Verwaltungsrechtliche Regelung: Konzessions- und Genehmigungssystem
4. Nach der
italienischen Regelung dürfen die Tätigkeiten der Annahme und der
Bearbeitung von Wetten nur von Personen ausgeübt
werden, die nach Abschluss einer öffentlichen Ausschreibung
eine Konzession und ferner eine polizeiliche Genehmigung erhalten
haben.
1. Das Konzessionssystem
5. Im Juli
2006 wurde durch das „Bersani-Dekret“ (Decreto legge Nr. 223 vom 4. Juli
2006, umgewandelt in das Gesetz Nr. 248 vom
4. August 2006)(6) der italienische Glücksspielsektor reformiert, um ihn weiter an das Gemeinschaftsrecht anzupassen und auf diese Weise das
Ergebnis des Urteils Placanica vorwegzunehmen.
6. Art. 38
(„Maßnahmen gegen illegales Spielen“) sieht in Abs. 1 vor, dass bis zum
31. Dezember 2006 eine Reihe von Vorschriften
erlassen werden soll, „um der Ausbreitung des regelwidrigen und
illegalen Spielens sowie der Steuerumgehung und -hinterziehung
im Bereich des Spiels entgegenzuwirken und den Schutz des
Spielers sicherzustellen“.
7. In Abs. 2(7)
werden „die neuen Modalitäten des Vertriebs von Spielen bei anderen
Ereignissen als Pferderennen“ geregelt, unter denen Folgende
hervorzuheben sind:
– Es werden nicht weniger als
7 000 neue Annahmestellen eingerichtet (Art. 287 Buchst. d), deren
Höchstzahl je Gemeinde festgelegt
wird (Buchst. e);
– die neuen Annahmestellen müssen Mindestabstände zu den bereits bestehenden einhalten (Buchst. f und g);
– schließlich legt die Vorschrift
„die Modalitäten des Schutzes der Konzessionsnehmer für die Annahme von
Wetten zu festen Sätzen
auf andere Ereignisse als Pferderennen, die durch [Verordnung
nach dem] Dekret des Ministers für Wirtschaft und Finanzen Nr.
111 vom 1. März 2006 geregelt werden“ (Art. 287 Buchst. l),
fest.
a) Die polizeilichen Genehmigungen
9. Dieses
Konzessionssystem ist an einen Mechanismus polizeilicher Genehmigungen
gebunden, der im Regio Decreto Nr. 733 vom 18.
Juni 1931(9) geregelt ist. Danach wird die Genehmigung für die Annahme oder die Bewirtschaftung von Wetten ausschließlich Personen erteilt,
die Inhaber von Konzessionen sind oder vom Inhaber der Konzession beauftragt sind.
B – Strafrecht
10. Die
Organisation von Spielen, auch auf elektronischem Weg oder über Telefon,
ist in Italien eine Straftat, die mit Freiheitsstrafe
von bis zu drei Jahren geahndet werden kann (Art. 4 des
Gesetzes Nr. 401 vom 13. Dezember 1989)(10).
III – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
A – Die Gesellschaft Stanley International Betting Ltd und ihre Situation in Italien nach Inkrafttreten des Bersani-Dekrets und
den Ausschreibungen von 2006
11. Stanley
International Betting Ltd (im Folgenden: Stanley) ist eine englische
Gesellschaft, die aufgrund einer von den Behörden
in Liverpool erteilten Konzession die Genehmigung besitzt, als
Buchmacher tätig zu sein.
12. Stanley
betreibt in Italien mehr als 200 Agenturen, die allgemein als
„Datenübertragungszentren“ (im Folgenden: DÜZ) bezeichnet
werden. Letztere bieten ihre Dienste in öffentlich zugänglichen
Räumlichkeiten an, in denen sie den Wettern
Datenübertragungsmöglichkeiten
zur Verfügung stellen, mit denen sie auf den Server von Stanley
im Vereinigten Königreich zugreifen können. Die Wetter können
Stanley so elektronisch Vorschläge für Sportwetten übermitteln,
die sie aus Veranstaltungs- und Bewertungsprogrammen des Unternehmens
ausgewählt haben, und die Annahme dieser Vorschläge
entgegennehmen, ihre Einsätze zahlen und gegebenenfalls ihre Gewinne
vereinnahmen.
13. Die DÜZ
werden von unabhängigen Betreibern unterhalten, die vertraglich mit
Stanley verbunden sind. Die Herren Costa und Cifone
sind Betreiber von DÜZ Stanleys in Italien.
14. 1999
führten die italienischen Behörden ein Verfahren zur Vergabe von 1 000
Konzessionen für den Vertrieb von Sportwetten
mit einer Gültigkeitsdauer von sechs Jahren, die um weitere
sechs Jahre verlängerbar waren, durch. Nach den damals geltenden
Vorschriften über die Transparenz der Eigentumsstruktur der
Konzessionäre waren Angebote von Bietern, die wie Stanley auf
reglementierten Märkten notierte Gesellschaften waren,
ausgeschlossen.
15. Nachdem der
Gerichtshof in den Urteilen Zenatti und Gambelli die Rechtswidrigkeit
dieser Bestimmungen festgestellt hatte,
gestattete der italienische Gesetzgeber allen
Kapitalgesellschaften ohne Rücksicht auf ihre Struktur, an den
Ausschreibungsverfahren
für die Vergabe von Konzessionen teilzunehmen (Art. 22 Abs. 11
des Gesetzes Nr. 289 vom 27. Dezember 2002)(11),
und hob die Regelung auf, die Inhabern von Konzessionen nicht
gestattete, durch zu diesem Zweck bevollmächtigte Personen
tätig zu werden (Art. 14b des Decreto legge Nr. 35 vom 14. März
2005, umgewandelt in das Gesetz Nr. 80 vom 14. Mai 2005)(12).
16. Diesen
Änderungen folgte die Reform durch das Bersani-Dekret, auf dessen
Grundlage die Amministrazione Autonoma dei Monopoli
di Stato (Autonome Staatsmonopolverwaltung, im Folgenden: AAMS)
zwei Ausschreibungsverfahren für die Vergabe von mehr als
16 000 Konzessionen für den Vertrieb von Sportwetten
einschließlich Pferdewetten veröffentlichte. Die Verfahren endeten im
Dezember 2006 mit der Vergabe von 14 000 neuen Konzessionen an
verschiedene nationale und ausländische Wirtschaftsteilnehmer.
17. Stanley
teilte den italienischen Behörden ihr Interesse an der Teilnahme an den
neuen Ausschreibungen im Jahr 2006 mit und
bat die AAMS um eine Reihe von Erläuterungen zu den
Ausschreibungsbedingungen. Stanley bat insbesondere um Klarstellungen
zu Art. 23 des Schemas für einen Vertrag zwischen der AAMS und
den künftigen Konzessionsnehmern, der u. a. folgende Voraussetzungen
für einen Konzessionsentzug vorsah:
– „wenn gegen den
Konzessionsnehmer, seinen gesetzlichen Vertreter oder seine
Verwaltungsratsmitglieder Vorbeugemaßnahmen ergriffen
oder der zuständige Richter um Entscheidung in der Sache
ersucht wird, ob einer der im Gesetz Nr. 55 vom 19. Mai 1990 geregelten
Straftatbestände erfüllt ist, sowie in den übrigen Fällen von
Straftaten, die geeignet sind, die vom Vertrauen getragenen
Beziehungen mit der AAMS zu zerrütten, oder bei schwerwiegenden
oder wiederholten Verstößen gegen die geltenden Bestimmungen
zur Regelung öffentlicher Glücksspiele, einschließlich der
Verstöße gegen die geltenden Bestimmungen durch Dritte, die der
Konzessionsnehmer mit Nebenleistungen zur Annahme von
Online-Sportwetten beauftragt hat“ (Abs. 2);
– und „wenn der Konzessionsnehmer
selbst oder durch eine mit ihm verbundene Gesellschaft – ungeachtet der
Natur dieser Verbindung
– auf italienischem Gebiet oder über Server, die sich außerhalb
des Staatsgebiets befinden, Glücksspiele anbietet, die mit
öffentlichen Glücksspielen oder anderen von der AAMS
verwalteten Glücksspielen oder in Italien verbotenen Glücksspielen
vergleichbar
sind“ (Abs. 3).
18. Nach Art.
23 Abs. 6 des Vertragsschemas (durch das die Konzession vertraglich
geregelt werden soll) führt der Widerruf oder
der Entzug der Konzession zum Verfall der vom Konzessionsnehmer
zugunsten der AAMS geleisteten Sicherheit, „unbeschadet eines
darüber hinausgehenden Schadensersatzanspruchs“.
19. Angesichts der Erläuterungen der AAMS nahm Stanley von einer Teilnahme an der Ausschreibung Abstand.
Die Herren Costa und Cifone beantragten dennoch die entsprechende
polizeiliche Genehmigung für ihre Tätigkeit als Wettvermittler.
20. Am 27.
November 2006 legte Stanley beim Tribunale amministrativo regionale del
Lazio gegen verschiedene Rechtshandlungen im
Rahmen des Ausschreibungsverfahrens ein Rechtsmittel ein, über
das noch nicht entschieden wurde(13).
B – Rechtssache C‑72/10, Costa
21. Am 20.
Oktober 2008 beantragte die Staatsanwaltschaft beim Tribunale di Roma,
Herrn Costa wegen „eines Vergehens nach Art.
4 Abs. 4a und Art. 1 Unterabs. 1 des Gesetzes Nr. 401/89“ zu
verurteilen, da er rechtswidrig, ohne im Besitz der gesetzlich
erforderlichen Konzession und der polizeilichen Genehmigung zu
sein, einer organisierten Tätigkeit zum Zweck der Annahme oder
des Sammelns von Sportwetten auf Rechnung einer ausländischen
Gesellschaft durch elektronische Übertragung von Daten an diese
nachgegangen sei und auf diese Weise für diese Gesellschaft die
Rolle eines Vermittlers wahrgenommen habe, die Wetten annehme,
ohne die erforderliche Konzession zu besitzen.
22. Der Giudice
delle indagini preliminari (Ermittlungsrichter) beim Tribunale di Roma
hat in seiner Entscheidung vom 27. Januar
2007 die Auffassung vertreten, er müsse die innerstaatliche
Regelung unangewendet lassen, weil die Corte Suprema di Cassazione
unter Anwendung der vom Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften festgelegten Grundsätze entschieden habe, dass die
einschlägigen
italienischen Rechtsvorschriften gegen die Grundsätze des
EG-Vertrags verstießen. Folglich sei gegen Herrn Costa nicht weiter
zu ermitteln, „weil der Tatbestand nicht mehr als Vergehen
anzusehen ist“.
23. Die
Staatsanwaltschaft hat gegen diese Entscheidung Kassationsbeschwerde bei
der Corte Suprema di Cassazione eingelegt. Einerseits
sei die neue nationale Regelung nach dem Bersani-Dekret mit dem
Unionsrecht vereinbar, und andererseits habe Stanley an den
anhand dieses neuen Rechtsrahmens durchgeführten
Ausschreibungen nicht teilgenommen. Angesichts des Fehlens einer die
Konzession
für Stanley ablehnenden, verwaltungsgerichtlich anfechtbaren
Entscheidung der italienischen Behörden sei Herr Costa nicht
berechtigt, angebliche Verstöße der italienischen
Glücksspielbehörden zu rügen und die Nichtanwendung der Regelung zu
fordern,
deren Anwendung er sich aus freien Stücken entzogen habe.
C – Rechtssache C‑77/10, Cifone
24. Am 26. Mai
2009 erließ der Giudice delle indagini preliminari del Tribunale di
Trani auf Antrag der Staatsanwaltschaft gegen
Herrn Cifone einen Beschluss, mit dem er wegen eines Verstoßes
gegen Art. 4 Abs. 4a und 4b des Gesetzes Nr. 401/89 und gegen
die Art. 106 und 132 Abs. 1 des Decreto legge Nr. 385 von 1983
die vorläufige Beschlagnahme seines Geschäftslokals und seiner
Computer anordnete.
25. Herr Cifone
focht diesen Beschluss beim Tribunale del Riesame di Bari an, das mit
Beschluss vom 10. Juli 2008 die Beschlagnahme
nur wegen des in Art. 4 des Gesetzes Nr. 401/89 geregelten
Verstoßes, also weil er ohne Konzession oder Genehmigung der AAMS
oder eine polizeiliche Genehmigung die Tätigkeit der Annahme
von Wetten durchgeführt habe, bestätigt.
26. Am 9.
September 2008 legte Herr Cifone Kassationsbeschwerde gegen diesen
Beschluss ein und beantragte seine Aufhebung und
die Nichtanwendung der nationalen Regelung. Er machte insoweit
geltend, dass diese Regelung, indem sie die alten Konzessionen
für gültig erkläre, Grenzen für die Einrichtung neuer
Annahmestellen vorsehe und Voraussetzungen für den Entzug der
Konzessionen
einführe, die schwerwiegend diskriminierend seien, gegen das
Recht der Union verstoße. Daher beantragte er bei der Corte Suprema
di Cassazione, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen
vorzulegen.
D – Vorlagefrage
27. Da sie der
Ansicht ist, dass angesichts der neuen Glücksspielregelung
Auslegungszweifel hinsichtlich der Reichweite der in
Art. 43 EG bzw. Art. 49 EG niedergelegten Niederlassungs- und
Dienstleistungsfreiheit bestehen, und daher zu klären ist, ob
diese Freiheiten durch ein nationales System mit den Merkmalen
des italienischen eingeschränkt werden, hat die Corte Suprema
di Cassazione die beiden Ausgangsverfahren ausgesetzt und in
beiden folgende Vorlagefrage gestellt:
Wie sind die Art. 43 EG und 49 EG in
Bezug auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im Bereich der
Sportwetten
auszulegen, um festzustellen, ob die angeführten Bestimmungen
des Vertrags eine nationale Regelung zulassen, die eine Monopolstellung
zugunsten des Staates und ein System von Konzessionen und
Genehmigungen festlegt und für eine bestimmte Anzahl von
Konzessionsnehmern
Folgendes vorsieht: a) eine allgemeine Ausrichtung des Schutzes
für die Inhaber von Konzessionen, die früher aufgrund eines
Verfahrens erteilt wurden, das rechtswidrig einen Teil der
Wirtschaftsteilnehmer ausschloss; b) die Geltung von Vorschriften,
die praktisch die Aufrechterhaltung von Geschäftspositionen
sicherstellen, die aufgrund eines Verfahrens erworben wurden,
das rechtswidrig einen Teil der Wirtschaftsteilnehmer
ausschloss (wie etwa das Verbot für neue Konzessionsnehmer, ihre
Schalter
näher als in der festgelegten Entfernung von einem bereits
bestehenden Schalter zu eröffnen); c) die Festlegung von Tatbeständen
des Konzessionsentzugs oder des Verfalls von
Sicherheitsleistungen in erheblicher Höhe, darunter den Fall, dass der
Konzessionsnehmer
unmittelbar oder mittelbar grenzüberschreitenden
Wetttätigkeiten nachgeht, die mit den konzessionierten vergleichbar
sind?
IV – Verfahren vor dem Gerichtshof
28. Die Vorlagebeschlüsse sind am 9. Februar 2010 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofs eingetragen worden.
29. Spanien,
Belgien, Portugal, Italien, die Kommission sowie die Herren Costa und
Cifone haben schriftliche Erklärungen eingereicht.
30. In der
Sitzung vom 29. Juni 2011 sind Vertreter der Herren Costa und Cifone,
der Kommission, der Italienischen Republik, Belgiens,
Maltas und Portugals erschienen, um ihr Vorbringen mündlich zu
erläutern.
V – Zulässigkeit der Vorlagefrage
31. Die italienische Regierung hat eine Reihe von Einwänden gegen die Zulässigkeit der Vorlagefrage erhoben.
32. Erstens sei
die Vorlagefrage hypothetisch. Eine eventuelle Feststellung der
Unvereinbarkeit der neuen italienischen Regelung
mit dem Recht der Union habe keine Folgen für die Beschuldigten
der Ausgangsverfahren, denn Stanley habe freiwillig von einer
Teilnahme an den Ausschreibungen von 2006 Abstand genommen, die
nach dieser neuen Regelung durchgeführt worden seien. Letztendlich
könnten die Charakteristika einer Konzessionsregelung, von der
kein Gebrauch gemacht worden sei, keinen Einfluss auf die
strafrechtliche
Situation der Herren Costa und Cifone haben.
33. Diese
machen demgegenüber geltend, dass die durch die neue Regelung
eingeführten Beschränkungen die Entscheidung von Stanley,
die Konzession nicht zu beantragen, bedingt hätten, so dass
sich eine mögliche Rechtswidrigkeit des Systems bei Anwendung
des Urteils Placanica auf laufende Strafverfahren auswirken
könne. Dieser Gedanke ist derselbe, der dem Vorabentscheidungsersuchen
zugrunde zu liegen scheint, für das nach ständiger
Rechtsprechung die Vermutung für seine Entscheidungserheblichkeit
spricht,
so dass es zulässig ist(14).
34. Zweitens
meint die italienische Regierung, dass die Vorlagefrage unzulässig sei,
da sie zu allgemein formuliert sei. Meiner
Auffassung nach werden in den Vorlagebeschlüssen der Corte
Suprema di Cassazione der Sachverhalt und der normative Kontext,
in denen die Vorlagefrage angesiedelt ist, erläutert, so dass
sie insoweit hinreichende Angaben enthalten, die dem Gerichtshof
eine sachdienliche Antwort ermöglichen(15).
35. Die Vorlagefrage ist daher zulässig.
VI – Prüfung der Vorlagefrage
A – Zum
Vorliegen von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien
Dienstleistungsverkehrs und zur Frage ihrer Rechtfertigung
36. Nach
ständiger Rechtsprechung stellen die Bestimmungen, auf die sich die
Vorlagefrage bezieht (ein mutmaßlicher besonderer
Schutz für alte Konzessionsnehmer, die Mindestabstandsregelung
zum Schutz ihrer Position und die Festlegung von Tatbeständen
des Konzessionsentzugs), eine Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und des freien
Dienstleistungsverkehrs
(Art. 56 AEUV) dar, soweit sie geeignet sind, ihre Ausübung zu
unterbinden oder weniger attraktiv zu machen(16).
37. Die
genannten Beschränkungen können aus zwingenden Gründen des
Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, wenn sie nicht diskriminierend
sind, geeignet sind, die Verwirklichung des mit ihnen
verfolgten Ziels zu gewährleisten (Grundsatz der Kohärenz oder der
Angemessenheit),
und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels
erforderlich ist (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit)(17).
38. Parallel zu diesen strengen Voraussetzungen geht der Gerichtshof seit dem Urteil Schindler(18),
das auf diesem Gebiet bahnbrechend war, davon aus, dass bei der
Untersuchung dieses Sektors weder „die sittlichen, religiösen
oder kulturellen Erwägungen, die in allen Mitgliedstaaten zu
Lotterien ebenso wie zu den anderen Glücksspielen angestellt
werden“, noch der Umstand, dass Glücksspiele „die Gefahr von
Betrug und anderen Straftaten erhöhen“ und „zu Ausgaben [verleiten],
die schädliche persönliche und soziale Folgen haben können“,
außer Betracht bleiben dürfen. Nach ständiger Rechtsprechung
„rechtfertigen es [diese Besonderheiten], dass die staatlichen
Stellen über ein ausreichendes Ermessen verfügen, um festzulegen,
welche Erfordernisse sich bezüglich der Art und Weise der
Veranstaltung von Lotterien, der Höhe der Einsätze sowie der Verwendung
der dabei erzielten Gewinne aus dem Schutz der Spieler und
allgemeiner nach Maßgabe der soziokulturellen Besonderheiten jedes
Mitgliedstaats aus dem Schutz der Sozialordnung ergeben“(19). Es steht den Mitgliedstaaten daher „frei, die Ziele ihrer Politik auf dem Gebiet der Glücks- und Geldspiele festzulegen
und gegebenenfalls das angestrebte Schutzniveau genau zu bestimmen“(20).
B – Zu dem mit den streitigen Bestimmungen verfolgten Ziel des Allgemeininteresses: seine Beschränkung im Fall Italiens
39. Nachdem das
Bestehen von Beschränkungen der Freiheiten festgestellt ist, besteht
der erste Schritt des logischen Prozesses
zu ihrer Rechtfertigung in der Identifizierung des Ziels, des
mit den streitigen Bestimmungen verfolgten „zwingenden Grundes
des Allgemeininteresses“, der später einer zweifachen Prüfung
der Kohärenz und der Verhältnismäßigkeit zu unterziehen ist.
40. Innerhalb
des weiten Handlungsspielraums, der, wie bereits ausgeführt wurde, den
Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet eingeräumt
wird, lässt die Rechtsprechung als solche zwingenden Gründe des
Allgemeininteresses die Ziele des „Verbraucherschutzes, der
Betrugsvorbeugung und der Vermeidung von Anreizen für die
Bürger zu überhöhten Ausgaben für das Spielen sowie der Verhütung
von Störungen der sozialen Ordnung im Allgemeinen“(21) gelten.
41. Der
Gerichtshof hat im Urteil Placanica jedoch auch festgestellt, dass „der
italienische Gesetzgeber im Bereich der Glücksspiele
eine expansive Politik mit dem Ziel betreibt, die
Staatseinnahmen zu erhöhen“, so dass „die italienischen
Rechtsvorschriften
weder mit dem Ziel einer Beschränkung der Spielleidenschaft der
Verbraucher noch mit dem einer Eindämmung des Spielangebots
gerechtfertigt werden können“(22).
Im aktuellen Kontext scheint diese kategorische Feststellung nicht nur
ihre Gültigkeit nicht verloren zu haben, sondern
durch die Entscheidung der italienischen Behörden, im Jahr 2006
14 000 neue Glücksspielkonzessionen zu vergeben, noch bestärkt
worden zu sein(23).
42. Hätte der
italienische Gesetzgeber eine Politik der Beschränkung der Gelegenheiten
zum Spiel betreiben wollen, hätte er sich
für die Alternativlösung entscheiden müssen, die aus dem Urteil
Placanica folgt: Er hätte die Konzessionen aus dem Jahr 1999
widerrufen und neu zuteilen müssen, ohne ihre Anzahl zu
erhöhen. Stattdessen nahm er quantitativ wie qualitativ eine
außerordentliche
Erweiterung des Sektors vor und bot den italienischen Spielern
größere und immer vielfältigere Spielmöglichkeiten. Es geht
sicher nicht zu weit, wenn man an dieser Stelle feststellt,
dass die italienische Politik auf diesem Gebiet das Glücksspiel
trivialisiert hat, indem sie es immer weiter öffnete. Trotz der
zahlreichen Kontrollen und Beschränkungen, die, wie weiter
unten gezeigt wird, den Konzessionsnehmern weiterhin auferlegt
werden, war ihre Vervielfältigung so nachhaltig, dass man praktisch
von einem „liberalisierten“, wenn auch reglementierten, Sektor
sprechen kann. Daher sind die Bekämpfung der Spielsucht und
die Verringerung der Gelegenheiten zum Spiel weiterhin keine
glaubhaften Ziele der italienischen Glücksspielregelung, insbesondere
nicht nach den Reformen des Jahres 2006.
43. Im Urteil
Placanica wurde ferner festgestellt, dass „[e]ine Politik der
kontrollierten Expansion im Glücksspielsektor … ohne
Weiteres mit dem Ziel in Einklang stehen [kann], Spieler, die
als solchen verbotenen Tätigkeiten geheimer Spiele oder Wetten
nachgehen, dazu zu veranlassen, zu erlaubten und geregelten
Tätigkeiten überzugehen“. Ein in diesem Kontext akzeptables Ziel
bestünde daher darin „die Glücksspieltätigkeiten in
kontrollierbare Bahnen zu lenken, um ihrer Ausnutzung zu kriminellen
oder
betrügerischen Zwecken vorzubeugen“(24).
44. Auf der
Linie mit den sich aus dem Urteil Placanica ergebenden Anforderungen und
sie in gewisser Weise vorwegnehmend wurden
im Bersani-Dekret ausdrücklich als Ziele der neuen Regelung
genannt, „der Ausbreitung des regelwidrigen und illegalen Spielens
sowie der Steuerumgehung und -hinterziehung im Bereich des
Spiels entgegenzuwirken und den Schutz des Spielers sicherzustellen“.
45. Die
vorstehenden Ausführungen zum verfolgten Ziel des Allgemeininteresses
sind, wie wir weiter unten sehen werden, außerordentlich
bedeutsam, da sie die Weichen für die gesamte Prüfung der
streitigen Maßnahmen stellen.
C – Zur
möglichen Rechtfertigung der Beschränkungen: die Voraussetzungen der
Nichtdiskriminierung, der Eignung und der Verhältnismäßigkeit
46. Nachdem das Ziel festgestellt ist, ist für jede mit den nationalen Rechtsvorschriften auferlegte Beschränkung – gesondert
– zu prüfen(25),
ob sie die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden
Voraussetzungen erfüllt: nicht diskriminierender Charakter,
Eignung bzw. Kohärenz und Verhältnismäßigkeit.
1. Das Monopolsystem mit einem Numerus clausus unterliegenden Konzessionen
47. Dem vorlegenden Gericht zufolge legt die italienische Regelung „eine Monopolstellung zugunsten des Staates“ und ein System
von Konzessionen und Genehmigungen fest.
48. Die
Rechtsprechung hat wiederholt, und insbesondere für Italien,
festgestellt, dass eine nationale Regelung, „die die Ausübung
von Tätigkeiten im Glücksspielsektor ohne eine vom Staat
erteilte Konzession oder polizeiliche Genehmigung unter Strafandrohung
verbietet, eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und des
freien Dienstleistungsverkehrs darstellt“(26). Diese Beschränkungen können jedoch durch das Ziel gerechtfertigt sein, der Ausnutzung von Tätigkeiten in diesem Sektor zu
kriminellen oder betrügerischen Zwecken vorzubeugen(27).
49. Es genügt
insofern die Feststellung, dass es allein Sache der nationalen Gerichte
ist, zu beurteilen, ob die nationale Regelung
diesem Ziel entspricht und sie dem Erfordernis der
Verhältnismäßigkeit genügt. Dabei müssen sie insbesondere die im Jahr
2006
erfolgte Erhöhung der Zahl der Konzessionen berücksichtigen.
2. Die mutmaßliche „allgemeine Ausrichtung des Schutzes“ für die Inhaber alter Konzessionen
50. Die Corte
Suprema di Cassazione nimmt sodann Bezug auf „eine allgemeine
Ausrichtung des Schutzes für die Inhaber von Konzessionen,
die früher aufgrund eines Verfahrens erteilt wurden, das
rechtswidrig einen Teil der Wirtschaftsteilnehmer ausschloss“ (die
Konzessionen aus dem Jahr 1999).
51. Ein
spezifisches System zum Schutz alter Konzessionsnehmer würde gewiss eine
Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und des
freien Dienstleistungsverkehrs darstellen(28),
die kaum zu rechtfertigen wäre, da mit ihm ein eindeutig
wirtschaftliches Ziel verfolgt würde (zu verhindern, dass das neue
System zu einem übermäßigen „Wettbewerbsdruck“ – um bei dem von
der italienischen Regierung benutzten Begriff zu bleiben –
für die bereits etablierten Wirtschaftsteilnehmer führt)(29).
52. Um eine
derart allgemeine Feststellung treffen zu können, bedarf es konkreter
Angaben zum Bestehen dieses möglicherweise rechtswidrigen
Schutzes. Zu diesem Punkt enthält der Vorlagebeschluss nur
wenige Angaben. Es handelt sich zweifellos nicht um einen Gedanken,
den die Corte Suprema di Cassazione allein äußert. Herr Costa
zitiert in seinem Schriftsatz eine lange Reihe von Urteilen,
in denen Ähnliches zum Ausdruck kommt. Dessen ungeachtet
liefert das vorlegende Gericht keine konkrete Begründung für seine
Behauptung, dass eine „allgemeine Ausrichtung des Schutzes“
bestehe.
53. Die
Kommission ist der Ansicht, dass sich der Vorlagebeschluss mit dieser
Feststellung schlicht und einfach auf das Fortgelten
der Konzessionen aus dem Jahr 1999 bezieht. Soweit diese
Konzessionen aufgrund eines Verfahrens, dessen Unvereinbarkeit mit
dem Recht der Union später festgestellt wurde, vergeben wurden,
könnte ihr Fortgelten als Ausnahme betrachtet werden. Seit
den Ausschreibungen im Jahr 2006 teilen sich die alten
Konzessionsnehmer allerdings den Markt für Sportwetten mit den Inhabern
der 14 000 neuen Konzessionen. Diese Option wurde im Urteil
Placanica ausdrücklich für zulässig erklärt(30).
Generell wäre die vom italienischen Gesetzgeber gewählte Lösung daher
mit den Feststellungen in diesem Urteil vereinbar,
sofern die italienischen Gerichte feststellen, dass die Zahl
der neu vergebenen Konzessionen (14 000) „geeignet“ ist, um die
rechtswidrigen Folgen der Ausschreibung im Jahr 1999 zu
beseitigen.
54. Meiner
Ansicht nach ist die Zahl von 14 000 neuen Konzessionen grundsätzlich im
Sinne des Urteils Placanica „geeignet“ oder
gar mehr als ausreichend, um den Bedarf der 1999 rechtswidrig
ausgeschlossenen Wirtschaftsteilnehmer zu erfüllen. Es reicht
insoweit die Feststellung, dass im Rahmen der 2006
durchgeführten Ausschreibungen 16 000 Konzessionstitel angeboten, am
Ende
aber nur 14 000 vergeben wurden. Diese Umstände führen sämtlich
zu der Annahme, dass nach dem Urteil Placanica auch die 2006
parallel zu den neuen Ausschreibungen erfolgte Verlängerung der
alten Konzessionen bis 2012 zulässig ist. Aus dieser Sicht
verstößt der „Schutz“ in Form des Fortgeltens der alten
Konzessionen nicht schon für sich gegen das Unionsrecht.
55. Es darf
allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass die im nationalen
Recht vorgesehene Regelung zur Wiederherstellung
der Rechte der rechtswidrig ausgeschlossenen
Wirtschaftsteilnehmer „die Ausübung der durch die
Gemeinschaftsrechtsordnung
verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder
übermäßig erschweren [darf] (Effektivitätsgrundsatz)“(31).
Der Effektivitätsgrundsatz verlangt in der Tat, dass die vom
italienischen Gesetzgeber gewählte Lösung (die Vergabe neuer
Konzessionen, die zu den bereits bestehenden hinzukommen) nicht
ebenfalls zum rechtswidrigen Ausschluss bestimmter
Wirtschaftsteilnehmer
führt.
56. Die Herren
Costa und Cifone haben geltend gemacht, dass die neuen Bestimmungen,
nach denen die Ausschreibungen im Jahr 2006
durchgeführt worden seien, die Teilnahme von Stanley, statt sie
zu ermöglichen (indem Stanley „die Ausübung der durch die
Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte“ gestattet
werde), aufgrund der Einführung von Regeln, die einerseits den
Wettbewerbsvorteil
der alten Konzessionsnehmer übermäßig schützten (insbesondere
durch die Einführung von Mindestabständen zwischen den Annahmestellen)
und durch die andererseits die Teilnahme des Unternehmens
sinnlos geworden sei (da es den automatischen Entzug der Konzession
riskiert habe), praktisch unmöglich gemacht hätten.
57. In der
Regelung der Mindestabstände und der Voraussetzungen für den
Konzessionsentzug in den streitigen Bestimmungen kommt
nach Ansicht der Herren Costa und Cifone die „allgemeine
Ausrichtung des Schutzes“ der alten Konzessionsnehmer, auf die die
Vorlagefrage Bezug nehme und die ihnen zufolge auch in Art. 38
Abs. 2 und 4 Buchst. l des Bersani-Dekrets, der ausdrücklich
die Regelung der „Modalitäten des Schutzes der
Konzessionsnehmer“ vorsehe, ihren Niederschlag gefunden hat, in aller
Deutlichkeit
zum Ausdruck.
58. Zusammenfassend
ist daher festzustellen, dass eine nationale Regelung, die „eine
allgemeine Ausrichtung des Schutzes für die
Inhaber von Konzessionen, die früher aufgrund eines Verfahrens
erteilt wurden, das rechtswidrig einen Teil der Wirtschaftsteilnehmer
ausschloss“, eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der im
Vertrag niedergelegten Freiheiten darstellen kann. Insbesondere
ist im Fall Italiens die Bestimmung, auf die Bezug genommen
wird (Art. 38 Abs. 2 und Art. 4 Buchst. l des Bersani-Dekrets),
ein wenig kryptisch formuliert. Die Feststellung ihrer
Reichweite ist ausschließlich Sache der italienischen Gerichte, die
allein für die Auslegung des nationalen Rechts zuständig sind.
59. Andererseits
müssen mangels genauerer Angaben des vorlegenden Gerichts im
vorliegenden Fall die Regelung der Mindestabstände
und der Voraussetzungen für den Konzessionsentzug, in denen die
mutmaßliche „allgemeine Ausrichtung des Schutzes“ möglicherweise
konkret zum Ausdruck kommt, jeweils gesondert geprüft werden.
3. Die Regelung der von den neuen Konzessionsnehmern einzuhaltenden Mindestabstände
60. Die Corte
Suprema di Cassazione hat auch Zweifel, ob „Vorschriften, die praktisch
die Aufrechterhaltung von Geschäftspositionen
sicherstellen, die aufgrund eines Verfahrens erworben wurden,
das rechtswidrig einen Teil der Wirtschaftsteilnehmer ausschloss“,
mit dem Recht der Union vereinbar sind, und nennt beispielhaft
„das Verbot für neue Konzessionsnehmer, ihre Schalter näher
als in der festgelegten Entfernung von einem bereits
bestehenden Schalter zu eröffnen“.
61. Tatsächlich
wurde durch das Bersani-Dekret ein System von Mindestabständen zwischen
Spiel- und Wettannahmestellen geschaffen,
das durch das Decreto legge Nr. 149 vom 25. September 2008
aufgehoben wurde(32).
Nach Art. 38 Abs. 2 Buchst. f und g des Bersani-Dekrets mussten
Annahmestellen einen Mindestabstand zu „denen, für die bereits
eine Konzession vergeben worden war“, einhalten(33).
Für Annahmestellen, in denen der Vertrieb von Wetten eine
Nebentätigkeit darstellt, sieht die Bestimmung zusätzlich vor,
dass die Abstände „unbeschadet der am 30. Juni 2006 betriebenen
Annahmestellen für Prognosewettbewerbe auf sportlicher Grundlage“
einzuhalten sind(34).
62. Die
italienische Regierung macht zur Rechtfertigung der Maßnahme geltend,
dass damit eine gleichmäßige Verteilung der Wettannahmestellen
über das Staatsgebiet gewährleistet werden solle, um die
zweifach schädliche Folge einer Anhäufung von Wettbüros an bestimmten
Orten für die Verbraucher zu vermeiden: dass diejenigen, die in
der Nähe solcher Orte leben, einem Angebotsüberschuss ausgesetzt
sind, und diejenigen, die in „schlechter versorgten“ Orten
leben, an illegalen Spielen teilnehmen. Damit wird indirekt ein
zweifaches Ziel des Allgemeininteresses angesprochen: zum einen
die Bekämpfung der Spielsucht und zum anderen die Verhütung
von Straftaten und Betrug in dem Sektor.
63. Die
Berufung auf die Bekämpfung der Spielsucht ist, worauf bereits
hingewiesen wurde, im italienischen Kontext, der sich „im
Glücksspielsektor [durch] eine expansive Politik“(35) auszeichnet, wenig überzeugend. Eine entsprechende Anwendung der Argumente im Urteil Blanco Pérez und Chao Gómez(36),
nach dem eine Mindestabstandsregelung für Apotheken mit Art. 49 AEUV
vereinbar ist, da sie durch zwingende Belange des Schutzes
der Gesundheit gerechtfertigt ist(37), ist meiner Ansicht nach ausgeschlossen. Zwar scheinen sich die Argumente der italienischen Regierung an einigen Punkten
dieses Urteils zu orientieren(38).
Im vorliegenden Fall ist aus den bereits dargestellten Gründen eine
Berufung auf zwingende Belange des Schutzes der Gesundheit
(insbesondere die Bekämpfung der Spielsucht) jedoch
ausgeschlossen.
64. Es bliebe
der Rechtfertigungsgrund der Verhütung von Straftaten und des Betrugs im
Glücksspielsektor, der ebenfalls, wie bereits
ausgeführt wurde, ein Ziel im Allgemeininteresse darstellt,
durch das Beschränkungen der Vertragsfreiheiten gerechtfertigt
sein können. Meiner Ansicht nach weist das System der
Mindestabstände zwischen Wettbüros so gut wie keinen Anknüpfungspunkt
mit diesem Ziel auf.
65. Selbst wenn
ein hinreichend breites, attraktives und bekanntes Angebot an legalen
Glücksspielen zur Bekämpfung von Straftaten
in dem Sektor beitragen kann, dürfte seine gleichmäßige
Verteilung über das Staatsgebiet keinen Mechanismus darstellen, der
aus der Sicht der Verhältnismäßigkeit für die Verhütung von
Betrug und Straftaten auf diesem Gebiet unumgänglich ist.
66. Zwar
besteht mangels einer zwingenden Mindestabstandsregelung in der Tat die
Gefahr, dass sich ein bedeutender Teil der Annahmestellen
auf dichter besiedelte oder wirtschaftlich aktivere Gegenden
des Staatsgebiets konzentriert, doch ist eine gewisse Skepsis
angebracht im Hinblick darauf, dass dieser Umstand einen
bedeutenden Teil der Spieler, die ihren Wohnsitz in Gegenden mit
geringerem oder gar nicht vorhandenem Angebot haben, dazu
veranlassen wird, sich für illegale Anbieter zu entscheiden. Umgekehrt
scheint eine territorial gleichmäßige Verteilung des
rechtmäßigen Glücksspielangebots kein ausreichendes Mittel zu sein, um
zu verhindern, dass sich bestimmte Spieler an illegale
Wirtschaftsteilnehmer wenden.
67. Auf der
anderen Seite ist daran zu erinnern, dass die Mindestabstandsregelung
ausschließlich für die neuen Konzessionsnehmer
gegenüber den bereits etablierten gilt. Dies scheint den im
Vorlagebeschluss zum Ausdruck kommenden Gedanken zu bestätigen,
dass die Mindestabstandsregelung auf die Wahrung der
„Geschäftspositionen“ der alten Konzessionsnehmer gerichtet ist und
ihnen
praktisch einen bestimmten Wettbewerbsvorteil gegenüber
denjenigen gewährleistet, die bis zu den Ausschreibungen im Jahr 2006
keinen Marktzugang hatten und die gezwungen wären, sich an
geschäftlich weniger interessanten Orten niederzulassen. Dadurch
wird die Kohärenz der Maßnahme im Hinblick auf das von der
italienischen Regierung angeführte Ziel der Verhütung der Kriminalität
in Frage gestellt.
68. In dem Urteil vom 11. März 2010, Attanasio Group(39),
in dem es um die italienische Regelung über Mindestabstände zwischen
Tankstellen ging, wurde festgestellt, dass eine derartige
Maßnahme, die den Marktzugang neuer Wirtschaftsteilnehmer
behindert, „eher die Position der bereits in Italien ansässigen
Wirtschaftsteilnehmer zu stärken [scheint], ohne dass die
Verbraucher echte Vorteile davon hätten“. Diese Maßnahme scheint
letztendlich auf ein rein wirtschaftliches Motiv gerichtet zu
sein, das, wie bereits dargelegt wurde, unter keinen Umständen
einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses im Sinne der
Rechtsprechung darstellen kann(40).
69. Zusammenfassend
stehen die Art. 49 AEUV und 53 AEUV einer nationalen Regelung entgegen,
die praktisch die Aufrechterhaltung
von Geschäftspositionen sicherstellt, die aufgrund eines
Verfahrens erworben wurden, das rechtswidrig einen Teil der
Wirtschaftsteilnehmer
ausschloss. Insbesondere stehen sie dem Verbot für neue
Konzessionsnehmer, ihre Annahmestellen näher als in der festgelegten
Entfernung von bereits bestehenden zu eröffnen, entgegen.
4. Die Regelung über den Konzessionsentzug
a) Der Entzug wegen Vertriebs von
Spielen, die öffentlichen oder verbotenen Glücksspielen vergleichbar
sind, „in Italien oder
über Server, die sich außerhalb des Staatsgebiets befinden“
(Art. 23 Abs. 3 des Vertragsschemas für Konzessionsnehmer)
70. Schließlich
fragt die Corte Suprema di Cassazione den Gerichtshof nach der
Rechtmäßigkeit der italienischen Regelung über
den Entzug der Glücksspielkonzessionen (die zudem zum Verlust
der Sicherheitsleistung führt) unter besonderer Bezugnahme auf
den „Fall, dass der Konzessionsnehmer unmittelbar oder
mittelbar grenzüberschreitenden Wetttätigkeiten nachgeht, die mit den
konzessionierten vergleichbar sind“.
71. Man könnte
annehmen, dass das italienische Gericht sich damit auf den in Art. 23
Abs. 3 des zur Regelung der künftigen Konzessionen
berufenen Konzessionsschemas geregelten Entzugstatbestand
bezieht. Nach dieser Bestimmung wird eine Konzession entzogen, „wenn
der Konzessionsnehmer selbst oder durch eine mit ihm verbundene
Gesellschaft – ungeachtet der Natur dieser Verbindung – auf
italienischem Gebiet oder über Server, die sich außerhalb des
Staatsgebiets befinden, Glücksspiele anbietet, die mit öffentlichen
Glücksspielen oder anderen von der AAMS verwalteten
Glücksspielen oder in Italien verbotenen Glücksspielen vergleichbar
sind“.
72. Obwohl nach
der Rechtsprechung Aufgabe des vorlegenden Gerichts ist, in den bei ihm
anhängigen Rechtssachen zu klären, welches
die richtige Auslegung des nationalen Rechts ist(41), veranlassen mich der unklare Wortlaut der streitigen Bestimmung sowie zu diesem Punkt die Vorlagefrage selbst dazu, mit
zwei alternativen Auslegungshypothesen zu Art. 23 Abs. 3 zu arbeiten(42).
i) Erste Hypothese: Entzug wegen grenzüberschreitender Tätigkeit
73. Eine erste
Hypothese führt zu der Annahme, dass die Bestimmung, indem sie sich auf
die Vermarktung bestimmter Ziele „über
Server, die sich außerhalb des Staatsgebiets befinden“ bezieht,
jede grenzüberschreitende Spieltätigkeit verhindern soll,
insbesondere die, die Stanley über seine DÜZ ausübt.
74. Diese Auslegung scheinen die Herren Costa und Cifone sowie die Corte Suprema di Cassazione selbst zu vertreten. Sie ergibt
sich auch aus einer langen Reihe von Urteilen der nationalen Gerichte(43) und findet zudem ihre Stütze in dem Briefwechsel zwischen AAMS und Stanely anlässlich der Ausschreibungen im Jahr 2006.
75. Auf die
Frage von Stanley, ob „die von Stanley unmittelbar oder über die ihr
angeschlossenen DÜZ ausgeübte Tätigkeit von der
Verwaltung als Verletzung der Grundsätze und Bestimmungen in
den Ausschreibungsunterlagen (insbesondere Art. 23 des
Konzessionsschemas)
betrachtet wird“, hat die AAMS mit Schreiben vom 6. Oktober
2006 geantwortet, dass die Teilnahme an den Ausschreibungen den
in Italien erklärten Verzicht auf die Ausübung
grenzüberschreitender Tätigkeiten voraussetze, und insbesondere
bestätigt,
dass es das neue System den Bewerbern ermöglichen würde, „Netze
von Annahmestellen zu schaffen, die nach Maßgabe einer eigenständigen
Beurteilung auch nationalen Charakter haben können“, und
präzisiert, dass „diese Netze naturgemäß dazu neigen, die alten Netze
zu ersetzen, und in diesem Zusammenhang durch Art. 23 des
Konzessionsschemas ein geeigneter Schutz für die Investitionen
geschaffen
wird, den diese Konzessionsnehmer getätigt haben“.
76. Neben der
bemerkenswerten Unbestimmtheit dieser Antwort hatte der Eindruck, dass
die Tätigkeit von Stanley (die eine grenzüberschreitende
telematische Tätigkeit umfasst) oder zumindest ihr derzeitiges
Vertriebsnetz mit der Vergabe einer der neuen Konzessionen
unvereinbar war, zur Folge, dass das Unternehmen von der
Teilnahme an der Ausschreibung Abstand nahm.
77. Wenn die
Corte Suprema di Cassazione zu dem Ergebnis käme, dass Art. 23 Abs. 3
des Konzessionsschemas einen automatischen
Konzessionsentzug vorsieht, nur weil eine grenzüberschreitende
Wetttätigkeit erfolgt, müsste man feststellen, dass die Maßnahme
eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und des freien
Dienstleistungsverkehrs darstellt. Zudem erscheint mir ihre
Rechtfertigung
mit dem Ziel der Verhütung von Straftaten und Betrug in dem
Sektor ausgesprochen künstlich.
78. Der
Gerichtshof hat zwar in seinem Urteil Liga Portuguesa anerkannt, dass
die Mitgliedstaaten bezüglich der über das Internet
angebotenen Glücksspiele über einen weiten Handlungsspielraum
verfügen(44).
Dieser Gedanke kann aber nicht auf den vorliegenden Fall übertragen
werden, in dem, wenn sich die hier vertretene Hypothese
bestätigt, nicht die Kontrolle des Spiels über das Internet in
Frage steht, sondern das Verbot jeder grenzüberschreitenden
Tätigkeit in diesem Sektor. In dem dem Ausgangsverfahren
zugrunde liegenden Sachverhalt kann die streitige Regelung insbesondere
eine Tätigkeit behindern, die zwar grenzüberschreitenden
Charakter hat, aber keinen Fall des Spiels über das Internet im
eigentlichen
Sinne darstellt, da sie auch die physische Anwesenheit eines
Vertreters des Unternehmens in Italien voraussetzt.
79. Grundsätzlich
weist die hier in Rede stehende Tätigkeit daher nicht das wesentliche
Merkmal des Spielens über das Internet
auf, auf dem der Gerichtshof in dem Urteil Liga Portuguesa
seine gesamte Argumentation aufbaute: den „fehlenden unmittelbaren
Kontakt zwischen dem Verbraucher und dem Anbieter“. Eine
„grenzüberschreitende Tätigkeit“ steht diesem Kontakt nicht notwendig
entgegen. Soweit der physische und unmittelbare Zugang über
einen Vermittler oder Vertreter des Unternehmens gewährleistet
werden kann, sind diese besonderen Risiken des Spiels über das
Internet nicht gegeben und können daher die in Rede stehende
Maßnahme nicht rechtfertigen.
80. Andererseits
darf nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Argumentation im
Urteil Liga Portuguesa darauf gerichtet ist,
dem Erfordernis der gegenseitigen Anerkennung von
Glücksspiellizenzen Einhalt zu gebieten(45). Die gegenseitige Anerkennung ist für den Bereich des Spiels über das Internet nach dem Urteil Liga Portuguesa und eindeutig
und allgemein für den gesamten Glücksspielsektor nach dem Urteil Stoß ausgeschlossen(46).
81. Im
vorliegenden Fall jedoch ginge, folgte man der ersten
Auslegungsprämisse, die auferlegte Beschränkung weit über das
Erfordernis
hinaus, dass sich ausländische Wirtschaftsteilnehmer der
Kontrolle durch die nationalen Behörden unterwerfen müssen, um eine
Glücksspieltätigkeit ausüben zu können. Sie würden schlicht und
einfach daran gehindert, an diesem Markt teilzunehmen, aus
dem einzigen Grund, dass das Unternehmen seine
Hauptniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat und das mit den Kunden
abgeschlossene
Rechtsgeschäft grenzüberschreitenden Charakter hat, obwohl die
Möglichkeit besteht, die gegebenenfalls ständig im Staatsgebiet
anwesenden Vertreter einer polizeilichen Kontrolle zu
unterziehen.
82. Zusammenfassend
bin ich der Auffassung, dass eine nationale Regelung, die tatsächlich
jede grenzüberschreitende Tätigkeit
im Glücksspielsektor ungeachtet der Art und Weise ihrer
Durchführung und insbesondere in Fällen, in denen die Möglichkeit
des unmittelbaren Kontakts zwischen dem Verbraucher und dem
Wirtschaftsteilnehmer und der physischen Kontrolle der im Staatsgebiet
ansässigen Vertreter des Unternehmens zu ordnungspolizeilichen
Zwecken besteht, praktisch unterbindet, gegen die Art. 49 AUEV
und 56 AEUV verstößt.
ii) Zweite Hypothese: Entzug der Konzession wegen des Anbietens nicht genehmigter Spiele
83. Eine
alternative Auslegung von Art. 23 Abs. 3 des Konzessionsschemas würde zu
der Annahme führen, dass die Bestimmung vor
allem darauf gerichtet ist, eine Vielzahl von Spielen zu
verbieten, unabhängig davon, ob sie grenzüberschreitend („über Server,
die sich außerhalb des Staatsgebiets befinden“) oder
unmittelbar („auf italienischem Gebiet“) angeboten werden. Konkreter
wären nach dieser Bestimmung die Spiele, deren Angebot zum
Entzug der Konzession führt, solche, „die mit öffentlichen Glücksspielen
oder anderen von der AAMS verwalteten Glücksspielen oder in
Italien verbotenen Glücksspielen vergleichbar sind“. Zunächst
ist die ausgesprochene Ungenauigkeit dieser Formulierung
hervorzuheben, die im Gegensatz zu ihren schwerwiegenden Folgen steht.
84. Die
Vorträge der Kommission und Herrn Costas ermöglichen es, ein wenig Licht
auf diesen Punkt zu werfen. Beide haben einen
Katalog bzw. eine Liste von Spielen erwähnt, die wöchentlich
von der AAMS aktualisiert werden und die den Anwendungsbereich
der Konzessionen eingrenzen, so dass die Konzessionsnehmer nur
Spiele anbieten können, die in dieser Liste enthalten sind,
und das Angebot nicht enthaltener Spiele zum Entzug der
Konzession führt(47). Ich werde versuchen, die Frage des Gerichts unter Berücksichtigung dieser Information zu beantworten.
85. In seinem
bereits angeführten Urteil Stoß hat der Gerichtshof festgestellt, dass
angesichts der erheblichen Unterschiede,
die die verschiedenen Arten von Glücksspielen aufweisen können,
eine nationale Regelung, die bestimmte Arten von Glücksspielen
einer strengeren Regelung unterzieht oder sie gar verbietet und
andere erlaubt, mit dem Vertrag vereinbar sein kann(48).
Jedenfalls ist es selbstverständlich erforderlich, dass die fragliche
Maßnahme nicht diskriminierend ist und kohärent, systematisch
und verhältnismäßig zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels
des Allgemeininteresses beiträgt, in diesem Fall die Bekämpfung
des Betrugs und die Verbreitung illegalen Glücksspiels.
86. In Bezug
auf den Ausgangsfall ist daran zu erinnern, dass die Liste grundsätzlich
an die Bedürfnisse der Wirtschaftsteilnehmer
angepasst werden kann. Tatsächlich können die Konzessionsnehmer
bei der AAMS beantragen, dass bestimmte Spiele in die Liste
aufgenommen werden, aber es scheint, dass es sich um eine
Ermessensentscheidung der AAMS handelt.
87. Die
Verwaltungsentscheidung, ein bestimmtes Spiel in die Liste aufzunehmen,
würde damit unbestreitbar die Funktion einer „vorherigen
behördlichen Genehmigung“ erfüllen, durch die die
Vertragsfreiheiten beschränkt würden, die aber nach der Rechtsprechung
gerechtfertigt
sein kann, soweit sie auf objektiven, nicht diskriminierenden
und gerichtlich nachprüfbaren Kriterien beruht(49).
Die Parteien haben in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass die
Möglichkeit besteht, die Entscheidung der AAMS anzufechten,
aber aus den beigebrachten Unterlagen ergibt sich nicht
eindeutig, ob die Entscheidung der AAMS über die Liste der erlaubten
Spiele tatsächlich auf objektiven und den Betroffenen vorab
bekannten Kriterien beruht.
88. Hinzu kommt
ein weiterer Umstand, der sich aus der Prüfung der von den Parteien
vorgelegten Unterlagen zu ergeben scheint
und dessen Feststellung in jedem Fall wie die der übrigen
Sachverhaltselemente dem vorlegenden Gericht obliegt. Ich beziehe
mich auf den Umstand, dass die von der Liste der AAMS
ausgeschlossenen Spiele mehrheitlich von ausländischen
Wirtschaftsteilnehmern
angeboten werden und gegebenenfalls den „interessantesten“ Teil
ihres Angebots darstellen könnten, der es vom Angebot der
nationalen Wirtschaftsteilnehmer unterscheidet. Sollte sich
dieses Vorbringen als zutreffend erweisen, könnte man in diesem
Fall das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung bejahen,
die kaum anhand der geltend gemachten Ziele zu rechtfertigen
wäre.
89. Zusammenfassend
bin ich der Auffassung, dass ein System, das es lediglich ermöglicht,
die in einem Katalog oder einer Liste
aufgeführten Spiele anzubieten, und das Angebot aller anderen
Spiele mit dem Entzug der Konzession bestraft, nur gerechtfertigt
sein kann, wenn dieses System auf objektiven, nicht
diskriminierenden und im Voraus bekannten Kriterien beruht und die
Verwaltungsentscheidungen
hinsichtlich der Erstellung der Liste gerichtlich nachprüfbar
sind.
b) Der Entzug aufgrund des Ergreifens
von Vorbeugemaßnahmen bzw. die Einleitung eines Strafverfahrens gegen
den Konzessionsnehmer,
seinen gesetzlichen Vertreter oder seine
Verwaltungsratsmitglieder (Art. 23 Abs. 2 des Konzessionsschemas)
90. Dieser Umstand wird zwar nicht in der Vorlagefrage angesprochen(50),
doch haben die Herren Costa und Cifone in ihren Schriftsätzen
Ausführungen zu einem anderen Fall des Konzessionsentzugs
gemacht, der ebenfalls im Konzessionsschema, konkret in Art. 23
Abs. 2, geregelt ist. Danach kann die AAMS die Konzession
entziehen, „[w]enn gegen den Konzessionsnehmer, seinen
gesetzlichen Vertreter oder seine Verwaltungsratsmitglieder
Vorbeugemaßnahmen
ergriffen oder der zuständige Richter um Entscheidung in der
Sache ersucht wird, ob einer der im Gesetz Nr. 55 vom 19. Mai
1990 geregelten Straftatbestände erfüllt ist, sowie in den
übrigen Fällen von Straftaten, die geeignet sind, die vom Vertrauen
getragenen Beziehungen mit der AAMS zu zerrütten, oder bei
schwerwiegenden oder wiederholten Verstößen gegen die geltenden
Bestimmungen zur Regelung öffentlicher Glücksspiele,
einschließlich der Verstöße gegen die geltenden Bestimmungen durch
Dritte,
die der Konzessionsnehmer mit Nebenleistungen zur Annahme von
Online-Sportwetten beauftragt hat“.
91. Die Herren
Costa und Cifone haben ausgeführt, dass durch diese Regelung in der
Praxis die Teilnahme von Stanley an den Ausschreibungen
von 2006 angesichts der prozessualen Situation, in der sich zu
diesem Zeitpunkt vor dem Erlass des Urteils Placanica und damit
vor der Einstellung der damals gegen sie anhängigen
Strafverfahren viele italienische Vertreter des Unternehmens befunden
hätten, behindert worden sei.
92. Angesichts
dessen sind sie der Ansicht, dass der zitierte Tatbestand des
Konzessionsentzugs (der den Verfall der Sicherheitsleistung
nach sich zieht) eine vertragswidrige Beschränkung des freien
Dienstleistungsverkehrs und der Niederlassungsfreiheit darstelle(51).
93. Eine
Maßnahme, die darauf gerichtet ist, zu unterbinden, dass Personen, deren
Leumund zweifelhaft ist, dieser Art von Tätigkeiten
nachgehen, scheint grundsätzlich ein für die Erreichung des
Ziels der Bekämpfung des Betrugs und des illegalen Glücksspiels
geeignetes Instrument zu sein, und die Tatsache, dass Art. 23
Abs. 6 des Konzessionsschemas einen Schadensersatzanspruch für
den Fall vorsieht, dass der Entzug der Konzession sich
nachträglich als unbegründet erweist, stellt einen Gesichtspunkt der
Verhältnismäßigkeit dar, der nicht zu vernachlässigen ist.(52) Unabhängig davon könnte dieser Tatbestand des Konzessionsentzugs (dem überraschenderweise ein Vertragsinstrument zugrunde
liegt) unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit einige Probleme aufwerfen.
94. Das erste
beruht auf dem scheinbar verfrühten Charakter der Entscheidung über den
Konzessionsentzug, der zu Beginn eines eventuellen
Strafverfahrens und damit ohne eine strafrechtliche
Verurteilung erfolgen würde. In der Tat bezieht sich Art. 23 Abs. 2 des
Konzessionsschemas auf den Erlass von „Vorbeugemaßnahmen“ und
das Ersuchen des „zuständige[n] Richter[s] um Entscheidung in
der Sache“ (53)
als Voraussetzungen für den Konzessionsentzug. Insoweit bin ich der
Auffassung, dass der Umstand, dass die Entscheidung über
den Konzessionsentzug getroffen wird, bevor eine
strafrechtliche Verurteilung erfolgt ist, nicht zur Rechtswidrigkeit der
Maßnahme führt, die als verhältnismäßig betrachtet werden kann,
soweit der Erlass von Vorbeugemaßnahmen und die Eröffnung
des Strafverfahrens in der italienischen Rechtsordnung
begründete Entscheidungen darstellen, die auf Indizien gestützt sind,
die geeignet sind, vernünftige Zweifel am Leumund der
betroffenen Personen zu begründen. Zudem darf nicht vergessen werden,
dass Art. 23 Abs. 6 einen Schadensersatzanspruch vorsieht.
95. Der zweite
Einwand bezüglich einer zu weitgehenden Definition der zum
Konzessionsentzug führenden Straftatbestände in Art. 23
Abs. 2 des Konzessionsschemas erscheint stichhaltiger. Diese
Bestimmung bezieht sich in erster Linie auf die „im Gesetz Nr. 55
vom 19. Mai 1990 geregelten Straftatbestände“(54),
bildet also einen Tatbestand, der hinreichend eingegrenzt und im
Hinblick auf die Schwere der Straftaten, auf die er sich
bezieht, gerechtfertigt erscheint (es handelt sich um
Straftaten, die im Wesentlichen mit Mafiaaktivitäten im Zusammenhang
stehen). Sodann nimmt sie allerdings viel allgemeiner auf
„Straftaten, die geeignet sind, die vom Vertrauen getragenen Beziehungen
mit der AAMS zu zerrütten“, Bezug. Sofern das vorlegende
Gericht nicht der Auffassung ist, dass dieser letzte Halbsatz
hinreichend
klar die Art von Straftaten umschreibt, auf die sich die
Bestimmung bezieht, könnte sie insoweit unverhältnismäßig sein, da
sie die italienischen Behörden dazu ermächtigen könnte, eine
Entscheidung mit so schwerwiegenden Folgen wie den Entzug der
Konzession unter Umständen, die nichts mit der Veranstaltung
von Spielen und Wetten zu tun hat, zu erlassen.
96. Zusammenfassend
bin ich der Auffassung, dass die Art. 49 AEUV und 56 AEUV einer
Bestimmung, die den Entzug einer Glücksspielkonzession
vorsieht, wenn gegen den Konzessionsnehmer, seinen gesetzlichen
Vertreter oder seine Verwaltungsratsmitglieder Vorbeugemaßnahmen
ergriffen werden oder der zuständige Richter um Entscheidung in
der Sache ersucht wird, nicht entgegenstehen, sofern sich
diese Bestimmung auf eindeutig bestimmte Straftatbestände im
Zusammenhang mit dem Glücksspiel bezieht.
VII – Ergebnis
97. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die von der Corte Suprema di Cassazione zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage wie
folgt zu beantworten:
Die Art. 49 AEUV und 56 AEUV sind in Bezug
auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im Bereich der
Sportwetten
dahin auszulegen, dass sie im Rahmen einer Monopolregelung
zugunsten des Staates und eines Konzessions- und Genehmigungssystems
a) einer nationalen Regelung
entgegenstehen, die ausdrücklich und eindeutig einen Schutz für die
Inhaber von Konzessionen, die
früher aufgrund eines Verfahrens erteilt wurden, das
rechtswidrig einen Teil der Wirtschaftsteilnehmer ausschloss, vorsieht.
Es ist Sache der nationalen Gerichte, festzustellen, ob die
nationale Regelung eine derartige Bestimmung mit dieser Reichweite
enthält;
b) einer nationalen Regelung
entgegenstehen, die praktisch die Aufrechterhaltung von
Geschäftspositionen sicherstellt, die aufgrund
eines Verfahrens erworben wurden, das rechtswidrig einen Teil
der Wirtschaftsteilnehmer ausschloss, und insbesondere einem
Verbot für neue Konzessionsnehmer, ihre Annahmestellen näher
als in der festgelegten Entfernung von einer bereits bestehenden
Annahmestelle zu eröffnen;
c) einer nationalen Regelung
entgegenstehen, die einen Konzessionsentzug vorsieht, wenn der
Konzessionsnehmer eine grenzüberschreitende
Tätigkeit im Glücksspielsektor ausübt, ungeachtet der Art und
Weise ihrer Durchführung und auch wenn die Möglichkeit des unmittelbaren
Kontakts zwischen dem Verbraucher und dem Wirtschaftsteilnehmer
und der physischen Kontrolle der im Staatsgebiet ansässigen
Vertreter des Unternehmens zu ordnungspolizeilichen Zwecken
besteht;
d) einer nationalen Regelung, die
es lediglich zulässt, die in einem Katalog oder einer Liste
aufgeführten Spiele anzubieten,
und das Angebot aller anderen Spiele mit dem Entzug der
Konzession bestraft, nicht entgegenstehen, sofern die
Verwaltungsentscheidungen
hinsichtlich der Erstellung der Liste auf objektiven, nicht
diskriminierenden und im Voraus bekannten Kriterien beruhen, die
gerichtlich nachprüfbar sind;
e) einer nationalen Regelung, die
den Entzug einer Glücksspielkonzession vorsieht, wenn gegen den
Konzessionsnehmer, seinen gesetzlichen
Vertreter oder seine Verwaltungsratsmitglieder
Vorbeugemaßnahmen ergriffen werden oder der zuständige Richter um
Entscheidung
in der Sache ersucht wird, nicht entgegenstehen, sofern sich
diese Bestimmung auf eindeutig bestimmte Straftatbestände im
Zusammenhang mit dem Glücksspiel bezieht.
1 – Originalsprache: Spanisch.
2 – Rechtssache C‑67/98, Slg. 1999, I‑7289.
3 – Rechtssache C‑243/01, Slg. 2003, I‑13031 (im Folgenden: Gambelli).
4 – Rechtssachen C‑338/04, C‑359/04 und C‑360/04, Slg. 2007, I‑1891 (im Folgenden: Placanica).
5 – Für eine Zusammenfassung dieser italienischen Rechtsprechung vgl. Ruotolo, G. M., „Il regime italiano del gambling all'esame della Corte di giustizia: rien ne va plus“, Diritto pubblico comparato ed europeo. III (2007), S. 1399. Vgl. auch die Anmerkungen zum Urteil Placanica von Gnes, M., in Giornale di Diritto Amministrativo Nr. 8/2007,
S. 833, und von Schiano, R., in Revue du Droit de l'Union Européenne 2/2007, S. 461.
6 – GURI Nr. 18 vom 11. August 2006.
7 – Er ersetzt Art. 1 Abs. 287 des Gesetzes Nr. 311 vom 30. Dezember 2004 (Haushaltsgesetz für 2005).
8 – Er ersetzt Art. 1 Abs. 498 des Gesetzes Nr. 311 vom 30. Dezember 2004.
9 – Testo Unico delle Leggi di Publica Sicurezza in seiner Fassung durch das Gesetz Nr. 388 vom 23. Dezember 2000.
10 – Fassung durch das Gesetz Nr. 388 vom 23. Dezember 2000.
11 – Beilage zum GURI Nr. 305 vom 31. Dezember 2002.
12 – GURI Nr. 111 vom 14. Mai 2005.
13 – Rechtsmittel Nr. 10869/2006.
14
– Urteile vom 13. März 2001, PreußenElektra (C‑379/98, Slg. 2001,
I‑2099, Randnr. 38), vom 10. März 2009, Hartlauer (C‑169/07,
Slg. 2009, I‑1721, Randnr. 24), und vom 8. September 2010, Stoß
u. a. (verbundene Rechtssachen C‑316/07, C‑358/07 bis C‑360/07,
C‑409/07 und C‑410/07, Slg. 2010, I‑0000, im Folgenden: Stoß,
Randnr. 51).
15
– Beschlüsse vom 19. März 1993, Banchero (C‑157/92, Slg. 1993,
I‑1085, Randnr. 4), vom 7. April 1995, Grau Gomis u. a. (C‑167/94,
Slg. 1995, I‑1023, Randnr. 8), und vom 23. Dezember 2009,
Spector Photo Group (C‑45/08, Slg. 2009, I‑12073, Randnr. 26).
16 – Vgl. u. a. Urteile vom 30. November 1995, Gebhard (C‑55/94, Slg. 1995, I‑4165, Randnr. 37), und vom 25. Juli 1991, Säger
(C‑76/90, Slg. 1991, I‑4221, Randnr. 12).
17 – Vgl. statt aller Urteil Gambelli, Randnrn. 65 und 67.
18 – Urteil vom 24. März 1994 (C‑275/92, Slg. 1994, I‑1039).
19
– Urteil Schindler, Randnrn. 60 f. Auf derselben Linie die Urteile
vom 21. September 1999, Läärä u. a. (C‑124/97, Slg. 1999,
I‑6067, Randnr. 13), Zenatti, Randnrn. 14 f., Gambelli,
Randnr. 63, Placanica, Randnr. 47, vom 8. September 2009, Liga
Portuguesa
de Futebol Profissional und Bwin International (C‑42/07, Slg.
2009, I‑7633, im Folgenden: Liga Portuguesa, Randnr. 57), und
Urteil Stoß, Randnrn. 76 f.
20 – Urteil Placanica, Randnr. 48.
21 – Vgl. statt aller Urteil Placanica, Randnr. 46.
22
– Randnr. 54. Anders als im Urteil Gambelli, in dem er die Feststellung
der tatsächlichen Ziele der streitigen Regelung dem
italienischen Gericht überließ, nahm der Gerichtshof im Urteil
Placanica die Prüfung im Licht der von der Corte Suprema di
Cassazzione und der italienischen Regierung beigebrachten
Informationen selbst vor.
23 – Diese Entscheidung ist älter als das Urteil Placanica, liegt aber, wie weiter unten gezeigt wird, auf einer Linie mit den
in diesem Urteil vorgeschlagenen Lösungen.
24
– Urteil Placanica, Randnr. 55. Nach Randnr. 63 des Urteils Liga
Portuguesa kann „die Bekämpfung der Kriminalität ein zwingender
Grund des Allgemeininteresses sein …, der geeignet ist,
Beschränkungen hinsichtlich der Wirtschaftsteilnehmer zu rechtfertigen,
denen es gestattet ist, Dienstleistungen im Glücksspielsektor
anzubieten. Glücksspiele bergen nämlich in Anbetracht der Höhe
der Beträge, die mit ihnen eingenommen werden können, und der
Gewinne, die sie den Spielern bieten können, eine erhöhte Gefahr
von Betrug und anderen Straftaten.“
25 – Urteile Placanica, Randnr. 49, und Stoß, Randnr. 9.
26 – Urteile Gambelli, Randnr. 59, und Placanica, Randnr. 42.
27 – Urteil Liga Portuguesa, Randnrn. 63 und 70.
28
– Selbst wenn diese Maßnahme unterschiedslos anwendbar wäre, würde sie
ihre Ausübung durch Unionsbürger behindern oder weniger
attraktiv machen und dadurch den Marktzugang von Unternehmen
aus anderen Mitgliedstaaten und den innergemeinschaftlichen Handel
erschweren. In diesem Sinne die Urteile vom 5. Oktober 2004,
CaixaBank France (C‑442/02, Slg. 2004, I‑8961, Randnr. 11), vom
14. Oktober 2002, Kommission/Niederlande (C‑299/02, Slg. 2002,
I‑9761, Randnr. 15), und vom 28. April 2009, Kommission/Italien
(C‑518/06, Slg. 2009, I‑3491, Randnr. 64).
29
– Die Rechtsprechung schließt bekanntlich aus, dass rein
wirtschaftliche Ziele insoweit zwingende Gründe des Allgemeininteresses
darstellen können. Vgl. in diesem Sinne das Urteil vom 24. März
2011, Kommission/Spanien (C‑400/08, Slg. 2011, I‑0000, Randnrn. 74
und 95).
30
– Randnr. 63 des Urteils Placanica bezieht sich auf die Folgen, die
sich aus der Rechtswidrigkeit des Ausschlusses einer
bestimmten Anzahl von Wirtschaftsteilnehmern von den
Ausschreibungen von 1999 ergeben und führt hierzu ausdrücklich aus, dass
„[s]owohl eine Rücknahme und eine Neuverteilung der alten
Konzessionen als auch die Ausschreibung einer angemessenen Anzahl
neuer Konzessionen …. in dieser Hinsicht eine angemessene
Lösung sein [könnten]“.
31
– Urteil Placanica, Randnr. 63. Vgl auf dieser Linie auch die dort
angeführten Urteile vom 20. September 2001, Courage und
Crehan (C‑453/99, Slg. 2001, I‑6297, Randnr. 29), sowie vom 19.
September 2006, i‑21 Germany und Arcor (C‑392/04 und C‑422/04,
Slg. 2006, I‑8559, Randnr. 57).
32 – Umgewandelt in das Gesetz Nr. 184 vom 19. November 2008 über Eilmaßnahmen zur Umsetzung der Gemeinschaftspflichten auf
dem Gebiet des Glücksspiels (GURI Nr. 276 vom 25. November 2008).
33 – Der Abstand ist abhängig von der Einwohnerzahl und davon, ob es sich beim Vertrieb der Spiele um eine Haupt- oder eine
Nebentätigkeit handelt.
34 – Art. 38 Abs. 4 Buchst. f und g enthielt ähnliche Bestimmungen für Pferdewettschalter.
35 – Urteil Placanica, Randnr. 54.
36 – Urteil vom 1. Juni 2010 (verbundene Rechtssachen C‑570/07 und C‑571/07, Slg. 2010, I‑0000).
37 – Urteil Blanco Pérez und Chao Gómez, Randnr. 90 sowie die dort angeführte Rechtsprechung.
38 – Vgl. z. B. Urteil Blanco Pérez und Chao Gómez, Randnr. 64.
39 – Rechtssache C‑384/08, Slg. 2010, I‑0000.
40 – Urteil Attanasio Group, Randnrn. 53 bis 56.
41 – Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli (C‑188/10 und C‑189/10, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 49).
42
– Im Urteil Melki ging der Gerichtshof ähnlich vor. Angesichts eines
Problems bei der Auslegung nationalen Rechts schlug
er dem nationalen Gericht zwei Alternativlösungen vor. Die eine
ging von der Auslegung der von diesem Gericht bezeichneten
streitigen Vorschrift aus, die andere von einer nationalen
Rechtsprechung in einem anderen Sinne mit dem Argument, diese könne
„im Einklang“ mit dem Recht der Union stehen (Urteil Melki,
Randnr. 50).
43 – Wie ausgeführt, Bezugnahmen im Schriftsatz Herrn Costas.
44 – Urteil Liga Portuguesa, Randnr. 70.
45 – Urteil Liga Portuguesa, Randnr. 69.
46 – Randnrn. 111 f.
47 – Dieser Mechanismus ist in Art. 5 des Dekrets Nr. 111 vom 1. März 2006 vorgesehen.
48 – Urteil Stoß, Randnrn. 95 f.
49
– Urteile vom 20. Februar 2001, Analir u. a. (C‑205/99, Slg. 2001,
I‑1271, Randnr. 38), vom 17. Juli 2008, Kommission/Frankreich
(C‑389/05, Slg. 2008, I‑5337, Randnr. 94), vom 10. März 2009,
Hartlauer (C‑169/07, Slg. 2009, I‑1721, Randnr. 64), vom 3.
Juni 2010, Sporting Exchange Ltd. (C‑203/08, Slg. 2010, I‑0000,
Randnrn. 49 f.), und vom 8. September 2010, Carmen Media Group
(C‑46/08, Slg. 2010, I‑0000, Randnrn. 86 f.).
50 – Die sich aber allgemein auf „Tatbestände des Konzessionsentzugs“ bezieht.
51
– Die Herren Costa und Cifone sind der Auffassung, dass dieser
Entzugstatbestand in Wirklichkeit einen Grund für den Ausschluss
von den Ausschreibungen darstelle, eine Behauptung, die die
italienische Regierung in Frage gestellt hat. Meiner Ansicht nach
ist dieser Umstand im Rahmen der Prüfung der Rechtssache
irrelevant, denn jedenfalls scheint die prozessuale Situation, in
der sich verschiedene italienische Vertreter Stanleys zum
Zeitpunkt der neuen Ausschreibungen befanden, Einfluss auf ihre
Entscheidung gehabt zu haben, nicht an ihnen teilzunehmen (die
Konzession wäre in jedem Fall sofort entzogen worden).
52
– Diese Feststellung ist allerdings in Anbetracht dessen zu
differenzieren, dass nach der Verlesung dieser Schlussanträge
der Vertreter von Herrn Cifone dem Gerichtshof den
vollständigen Wortlaut von Art. 23 des Konzessionsschemas übermittelt
hat,
von dem dem Gerichtshof nur eine unvollständige Fassung
vorgelegen hatte. Der vorgelegte Text lässt die Annahme zu, dass der
in Art, 23 Abs. 6 des Konzessionsschemas vorgesehene
Schadensersatzanspruch ausschließlich der AAMS zusteht und nicht – wie
von mir zunächst angenommen – dem Konzessionsnehmer, Die
Feststellung, welche Bedeutung dieser Bestimmung zukommt, obliegt
jedenfalls dem vorlegenden Gericht.
53
– Die letztgenannte Entscheidung wird im Rahmen der Voruntersuchung im
Ausgangsverfahren getroffen, wenn das Strafverfahren
im eigentlichen Sinne eröffnet wird. Vgl. die Darstellung
dieser Abschnitte des Strafverfahrens in Italien im Urteil vom 16.
Juni 2005, Pupino (C‑105/03, Slg. 2005, I‑5285,
Randnrn. 13 f.).
54
– Nuove disposizioni per la prevenzione della delinquenza di tipo
mafioso e di altre gravi forme di manifestazione di pericolosità
sociale.