Das Verwaltungsgericht Halle (Saale) hat in einem von der Sozietät Redeker Sellner Dahs geführten Rechtsstreit seine Urteilsbegründung vorgelegt. Mit seinem Urteil vom 11.11.2010 (Az. 3 A 158/09 HAL) hat das Verwaltungsgericht den "Erlaubnisvorbehalt" und das Internetvermittlungsverbot des Glücksspielstaatsvertrags und des sachsen-anhaltischen Glücksspielgesetzes sowie die Regionalität von Lotto für unanwendbar erklärt. Es handelt sich um das erste Urteil zur Lottovermittlung, das nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs vom September 2010 ergangen ist.
In seiner 68-seitigen Begründung führt das Verwaltungsgericht Halle (Saale) aus, sowohl der "Erlaubnisvorbehalt" als auch das Internetvermittlungsverbot und die regionale Begrenzung von Lotto auf das jeweilige Bundesland seien im Fall der Vermittlung staatlicher Lotterien durch Private unionsrechtswidrig. Die Regelungen verletzten die Klägerin in ihrer Dienstleistungsfreiheit aus Art. 56, 57 AEUV.
Vermittlungsverbote unionsrechtswidrig
Die Verbote begründeten einen europarechtswidrigen "umfassenden Ausschluss Privater von der Vermittlung staatlicher Glücksspiele". Der "Erlaubnisvorbehalt" (§ 4 Abs. 1 GlüStV und § 13 GlüG LSA) sei ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt. Er treffe einen Internetlottovermittler wie das umfassende Verbot des § 4 Abs. 4 GlüStV, der die Internetvermittlung verbietet.
Die Regelungen seien nicht gerechtfertigt. Das Ziel einer Eindämmung der Wett- und Spielsucht werde in Deutschland nicht kohärent und systematisch verfolgt. Unabhängig hiervon gebe es kein signifikantes Problem einer Wett- und Spielsucht im Bereich der staatlichen Lotterien, so dass auch das Übermaßverbot verletzt sei.
Keine kohärente und systematische Eindämmung der Wett- und Spielsucht
Im Anschluss an die Urteile des EuGH vom 08.09.2010 sei bei der Prüfung der Kohärenz des deutschen Glücksspielrechts der gesamte Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland - d. h. alle Länder und der Bund - in den Blick zu nehmen. Auch eine Beschränkung der Prüfung auf einen Glücksspielsektor sei unzureichend.
Bereits der EuGH habe auf Grundlage hinreichend verlässlicher Sachverhaltsfeststellungen selbst auf eine Inkohärenz des Glücksspielwesens in Deutschland geschlossen. Gegenteilige Behauptungen stellten ein "Spiel mit Worten" dar. Eine hiervon abweichende Betrachtung verkenne die Bedeutung des EuGH und die Bindungswirkung seiner Vorabentscheidungs-Urteile. Es sei angesichts der recht komplexen Verfahrensschritte, die bis zu einer Entscheidung über einen Vorlagebeschluss regelmäßig zu durchlaufen seien, kaum damit zu rechnen, dass der EuGH einen vorgelegten Sachverhalt wirklich ungeprüft im Sinne einer "baren Münze" voreilig übernehme. Dies war vereinzelt in Kommentierungen zu den EuGH-Urteilen zu lesen. Das Verwaltungsgericht Halle hierzu wörtlich:
"Der Ansatz einiger Oberverwaltungsgerichte, dass nach Abschluss der am 08. September 2010 abgeschlossenen Vorlageverfahren erst einmal zu prüfen sei, ob die Gerichte, die seinerzeit ihre Verfahren dem EuGH vorgelegt haben, diesem einen zutreffenden Sachverhalt mitgeteilt haben (so OVG NW, Beschluss vom 15. November 2010 – 4 B 733/10 – , Juris, Rz. 106; das OVG Berlin-Brandenburg spricht sogar insoweit von einer "nur eingeschränkte(n) Aussagekraft" der Feststellungen der vorlegenden Gerichte: Beschluss vom 05. November 2010 – OVG 1 S 141.10 –, Juris, Rz. 15; vgl. auch VG Braunschweig, Beschluss vom 07. Oktober 2010, n. v., S. 7), verkennt die dargestellte Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens des EuGH."Das Verwaltungsgericht bleibt hier aber nicht stehen, sondern trifft eigene umfangreiche Feststellungen. Die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedsland der Europäischen Union halte kein kohärentes System der Bekämpfung der Wett- und Spielsucht vor. Dies werde bereits durch das Vorhandensein von Spielsystemen belegt, für die es praktisch keine mit dem hier gegenständlichen Verbot vergleichbaren allgemeinen Verbote gebe, nämlich für die Bereiche der Pferdewetten und das Spielen an Glücksspielautomaten. Hinzu komme der Bereich der Spielbanken. Bereits in diesen Bereichen fehle ein kohärentes System der Bekämpfung der Wett- und Spielsucht. Bedenklich sei es, dass hier Private überhaupt "Erlaubnisinhaber [...] sein können, während dies bei den privaten Vermittlern staatlicher Glücksspiele gerade nicht der Fall ist", obwohl solche Glücksspiele in spielsuchtpräventiver Hinsicht gefährlicher als Lotterien seien.
Keine signifikantes Problem einer Wett- und Spielsucht bei den staatlichen Lotterien
Auch ohne die festgestellte "Inkohärenz" verstoße der umfassende Ausschluss Privater bei Lotterien wie Lotto gegen das Übermaßverbot. Denn es könne "von einer Wett- und Spielsucht im Bereich der staatlichen Glücksspiele jedenfalls in einem bedeutsamen Ausmaß nicht gesprochen werden".
Das Verwaltungsgericht trifft hierzu umfangreiche Feststellungen. Diese basieren auf einer sehr umfangreichen Befragung aller Betreuungsgerichte sowie von 100 psychiatrischen Fachkliniken in ganz Deutschland. Das Gericht hatte sie angeschrieben und gefragt, inwieweit sie in der eigenen Praxis der letzten fünf Jahre im Bereich der staatlich veranstalteten Glücksspiele Problemen mit Wett- und Spielsucht begegnet sind und welchen Glücksspielarten diese ggf. zuzuschreiben seien. Das Gericht stellte aufgrund dieser Beantwortung und der Einordnung in bekannte Suchtstudien fest, dass "die Ergebnisse der vorliegenden Befragungen derart eindeutig sind, dass sich weitere Aufklärung hierzu nach der Überzeugung des erkennenden Gerichts erübrigt."
Das Ergebnis der Sachaufklärung ist der "Befund einer im Wesentlichen nicht vorhandenen Wett- und Spielsucht im Bereich der Glücksspiele des staatlichen Lotto-Toto-Blocks".
Das Gericht kommt zum naheliegenden weiteren Schluss, dass sich die Verbote "auch dann nicht rechtfertigen ließen, wenn man – entgegen der oben dargelegten Überzeugung des erkennenden Gerichts – doch eine signifikante Suchtgefahr bei staatlichen Glücksspielen annehmen wollte", weil selbst in einem solchen Fall die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit der Klägerin außer Verhältnis zu dem erstrebten Ziel der Zurückdrängung der (unterstellten) Wett- und Spielsucht stehen würde. Es sei nicht "nicht einmal im Ansatz erkennbar, dass ein gegenüber privaten Vermittlern präventiv zum Einsatz kommendes staatliches Kontrollregime zur Bekämpfung der Gefahr einer Wett- und Spielsucht im Bereich staatlicher Glücksspiele nicht vollkommen ausreichen würde." In diesem Sinne hatte bereits das Verwaltungsgericht Berlin Urteil vom 22.09.2008 (Az. VG 35 A 15.08 – juris) ungeachtet seiner ständigen Rechtsprechung in Sportwetten-Fällen die Unzumutbarkeit der Verbote im spezifischen Fall der Internetlottovermittlung festgestellt.
Keine geltungserhaltende Auslegung des repressiven Verbots hin zu einem Erlaubnisvorbehalt
Eine geltungserhaltende Auslegung der §§ 4 Abs. 1 GlüStV, 13 LGlüG in einen Erlaubnisvorbehalt hat das Verwaltungsgericht intensiv erwogen, aber abgelehnt. Dies
"erscheint dem erkennenden Gericht aber nicht nur wegen der hier nur kurz angerissenen Schwierigkeiten, sondern vor allem schon wegen des immer noch gebotenen Respekts vor der ursprünglichen Regelungsintention des Gesetzgebers ausgeschlossen (a. A. Nds. OVG, Beschluss vom 11. November 2010, aaO).[...]Bedeutung des Urteils für die anstehende Neuregelung
Man hätte es nämlich am Ende bei dem durch die gerichtliche Prüfung gewonnenen gemeinschaftskonformen Regelungstorso nicht nur mit einem Gesetz zu tun, das der Landesgesetzgeber ersichtlich (so) nicht gewollt hat.
[...]
Dagegen ist es nicht Aufgabe der Rechtsprechung, angesichts dieser Sach- und Rechtslage eine Art Interimsregime zu bestimmen. Im vorliegenden Fall wäre ein solches jedenfalls unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht einmal erforderlich. Denn die private Vermittlung staatlicher Glücksspiele durch die Klägerin hatte bis zur Einführung des staatlichen Vermittlungsmonopols im bundesweiten Zuschnitt viele Jahrzehnte stattgefunden, und zwar ohne dass es hierbei zu ordnungsrechtlich relevanten Gefahrenlagen gekommen wäre (vgl. VG Halle, Beschluss vom 26. April 2007 - 3 A 809/06 HAL -, n. v.)."
Die Bedeutung des Urteils für die anstehende Neuregelung liegt auf der Hand. Eine "Weiterentwicklung" des Suchtbekämpfungsmodells des – gescheiterten – Glücksspielstaatsvertrags scheidet aus. Ein Staatsvertrag, der erneut die Vermittlung von Lotterien durch Private innerhalb und außerhalb des Internets beschränkt, die Betätigung als gewerblicher Spielvermittler in das Belieben staatlicher Zulassung stellt oder gar rechtlich ausschließt, erscheint europarechtswidrig. Drastische Beschränkungen des Glücksspielvertriebs bei Lotterien lassen sich weder mit der Eindämmung einer (vermeintlichen) Wett- und Spielsucht begründen noch in ein kohärentes System des Glücksspielrechts einbinden, gleichgültig, ob das Gesetz allein die Spielsuchtbekämpfung voranstellt oder hierneben "gleichrangig" weitere Ziele nennt oder im Versuchswege limitiert Sportwettenvermittlung einzelnen Konzessionsnehmern gestattet.
Dies hat auch Auswirkungen auf die Neuregelung der Sportwettenvermittlung, auf die ebenfalls weite Teile der gerichtlichen Feststellungen zur Inkohärenz zutreffen.
Die Länder sind bereits zweimal – vor dem Bundesverfassungsgericht 2006 und dem Europäischen Gerichtshof 2010 – gescheitert, weil sie die angeführte Suchtbekämpfung nicht zur tatsächlichen Leitschnur des Glücksspielrechts gemacht haben, sondern inkohärent blieben. Nun ist offenkundig, dass im Lottobereich nicht nur Inkohärenz vorliegt, sondern sogar die vermeintlich gefährliche Sucht fehlt. Die Länder würden an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie nun erneut Beschränkungen der Vermittlung von staatlichen Lotterien mit der Eindämmung einer (vermeintlichen) Wett- und Spielsucht begründeten oder den alten Wein auf andere Weise in neue Schläuche füllten, bloß um Restriktionen im Sportwettenbereich begründen zu können. Das staatliche Lotteriemonopol lässt sich so nicht halten. Ein drittes Scheitern können sich die Länder nicht leisten.
Das VG Halle stellt in dem Urteil seine eigenen begrenzten Steuerungsmöglichkeiten fest. Als Gericht kann es nur Rechtsschutz vor übermäßigen Freiheitsbeschränkungen gewähren und Normen unangewendet lassen. Einen Ersatz für unwirksame Verbote, neue, vernünftige Regelungen kann es nicht schaffen. Es bleibt ihm insoweit nichts anderes, als diese Einsicht den Landesministerien für ihre Staatsvertragsentwürfe auf den Weg zu geben. Es ist zu hoffen, dass die Verfasser des neuen Glücksspielstaatsvertrags die Worte lesen, mit denen das Gericht an die Verantwortung des Gesetzgebers erinnert:
"Eine Gesetzgebung, die sich indessen auf den Erlass von Verboten beschränkt, statt hier im notwendigen internationalen Verbund mit Gesetzgebern anderer Länder regulierend tätig zu werden, behindert sich selbst, weil sie große Bereiche, in denen evidenter Regelungsbedarf besteht, wegen des bestehenden universellen Verbots aus ihren Überlegungen ausblendet – das typische Beispiel für eine sich selbst blockierende Gesetzgebung –, müsste, wie das Beispiel der Prohibition lehrt, für das erstrebte Ziel (hier: den Erhalt des staatlichen Glücksspielmonopols) auf Dauer einen hohen Preis zahlen."Kontakt:
Redeker Sellner Dahs
Rechtsanwälte · Partnerschaftsgesellschaft
Rechtsanwalt Dr. Gero Ziegenhorn
Leipziger Platz 3
10117 Berlin
Der lesenswerte Volltext der Entscheidung des VG Halle kann hier eingesehen werden.