Dienstag, 19. März 2013

EuGH Rs. 8/81 Becker vom 19.01.1982

Im Zusammenhang mit dem Vorabentscheidungsersuchen des FG Hamburg möchte ich die Becker-Entscheidung des EuGH in Erinnerung rufen und habe diese hier in Auszügen veröffentlicht. 

Bereits in der Rechtssache 8/81 (Becker, Slg. 1982, 53) wurde vom Gerichtshof der europäischen Gemeinschaft der Gestaltungsspielraum dahingehend eingeschränkt, dass sich die "Bedingungen" in keiner Weise auf den Inhalt der vorgegebenen Steuerbefreiung erstrecken dürfen.
(vgl. Leitsatz Nr 3, Rn 20 ff, 25, 33, 43, 44, 45, 46)


19. Januar 1982

(Auszug)

Rechtssache 8/81





Ursula Becker

gegen
 Finanzamt Münster-Innenstadt

Ersuchen um Vorabentscheidung:
Finanzgericht Münster - Deutschland. Wirkung der Richtlinien.

( RICHTLINIE 77/388 DES RATES , ARTIKEL 13 TEIL B BUCHSTABE D NR . 1 )

8 DAS FINANZAMT BERIEF SICH VOR DEM FINANZGERICHT DARAUF, DASS ZU DER BETREFFENDEN ZEIT DIE SECHSTE RICHTLINIE IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND NOCH NICHT DURCHGEFÜHRT WORDEN WAR. ES FÜHRTE AUSSERDEM AUS, NACH ÜBEREINSTIMMENDER AUFFASSUNG SÄMTLICHER MITGLIEDSTAATEN KÖNNE ARTIKEL 13 TEIL B NICHT ALS EINE BESTIMMUNG ANGESEHEN WERDEN, DIE UNMITTELBAR GELTENDES RECHT BEGRÜNDE, WEIL SIE DEN MITGLIEDSTAATEN EINEN ERMESSUNGSSPIELRAUM EINRÄUME.

9 ZUR ENTSCHEIDUNG DIESES RECHTSSTREITS HAT DAS FINANZGERICHT DEM GERICHTSHOF DIE FOLGENDE FRAGE VORGELEGT:

„IST DIE BESTIMMUNG ÜBER DIE UMSATZSTEUERFREIHEIT DER UMSÄTZE AUS DER KREDITVERMITTLUNG IN ABSCHNITT X ARTIKEL 13 TEIL B BUCHSTABE D NUMMER 1 DER SECHSTEN RICHTLINIE DES RATES VOM 17. MAI 1977 ZUR HARMONISIERUNG DER RECHTSVORSCHRIFTEN DER MITGLIEDSTAATEN ÜBER DIE UMSATZSTEUER - GEMEINSAMES MEHRWERTSTEUERSYSTEM: EINHEITLICHE STEUERPFLICHTIGE BEMESSUNGSGRUNDLAGE (77/388/EWG) AB 1. JANUAR 1979 UNMITTELBAR GELTENDES RECHT IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND?“

25 DEMNACH KÖNNEN SICH DIE EINZELNEN IN ERMANGELUNG VON FRISTGMÄSS ERLASSENEN DURCHFÜHRUNGSMASSNAHMEN AUF BESTIMMUNGEN EINER RICHTLINIE, DIE INHALTLICH ALS UNBEDINGT UND HINREICHEND GENAU ERSCHEINEN, GEGENÜBER ALLEN INNERSTAATLICHEN, NICHT RICHTLINIENKONFORMEN VORSCHRIFTEN BERUFEN; EINZELNE KÖNNEN SICH AUF DIESE BESTIMMUNGEN AUCH BERUFEN, SOWEIT DIESE RECHTE FESTLEGEN, DIE DEM STAAT GEGENÜBER GELTEND GEMACHT WERDEN KÖNNEN.

32 DAZU IST VORAB ZU BEMERKEN, DASS DIESE „BEDINGUNGEN“ SICH IN KEINER WEISE AUF DEN INHALT DER VORGESEHENEN STEUERBEFREIUNG ERSTRECKEN.

33 ZUM EINEN SOLLEN DIE GENANNTEN „BEDINGUNGEN“ EINE KORREKTE UND EINFACHE ANWENDUNG DER STEUERBEFREIUNGEN GEWÄHRLEISTEN. EINEM STEUERPFLICHTIGEN, DER IN DER LAGE IST ZU BEWEISEN, DASS ER STEUERRECHTLICH UNTER EINEN BEFREIUNGSTATBESTAND DER RICHTLINIE FÄLLT, KANN EIN MITGLIEDSTAAT NICHT ENTGEGENHALTEN, DASS ER DIE VORSCHRIFTEN, DIE DIE ANWENDUNG EBEN DIESER STEUERBEFREIUNG ERLEICHTERN SOLLEN, NICHT ERLASSEN HAT.

34 ZUM ANDEREN BEZIEHEN SICH DIE „BEDINGUNGEN“ AUF MASSNAHMEN ZUR VERHÜTUNG VON STEUERHINTERZIEHUNGEN, STEUERUMGEHUNGEN UND ETWAIGEN MISSBRÄUCHEN. EIN MITGLIEDSTAAT, DER ES VERSÄUMT HAT, DIE DAFÜR ERFORDERLICHEN VORKEHRUNGEN ZU TREFFEN, DARF SICH NICHT AUF SEINE EIGENE UNTÄTIGKEIT BERUFEN, UM EINEM STEUERPFLICHTIGEN DIE VERGÜNSTIGUNG EINER STEUERBEFREIUNG ZU VERWEIGERN, DIE DIESER AUFGRUND DER RICHTLINIE ZU RECHT BEANSPRUCHEN KANN, ZUMAL NICHTS DEN STAAT DARAN HINDERT, MANGELS BESONDERER VORSCHRIFTEN IN DIESEM BEREICH AUF DIE EINSCHLAEGIGEN VORSCHRIFTEN SEINER ALLGEMEINEN GESETZE GEGEN STEUERHINTERZIEHUNG ZURÜCKZUGREIFEN.

38 DIESE ARGUMENTATION VERKENNT DIE BEDEUTUNG VON ARTIKEL 13 TEIL C. KRAFT DER BEFUGNIS, DIE DIESE BESTIMMUNG EINRÄUMT, KÖNNEN DIE MITGLIEDSTAATEN DEN STEUERPFLICHTIGEN, DIE UNTER DIE STEUERBEFREIUNGEN DER RICHTLINIE FALLEN, GESTATTEN, SEI ES IN ALLEN FÄLLEN, SEI ES IN BESTIMMTEN GRENZEN ODER AUCH NACH BESTIMMTEN MODALITÄTEN, AUF DIE BEFREIUNG ZU VERZICHTEN. HERVORZUHEBEN IST JEDOCH, DASS NACH DER GENANNTEN BESTIMMUNG DANN, WENN DER MITGLIEDSTAAT VON DER BEFUGNIS GEBRAUCH MACHT, DIE AUSÜBUNG DER UNTER DIESEN VORAUSSETZUNGEN EINGERÄUMTEN OPTION ALLEIN DEM STEUERPFLICHTIGEN UND NICHT DEM STAAT ZUSTEHT.

39 DARAUS FOLGT, DASS ARTIKEL 13 TEIL C DIE MITGLIEDSTAATEN KEINESWEGS DAZU BERECHTIGT, DIE IN TEIL B VORGESEHENEN STEUERBEFREIUNGEN IN IRGENDEINER WEISE EINZUSCHRÄNKEN ODER AN VORAUSSETZUNGEN ZU KNÜPFEN; ER GIBT DEN STAATEN LEDIGLICH DIE BEFUGNIS, DEN UNTER DIESE STEUERBEFREIUNGEN FALLENDEN STEUERPFLICHTIGEN MEHR ODER WENIGER WEITGEHEND DIE MÖGLICHKEIT ZU ERÖFFNEN , SELBST FÜR EINE BESTEUERUNG ZU OPTIEREN , WENN SIE DAS FÜR VORTEILHAFT HALTEN.


Direktlinks:
Urteil: ECLI:EU:C:1982:7  (pdf-download)
Schlussanträge: ECLI:EU:C:1981:271  (pdf-download)

Der Generalanwalt führte bereits in der RS Becker 8/81 aus, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht in der Lage war die Richtlinie innerhalb der dafür festgesetzten Zeit durchzuführen, auch nicht innerhalb der festgesetzen Verlängerung, weshalb die Kommission am 13.8.79 vor dem Gerichtshof Klage nach Art. 169 EWG-Vertrag (Rs. 132/79) erhob.

Am 26.11.1979 wurde schließlich ein Gesetz zur Durchführung der Richtlinie mit Wirkung zum 1.1.1980 erlassen. woraufhin die Kommission ihre Klage zurücknahm.

“In den Urteilen in den Rechtssachen 51/76 (Nederlandse Ondernemingen/Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen, Sig. 1977, 113) 148/78 (Ratti, Sig. 1979, 1629) und 102/79 (Kommission/Belgien, Slg. 1980, 1473) hat der Gerichtshof entschieden, daß ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, einer an ihn gerichteten Richtlinie Wirkung zu verleihen, auch wenn ihm die Wahl der Form und der Mittel zur Erreichung der Richtlinienziele überlassen bleibt. Führt der Mitgliedstaat die Richtlinie nicht durch, so kann sich ein einzelner auf ihre Bestimmungen gegenüber dem Mitgliedstaat berufen, wenn diese unbedingt und hinreichend genau sind. Der Staat kann keinen Vorteil aus der Tatsache ziehen, daß er nicht rechtzeitig tätig geworden ist-und nicht geltend machen, die Richtlinie sei noch nicht in Kraft.“
“Die Frage ist also nicht die, ob die Richtlinie „unmittelbar gilt“, sondern ob ihre Bestimmungen dergestalt sind, daß sich der einzelne darauf gegenüber dem Mitgliedstaat berufen kann, der es pflichtwidrig unterlassen hat, sie durchzuführen.“

.....Kernfrage lautet: War die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, Artikel 13 B Buchstabe d Nr. 1 durchzuführen, und ist diese Bestimmung unbedingt und hinreichend genau, so daß sich ein einzelner auch dann darauf berufen kann, wenn der Mitgliedstaat sie nicht durchgeführt hat?
Zunächst ist behauptet worden, wegen des Einleitungssatzes zu Artikel 13 B bestehe keine unbedingte und hinreichend genaue Verpflichtung, die genannten Tätigkeiten und Umsätze von der Steuer zu befreien. Den Mitgliedstaaten sei nämlich die Befugnis eingeräumt, Bedingungen „zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen" festzusetzen.

Die Kommission hat vorgetragen, bei den Bedingungen, denen die Steuerbefreiung nach Artikel 13 B unterliege, handele es sich um flankierende Maßnahmen, die an dem unbedingten und zwingenden Charakter der den Mitgliedstaaten auferlegten Verpflichtung nichts änderten. Die Mitgliedstaaten hätten nur einen Gestaltungsspielraum, um die korrekte Anwendung der vorgesehenen Steuerbefreiung sowie die Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Mißbräuchen zu gewährleisten.

Ich halte das Vorbringen der Kommission in diesem Punkt für eindeutig richtig. Die Bedingungen, die festgesetzt werden können, beschränken sich auf Maßnahmen, durch die a) die Steuerbefreiungen korrekt und einfach angewandt werden können, um gerechtfertigte Befreiungen zu gewähren und ungerechtfertigte Ansprüche zurückzuweisen, sowie b) Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Mißbräuche der Befreiungsvorschriften verhindert werden können. Wo spezifische steuerfreie Umsätze definiert sind, steht es dem Mitgliedstaat nicht frei, diese Umsatzdefinition zu ändern. Der Umstand, daß der Mitgliedstaat durch Ausnahmeregelung den Umfang der Steuerbefreiung gemäß Artikel 13 B Buchstabe b beschränken kann, macht die Bestimmung der steuerfreien Umsätze nach Teil B Buchstabe d nicht hinfällig und deren Anwendung auch nicht von Bedingungen abhängig.
Die Befugnis, die in dem Eingangssatz zu Artikel 13 B genannten Bedingungen festzusetzen, entbindet meines Erachtens nicht von der eindeutigen Verpflichtung, „die Vermittlung von Krediten" von der Steuer zu befreien. Die Verpflichtung, dieses Ziel zu erreichen, ist genau und unbedingt.

Darüberhinaus ist vorgebracht worden....
Eine Entscheidung des Gerichtshofes zugunsten von Frau Becker würde zu Rechtsunsicherheit und Schwierigkeiten bei der erneuten Veranlagung bereits erledigter Umsätze führen. Ob die von dem Vertreter des Finanzamtes und der Bundesregierung angeführten verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten tatsächlich auftreten würden, ist reine Spekulation.....
Selbst wenn Anträge auf Nachveranlagung zu verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten führen, so scheinen mir diese im wesentlichen davon herzurühren, daß die Bundesrepublik Deutschland die Richtlinie nicht durchgeführt hat. Sie können nicht geltend gemacht werden, um einen einzelnen daran zu hindern, sich auf die Richtlinienbestimmungen zu berufen, wenn er dazu ansonsten berechtigt ist.



Zusammengestellt von Volker Stiny