Im Zusammenhang mit dem Vorabentscheidungsersuchen des FG Hamburg möchte ich die Becker-Entscheidung des EuGH in Erinnerung rufen und habe diese hier in Auszügen veröffentlicht.
Bereits in der Rechtssache 8/81 (Becker, Slg. 1982, 53) wurde vom Gerichtshof der europäischen Gemeinschaft der Gestaltungsspielraum dahingehend eingeschränkt, dass sich die "Bedingungen" in keiner Weise auf den Inhalt der vorgegebenen Steuerbefreiung erstrecken dürfen. (vgl. Leitsatz Nr 3, Rn 20 ff, 25, 33, 43, 44, 45, 46)
19. Januar
1982
(Auszug)
Rechtssache
8/81
Ursula Becker
gegen
Finanzamt
Münster-Innenstadt
Ersuchen um
Vorabentscheidung:
Finanzgericht Münster -
Deutschland. Wirkung der Richtlinien.
( RICHTLINIE
77/388 DES RATES , ARTIKEL 13 TEIL B BUCHSTABE D NR . 1 )
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DAS FINANZAMT BERIEF SICH VOR DEM FINANZGERICHT DARAUF, DASS ZU DER BETREFFENDEN
ZEIT DIE SECHSTE RICHTLINIE IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND NOCH NICHT
DURCHGEFÜHRT WORDEN WAR. ES FÜHRTE AUSSERDEM AUS, NACH ÜBEREINSTIMMENDER
AUFFASSUNG SÄMTLICHER MITGLIEDSTAATEN KÖNNE ARTIKEL 13 TEIL B NICHT ALS EINE
BESTIMMUNG ANGESEHEN WERDEN, DIE UNMITTELBAR GELTENDES RECHT BEGRÜNDE, WEIL SIE
DEN MITGLIEDSTAATEN EINEN ERMESSUNGSSPIELRAUM
EINRÄUME.
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ZUR ENTSCHEIDUNG DIESES RECHTSSTREITS HAT DAS FINANZGERICHT DEM GERICHTSHOF DIE
FOLGENDE FRAGE VORGELEGT:
„IST
DIE BESTIMMUNG ÜBER DIE UMSATZSTEUERFREIHEIT DER UMSÄTZE AUS DER
KREDITVERMITTLUNG IN ABSCHNITT X ARTIKEL 13 TEIL B BUCHSTABE D NUMMER 1 DER
SECHSTEN RICHTLINIE DES RATES VOM 17. MAI 1977 ZUR HARMONISIERUNG DER
RECHTSVORSCHRIFTEN DER MITGLIEDSTAATEN ÜBER DIE UMSATZSTEUER - GEMEINSAMES
MEHRWERTSTEUERSYSTEM: EINHEITLICHE STEUERPFLICHTIGE BEMESSUNGSGRUNDLAGE
(77/388/EWG) AB 1. JANUAR 1979 UNMITTELBAR GELTENDES RECHT IN DER BUNDESREPUBLIK
DEUTSCHLAND?“
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DEMNACH KÖNNEN SICH DIE EINZELNEN IN ERMANGELUNG VON FRISTGMÄSS ERLASSENEN
DURCHFÜHRUNGSMASSNAHMEN AUF BESTIMMUNGEN EINER RICHTLINIE, DIE INHALTLICH ALS
UNBEDINGT UND HINREICHEND GENAU ERSCHEINEN, GEGENÜBER ALLEN INNERSTAATLICHEN,
NICHT RICHTLINIENKONFORMEN VORSCHRIFTEN BERUFEN; EINZELNE KÖNNEN SICH AUF DIESE
BESTIMMUNGEN AUCH BERUFEN, SOWEIT DIESE RECHTE FESTLEGEN, DIE DEM STAAT
GEGENÜBER GELTEND GEMACHT WERDEN KÖNNEN.
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DAZU IST VORAB ZU BEMERKEN, DASS DIESE „BEDINGUNGEN“ SICH IN KEINER WEISE AUF
DEN INHALT DER VORGESEHENEN STEUERBEFREIUNG
ERSTRECKEN.
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ZUM EINEN SOLLEN DIE GENANNTEN „BEDINGUNGEN“
EINE KORREKTE UND EINFACHE ANWENDUNG DER STEUERBEFREIUNGEN GEWÄHRLEISTEN. EINEM
STEUERPFLICHTIGEN, DER IN DER LAGE IST ZU BEWEISEN, DASS ER STEUERRECHTLICH
UNTER EINEN BEFREIUNGSTATBESTAND DER RICHTLINIE FÄLLT, KANN EIN MITGLIEDSTAAT
NICHT ENTGEGENHALTEN, DASS ER DIE VORSCHRIFTEN, DIE DIE ANWENDUNG EBEN DIESER
STEUERBEFREIUNG ERLEICHTERN SOLLEN, NICHT ERLASSEN
HAT.
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ZUM
ANDEREN BEZIEHEN SICH DIE „BEDINGUNGEN“ AUF MASSNAHMEN ZUR VERHÜTUNG VON
STEUERHINTERZIEHUNGEN, STEUERUMGEHUNGEN UND ETWAIGEN
MISSBRÄUCHEN.
EIN MITGLIEDSTAAT, DER ES VERSÄUMT HAT, DIE DAFÜR ERFORDERLICHEN VORKEHRUNGEN ZU
TREFFEN, DARF SICH NICHT AUF SEINE EIGENE UNTÄTIGKEIT BERUFEN, UM EINEM
STEUERPFLICHTIGEN DIE VERGÜNSTIGUNG EINER STEUERBEFREIUNG ZU VERWEIGERN, DIE
DIESER AUFGRUND DER RICHTLINIE ZU RECHT BEANSPRUCHEN KANN, ZUMAL NICHTS DEN
STAAT DARAN HINDERT, MANGELS BESONDERER VORSCHRIFTEN IN DIESEM BEREICH AUF DIE
EINSCHLAEGIGEN VORSCHRIFTEN SEINER ALLGEMEINEN GESETZE GEGEN STEUERHINTERZIEHUNG
ZURÜCKZUGREIFEN.
38 DIESE ARGUMENTATION VERKENNT DIE BEDEUTUNG
VON ARTIKEL 13 TEIL C. KRAFT DER BEFUGNIS, DIE DIESE BESTIMMUNG EINRÄUMT, KÖNNEN
DIE MITGLIEDSTAATEN DEN STEUERPFLICHTIGEN, DIE UNTER DIE STEUERBEFREIUNGEN DER
RICHTLINIE FALLEN, GESTATTEN, SEI ES IN ALLEN FÄLLEN, SEI ES IN BESTIMMTEN
GRENZEN ODER AUCH NACH BESTIMMTEN MODALITÄTEN, AUF DIE BEFREIUNG ZU VERZICHTEN.
HERVORZUHEBEN IST JEDOCH, DASS NACH DER GENANNTEN BESTIMMUNG DANN, WENN DER
MITGLIEDSTAAT VON DER BEFUGNIS GEBRAUCH MACHT, DIE AUSÜBUNG DER UNTER DIESEN
VORAUSSETZUNGEN EINGERÄUMTEN OPTION ALLEIN DEM STEUERPFLICHTIGEN UND NICHT DEM
STAAT ZUSTEHT.
39 DARAUS
FOLGT,
DASS
ARTIKEL 13 TEIL C DIE MITGLIEDSTAATEN KEINESWEGS DAZU BERECHTIGT,
DIE
IN TEIL B
VORGESEHENEN STEUERBEFREIUNGEN IN IRGENDEINER WEISE EINZUSCHRÄNKEN ODER AN
VORAUSSETZUNGEN ZU KNÜPFEN;
ER GIBT DEN STAATEN LEDIGLICH DIE BEFUGNIS, DEN UNTER DIESE STEUERBEFREIUNGEN
FALLENDEN STEUERPFLICHTIGEN MEHR ODER WENIGER WEITGEHEND DIE MÖGLICHKEIT ZU
ERÖFFNEN , SELBST FÜR EINE BESTEUERUNG ZU OPTIEREN , WENN SIE DAS FÜR
VORTEILHAFT HALTEN.
Direktlinks:
Urteil: ECLI:EU:C:1982:7 (pdf-download)
Schlussanträge: ECLI:EU:C:1981:271 (pdf-download)
Der Generalanwalt führte bereits in der RS Becker 8/81 aus, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht in der Lage war die Richtlinie innerhalb der dafür festgesetzten Zeit durchzuführen, auch nicht innerhalb der festgesetzen Verlängerung, weshalb die Kommission am 13.8.79 vor dem Gerichtshof Klage nach Art. 169 EWG-Vertrag (Rs. 132/79) erhob.
Am 26.11.1979 wurde schließlich ein Gesetz zur Durchführung der Richtlinie mit Wirkung zum 1.1.1980 erlassen. woraufhin die Kommission ihre Klage zurücknahm.
“In den Urteilen in den Rechtssachen 51/76 (Nederlandse Ondernemingen/Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen, Sig. 1977, 113) 148/78 (Ratti, Sig. 1979, 1629) und 102/79 (Kommission/Belgien, Slg. 1980, 1473) hat der Gerichtshof entschieden, daß ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, einer an ihn gerichteten Richtlinie Wirkung zu verleihen, auch wenn ihm die Wahl der Form und der Mittel zur Erreichung der Richtlinienziele überlassen bleibt. Führt der Mitgliedstaat die Richtlinie nicht durch, so kann sich ein einzelner auf ihre Bestimmungen gegenüber dem Mitgliedstaat berufen, wenn diese unbedingt und hinreichend genau sind. Der Staat kann keinen Vorteil aus der Tatsache ziehen, daß er nicht rechtzeitig tätig geworden ist-und nicht geltend machen, die Richtlinie sei noch nicht in Kraft.“
“Die Frage ist also nicht die, ob die Richtlinie „unmittelbar gilt“, sondern ob ihre Bestimmungen dergestalt sind, daß sich der einzelne darauf gegenüber dem Mitgliedstaat berufen kann, der es pflichtwidrig unterlassen hat, sie durchzuführen.“
.....Kernfrage lautet: War die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, Artikel 13 B Buchstabe d Nr. 1 durchzuführen, und ist diese Bestimmung unbedingt und hinreichend genau, so daß sich ein einzelner auch dann darauf berufen kann, wenn der Mitgliedstaat sie nicht durchgeführt hat?
Zunächst ist behauptet worden, wegen des Einleitungssatzes zu Artikel 13 B bestehe keine unbedingte und hinreichend genaue Verpflichtung, die genannten Tätigkeiten und Umsätze von der Steuer zu befreien. Den Mitgliedstaaten sei nämlich die Befugnis eingeräumt, Bedingungen „zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen" festzusetzen.
Die Kommission hat vorgetragen, bei den Bedingungen, denen die Steuerbefreiung nach Artikel 13 B unterliege, handele es sich um flankierende Maßnahmen, die an dem unbedingten und zwingenden Charakter der den Mitgliedstaaten auferlegten Verpflichtung nichts änderten. Die Mitgliedstaaten hätten nur einen Gestaltungsspielraum, um die korrekte Anwendung der vorgesehenen Steuerbefreiung sowie die Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Mißbräuchen zu gewährleisten.
Ich halte das Vorbringen der Kommission in diesem Punkt für eindeutig richtig. Die Bedingungen, die festgesetzt werden können, beschränken sich auf Maßnahmen, durch die a) die Steuerbefreiungen korrekt und einfach angewandt werden können, um gerechtfertigte Befreiungen zu gewähren und ungerechtfertigte Ansprüche zurückzuweisen, sowie b) Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Mißbräuche der Befreiungsvorschriften verhindert werden können. Wo spezifische steuerfreie Umsätze definiert sind, steht es dem Mitgliedstaat nicht frei, diese Umsatzdefinition zu ändern. Der Umstand, daß der Mitgliedstaat durch Ausnahmeregelung den Umfang der Steuerbefreiung gemäß Artikel 13 B Buchstabe b beschränken kann, macht die Bestimmung der steuerfreien Umsätze nach Teil B Buchstabe d nicht hinfällig und deren Anwendung auch nicht von Bedingungen abhängig.
Die Befugnis, die in dem Eingangssatz zu Artikel 13 B genannten Bedingungen festzusetzen, entbindet meines Erachtens nicht von der eindeutigen Verpflichtung, „die Vermittlung von Krediten" von der Steuer zu befreien. Die Verpflichtung, dieses Ziel zu erreichen, ist genau und unbedingt.
Darüberhinaus ist vorgebracht worden....
Eine Entscheidung des Gerichtshofes zugunsten von Frau Becker würde zu Rechtsunsicherheit und Schwierigkeiten bei der erneuten Veranlagung bereits erledigter Umsätze führen. Ob die von dem Vertreter des Finanzamtes und der Bundesregierung angeführten verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten tatsächlich auftreten würden, ist reine Spekulation.....
Selbst wenn Anträge auf Nachveranlagung zu verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten führen, so scheinen mir diese im wesentlichen davon herzurühren, daß die Bundesrepublik Deutschland die Richtlinie nicht durchgeführt hat. Sie können nicht geltend gemacht werden, um einen einzelnen daran zu hindern, sich auf die Richtlinienbestimmungen zu berufen, wenn er dazu ansonsten berechtigt ist.
Zusammengestellt von Volker Stiny