Bundesverwaltungsgericht hält Regelung zur eingeschränkten Rückwirkung telekommunikationsrechtlicher Entgeltgenehmigungen für verfassungswidrig
Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorzulegen, ob die in § 35 Abs. 5 Satz 2 und 3 des Telekommunikationsgesetzes getroffene Regelung zur Rückwirkung telekommunikationsrechtlicher Entgeltgenehmigungen der Bundesnetzagentur mit der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) und der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) vereinbar ist.
Quelle: PM Nr. 15/2014
Das Bundesverwaltungsgericht entschied bereits 2010:
BVerwG 9 CN 1.09 vom 09.06.2010
Rn25 Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt vom Normgeber, die Rechtsvorschriften so genau zu fassen, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist (BVerfG, Urteil vom 17. November 1992 - 1 BvL 8/87 - BVerfGE 87, 234 <263>; Beschlüsse vom 9. August 1995 - 1 BvR 2263/94 und 229, 534/95 - BVerfGE 93, 213 <238> und vom 18. Mai 2004 - 2 BvR 2374/99 - BVerfGE 110, 370 <396>). Dem entspricht § 7 Abs. 5 Satz 1 VStS nicht, weil die Frist, binnen der ein Antrag auf Änderung der Steuerfestsetzung für zurückliegende Zeiträume gestellt werden muss, nicht eingehalten werden kann. Danach kann eine Änderung der Steuerfestsetzung für zurückliegende Erhebungszeiträume nur innerhalb von sechs Wochen nach Inkrafttreten der Satzung beantragt werden. § 11 der Satzung bestimmt deren Inkrafttreten rückwirkend zum 19. Januar 1992. Die Antragsfrist wäre danach schon im Zeitpunkt der Bekanntmachung der Satzung durch Abdruck im amtlichen Bekanntmachungsblatt der Antragsgegnerin „E.“ vom 14. September 2006 verstrichen gewesen. Angesichts des klaren Wortlauts der Norm lässt sich auch nicht durch verfassungskonforme Auslegung ermitteln, ab welchem anderen Termin die Sechs-Wochen-Frist laufen soll. Die Unwirksamkeit der Fristbestimmung in § 7 Abs. 5 Satz 1 VStS erfasst nicht die gesamte Satzung, weil nicht anzunehmen ist, dass der Satzungsgeber die Option für eine Besteuerung nach dem Spieleinsatz für zurückliegende Erhebungszeiträume ohne eine Fristbindung des darauf gerichteten Antrags nicht eröffnet hätte. 396>238>263>
Bundesverfassungsgericht: Rückwirkende Gesetzänderungen sind nur ausnahmsweise zulässig
L e i t s ä t z e
zum Beschluss des Ersten Senats vom 17. Dezember 2013
1 BvL 5/08
Den Inhalt geltenden Rechts kann der Gesetzgeber mit Wirkung für die Vergangenheit nur in den verfassungsrechtlichen Grenzen für eine rückwirkende Rechtsetzung feststellen oder klarstellend präzisieren.
Eine nachträgliche, klärende Feststellung des geltenden Rechts durch den Gesetzgeber ist grundsätzlich als konstitutiv rückwirkende Regelung anzusehen, wenn dadurch eine in der Fachgerichtsbarkeit offene Auslegungsfrage entschieden wird oder eine davon abweichende Auslegung ausgeschlossen werden soll.
BVerfG zu nachträglicher Klarstellung von Gesetzen
Der feine Unterschied zwischen unklar und verworren
Die entsprechende Regelung hat das BVerfG in einem am Donnerstag veröffentlichen Beschluss für nichtig erklärt und somit die ursprüngliche Rechtslage wieder hergestellt (v. 17.12.2013, Az. 1 BvL 5/08).
Die Entscheidung des BVerfG geht in ihren Gründen weit über das Steuerrecht hinaus und hat weitreichende Auswirkungen für die Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetzgeber und Rechtsprechung.
Rückwirkende Gesetzänderungen sind nur ausnahmsweise zulässig
Die vom BVerfG gesetzten Hürden für rückwirkende Klarstellungen seitens des Gesetzgebers sind hoch.
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Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 12/2014 vom 20. Februar 2014
Beschluss vom 17. Dezember 2013
1 BvL 5/08
Klarstellung des geltenden Rechts durch den Gesetzgeber kann als echte Rückwirkung verfassungsrechtlich unzulässig sein
In einem heute veröffentlichten Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts seine Rechtsprechung zur echten Rückwirkung präzisiert. Den Inhalt geltenden Rechts kann der Gesetzgeber mit Wirkung für die Vergangenheit nur in den verfassungsrechtlichen Grenzen für eine rückwirkende Rechtsetzung feststellen oder klarstellend präzisieren. Ein Gesetz, durch das eine offene Auslegungsfrage für die Vergangenheit geklärt werden soll, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht als konstitutive Regelung anzusehen. Eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit der echten Rückwirkung hat der Erste Senat im konkreten Fall verneint und das rückwirkende Gesetz für nichtig erklärt. Die Entscheidung ist im Ergebnis mit 5:3 Stimmen, hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Grundsätze mit 6:2 Stimmen ergangen; der Richter Masing hat ein Sondervotum abgegeben.
Sachverhalt und Verfahrensgang:
Das Verfahren der konkreten Normenkontrolle betrifft die Frage, ob § 43 Abs. 18 des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften (KAGG) gegen das Rückwirkungsverbot verstößt.
1. In der zweiten Jahreshälfte 2003 nahm sich der Gesetzgeber eines Auslegungsproblems zur ertragsteuerlichen Berücksichtigungsfähigkeit von Gewinnminderungen bei Fondsbeteiligungen an. In Frage stand, ob § 8b Abs. 3 Körperschaftsteuergesetz (KStG) in der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung auch auf Kapitalanlagegesellschaften Anwendung findet, obwohl § 40a Abs. 1 KAGG auf diese Vorschrift ursprünglich nicht verwies. Am 22. Dezember 2003 wurde durch das „Korb II-Gesetz“ (BGBl I S. 2840) die Vorschrift des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG eingefügt, die eine ausdrückliche Verweisung auf § 8b Abs. 3 KStG enthält; gemäß der Begründung des Regierungsentwurfs handelt es sich um eine „redaktionelle Klarstellung“. Nach § 43 Abs. 18 KAGG ist der neue § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG „für alle Veranlagungszeiträume anzuwenden, soweit Festsetzungen noch nicht bestandskräftig sind“.
2. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist eine Bank. In ihrem Umlaufvermögen hielt sie Anteile an Investmentfonds, deren Börsenkurse am 31. Dezember 2002 unter die Buchwerte des Jahresabschlusses 2001 gesunken waren. Die Klägerin nahm gewinnmindernde Abschreibungen vor und behandelte diese zunächst als steuerlich wirksam. Aufgrund des Korb II-Gesetzes reichte die Klägerin beim Finanzamt eine geänderte Körperschaftsteuererklärung für das Jahr 2002 ein. Sie erhöhte gemäß § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG in Verbindung mit § 8b Abs. 3 KStG den Gewinn außerbilanziell um die Abschreibungen, berief sich aber auf die Verfassungswidrigkeit der Rückwirkung. Das mit der Klage befasste Finanzgericht hat das Verfahren ausgesetzt, um eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Es hält § 43 Abs. 18 KAGG für verfassungswidrig, weil die neue Fassung des § 40a Abs. 1 KAGG nicht lediglich klarstellend sei, sondern eine unzulässige echte Rückwirkung entfalte.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
§ 43 Abs. 18 KAGG ist verfassungswidrig und nichtig, soweit er die rückwirkende Anwendung des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG in den Veranlagungszeiträumen 2001 und 2002 anordnet.
1. § 43 Abs. 18 KAGG entfaltet für diese Jahre in formaler Hinsicht echte Rückwirkung. Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet in ständiger Rechtsprechung zwischen Gesetzen mit echter Rückwirkung, die grundsätzlich nicht mit der Verfassung vereinbar sind, und solchen mit unechter Rückwirkung, die grundsätzlich zulässig sind. Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn sie nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt eingreift, insbesondere eine bereits entstandene Steuerschuld ändert. Wirkt sich die Änderung einer Steuerrechtsnorm auf abgelaufene Veranlagungszeiträume aus, liegt insoweit eine echte Rückwirkung vor.
2. Die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Verbots echt rückwirkender Gesetze beanspruchen hier auch in materieller Hinsicht Geltung. § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG ist aus verfassungsrechtlicher Sicht als konstitutive Rechtsänderung zu behandeln.
a) Die im Regierungsentwurf zum Korb II-Gesetz vertretene Auffassung, die Vorschrift habe nur klarstellenden Charakter, ist für die Gerichte nicht verbindlich. Zur verbindlichen Normauslegung ist in aller Regel die rechtsprechende Gewalt berufen; dies gilt auch bei der Frage, ob eine Norm konstitutiven oder deklaratorischen Charakter hat. Der Gesetzgeber hat keine Befugnis zur authentischen Interpretation gesetzlicher Vorschriften. Er ist zwar befugt, den Inhalt einer von ihm gesetzten Norm zu ändern oder klarstellend zu präzisieren und dabei gegebenenfalls eine Rechtsprechung zu korrigieren, mit der er nicht einverstanden ist. Dabei hat er sich jedoch im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu halten.
b) Für die Beantwortung der Frage, ob eine rückwirkende Regelung aus verfassungsrechtlicher Sicht als konstitutiv zu behandeln ist, genügt die Feststellung, dass die geänderte Norm in ihrer ursprünglichen Fassung von den Gerichten in einem Sinn ausgelegt werden konnte, der mit der Neuregelung ausgeschlossen werden sollte. So liegt der Fall hier.
c) Der Wunsch des Gesetzgebers, eine Rechtslage rückwirkend klarzustellen, verdient verfassungsrechtliche Anerkennung grundsätzlich nur in den durch das Rückwirkungsverbot vorgegebenen Grenzen.
Andernfalls würde der rechtsstaatlich gebotene Schutz des Vertrauens in die Stabilität des Rechts empfindlich geschwächt. Angesichts der allgemeinen Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Rechts könnte es dem Gesetzgeber regelmäßig gelingen, einen Klärungsbedarf zu begründen.
Eine von Vertrauensschutzerfordernissen weitgehend freigestellte Befugnis zur rückwirkenden Klarstellung des geltenden Rechts eröffnete dem Gesetzgeber den weit reichenden Zugriff auf zeitlich abgeschlossene Rechtslagen und ließe im Nachhinein politischen Opportunitätserwägungen Raum.
d) Ein legislatives Zugriffsrechtsrecht auf die Vergangenheit folgt auch nicht aus dem Demokratieprinzip, sondern steht zu diesem in einem Spannungsverhältnis. Die demokratische Verantwortung des Parlaments ist auf die Gegenwart und auf die Zukunft bezogen. Früher getroffene legislative Entscheidungen verfügen über eine eigenständige demokratische Legitimation. Der historische Legitimationskontext kann - jedenfalls soweit die Gesetzeswirkungen in der Vergangenheit liegen - nicht ohne Weiteres durch den rückwirkenden Zugriff des heutigen Gesetzgebers ausgeschaltet werden. Auch vom Demokratieprinzip ausgehend muss der Zugriff des Gesetzgebers auf die Vergangenheit die Ausnahme bleiben.
3. Die mit der konstitutiven Wirkung des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG verbundene Belastung ist verfassungswidrig, soweit sie nach § 43 Abs. 18 KAGG hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 2001 und 2002 mit echter Rückwirkung versehen ist.
a) Die im Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten verankerten Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes stehen Gesetzen mit echter Rückwirkung grundsätzlich entgegen. Von diesem Verbot bestehen jedoch Ausnahmen: Das Rückwirkungsverbot gilt nicht, soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig war. Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten, nicht abschließend definierten Fallgruppen handelt es sich um Typisierungen ausnahmsweise fehlenden Vertrauens in eine bestehende Gesetzeslage.
b) Von den anerkannten Fallgruppen kommen hier nur diejenigen der Unklarheit und Verworrenheit der ursprünglichen Gesetzeslage oder ihrer Systemwidrigkeit und Unbilligkeit in Betracht. Keine von beiden vermag jedoch die Rückwirkung des § 43 Abs. 18 KAGG auf die Veranlagungszeiträume 2001 und 2002 zu rechtfertigen.
aa) Die höchstrichterlich nicht geklärte Auslegung des § 40a Abs. 1 KAGG und die insoweit uneinheitliche Rechtsprechung auf der Ebene der Finanzgerichte begründen noch keine verworrene Rechtslage. Allein die
Auslegungsbedürftigkeit einer Norm rechtfertigt nicht deren rückwirkende Änderung. Andernfalls könnte sich insbesondere in den Anfangsjahren einer gesetzlichen Regelung grundsätzlich nie ein schutzwürdiges Vertrauen gegen rückwirkende Änderungen entwickeln, solange sich keine gefestigte Rechtsprechung hierzu herausgebildet hat.
bb) Das ursprüngliche einfache Recht war auch nicht in einer Weise systemwidrig und unbillig, dass dies eine echte Rückwirkung rechtfertigen könnte. Keine der beiden Auslegungsvarianten (Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit des § 8b Abs. 3 KStG auf Kapitalanlagegesellschaften) ist von Verfassungs wegen zwingend geboten.
Eine Ausgestaltung der Besteuerung von Kapitalanlagegesellschaften im Sinne der Auffassung des vorlegenden Gerichts bewegt sich im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, ohne dass ernsthafte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit bestünden. Von einer systemwidrigen Abwälzung der Verluste der Kapitalanlagegesellschaften auf die Allgemeinheit kann vorliegend nicht die Rede sein.
c) Auch über die anerkannten Fallgruppen hinaus besteht hier kein Anlass, von dem im Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten verankerten Vertrauensschutz und dem darin wurzelnden Ausnahmecharakter zulässiger echter Rückwirkung abzuweichen. Eine solche Abweichung wäre es jedoch, wenn dem Wunsch des Gesetzgebers, den „wahren“ Inhalt früher gesetzten Rechts nachträglich festzulegen und eine seinen Vorstellungen widersprechende Auslegung auch für die Vergangenheit zu korrigieren, Grenzen nur im Hinblick auf bestands- oder rechtskräftig abgeschlossene Einzelverfahren oder bei Rechtslagen gesetzt wären, die keinen ernsthaften Auslegungsspielraum lassen. Damit würde der in der ständigen Rechtsprechung entwickelte besondere Schutz gegen Gesetze mit echter Rückwirkung ebenso preisgegeben wie die Differenzierung zwischen grundsätzlich unzulässiger echter und grundsätzlich zulässiger unechter Rückwirkung.
4. Hält das Bundesverfassungsgericht - wie hier - eine rückwirkende gesetzliche „Klarstellung“ für verfassungswidrig und nichtig, haben die Fachgerichte die hiervon betroffenen Streitfälle nach der alten Rechtslage durch Auslegung zu entscheiden. Die höchstrichterliche Klärung durch den Bundesfinanzhof kann vorliegend ergeben, dass die Norm so zu verstehen ist, wie es der Gesetzgeber nachträglich „klarstellen“ wollte.
Abweichende Meinung des Richters Masing:
Entgegen ihrem ersten Anschein betrifft die Entscheidung nicht fachrechtliche Spezialprobleme, sondern grundsätzliche Fragen zur Reichweite der Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers für unklare, offengebliebene Rechtsfragen der Vergangenheit - hier für steuerrechtliche Abschreibungsmöglichkeiten von Verlusten, die Finanzinstitute insbesondere in Folge der Anschläge des 11. September 2001 erlitten haben. In ihr liegt eine gravierende Störung der Balance zwischen Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip zu Lasten des Parlaments.
1. Die Entscheidung entzieht dem Rückwirkungsverbot sein auf subjektive Freiheitssicherung ausgerichtetes Fundament und ersetzt sie durch abstrakte, in der Sache unzutreffende Vorstellungen der Gewaltenteilung.
Die Senatsmehrheit geht ausdrücklich davon aus, dass die Fachgerichte auf Basis des ursprünglichen Rechts zum Ergebnis kommen können, dass § 8b Abs. 3 KStG in den hier in Rede stehenden Fällen anwendbar ist. Diese Frage dürfe rückwirkend aber nicht der Gesetzgeber klären; die Klärung sei allein den Fachgerichten vorbehalten. Dem Gesetzgeber wird so eine Regelung verboten, die die Gerichte durch Auslegung ohne weiteres herbeiführen dürfen. Damit wird die Verankerung des Rückwirkungsverbots im Vertrauensschutz der Sache nach aufgehoben. Wenn hier überhaupt noch eine Brücke zu irgendeiner Form von Vertrauen auszumachen ist, so kann diese allenfalls in dem abstrakten Vertrauen in einen Vorrang der Rechtsprechung durch die Fachgerichte gesucht werden. Geschützt wird das Vertrauen in die Chance einer für die Betreffenden günstigen Rechtsprechung. Gerade dies aber zeigt, wie weit sich die Entscheidung von dem ursprünglichen Anliegen der Rückwirkungsrechtsprechung entfernt.
Galt die Rückwirkungsrechtsprechung zunächst dem Schutz des Vertrauens zur Sicherung individueller Freiheitswahrnehmung, so gilt sie nun der Durchsetzung objektiver Gewaltenteilungsvorstellungen und sichert ein Reservat der Rechtsprechung gegenüber dem Gesetzgeber.
2. Das Verbot der echten Rückwirkung wird im Ergebnis zu einem apriorischen Prinzip der Gewaltenteilung verselbständigt, das im Grundgesetz keine Grundlage hat. Zu entscheiden, was Recht sein soll, ist im demokratischen Rechtsstaat grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, der hierfür gewählt wird und sich in einem politischen Prozess vor der Öffentlichkeit verantworten muss. Dies betrifft grundsätzlich auch die Entscheidung über Probleme, die in der Vergangenheit wurzeln, oder die Klärung von Streitfragen, die offengeblieben und lösungsbedürftig sind.
Die Vorstellung, der Gesetzgeber habe nur einen Versuch frei, dürfe dann aber auf die im Laufe der Zeit aufkommenden Probleme bis zu einer Neuregelung pro futuro keinen klärenden Zugriff mehr nehmen, hat in den Legitimationsgrundlagen unserer Verfassungsordnung kein Fundament.
Selbstverständlich kann der Gesetzgeber nicht ohne Weiteres nachträglich in bestands- oder rechtskräftig abgeschlossene Einzelverfahren eingreifen oder für abgeschlossene Zeiträume ein Verhalten neu bewerten und mit Sanktionen belegen, mit denen die Betreffenden nicht rechnen mussten. Dies ist der zutreffende Kern der Rückwirkungsrechtsprechung.
Solche Einschränkungen des Gesetzgebers müssen sich aber jeweils mit einem spezifischen Schutzbedürfnis der Betroffenen begründen lassen.
Die Entscheidung leuchtet zudem weder funktional noch praktisch ein:
Angesichts der immer komplexer werdenden Anforderungen an die Gesetzgebung kann nicht ernsthaft erwartet werden, dass alle Zweifelsfragen, Missverständnisse und sinnwidrigen Praktiken, die eine Neuregelung hervorbringt, stets von vornherein überschaut werden können.
Eine rückwirkende Klarstellung durch den Gesetzgeber kann hier unter Umständen mit einem Schlag unmittelbar alle offenen Streitfälle einheitlich lösen und Rechtssicherheit schaffen. Als Folge der
Entscheidung müssen demgegenüber nun alle angefallenen Zweifelsfälle - gegebenenfalls mit hohen Kosten und über lange Zeiträume vor Gericht durch die Instanzen prozessiert werden. Hierbei haben die Gerichte nachdem vom Gesetzgeber gemeinten Sinn zu suchen und sehen sich unter Umständen zu demokratisch nicht angeleiteten Setzungen eigener Gerechtigkeitsvorstellungen genötigt.
3. In der Entscheidung liegt zugleich eine tiefgreifende Wende der Rückwirkungsrechtsprechung. Zwar knüpft die Entscheidung an Obersätze an, die der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entnommen sind und entwickelt diese seinem Selbstverständnis nach nur präzisierend fort. Der Sache nach aber löst sie diese dabei aus ihrem bisherigen Kontext und gibt ihnen eine neue Bedeutung, die mit den Wertungen der bisherigen Entscheidungen des Gerichts bricht.
Eine Durchsicht der bisherigen Rechtsprechung zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht mit der Aufhebung von Gesetzen wegen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot bisher sehr zurückhaltend und immer streng auf den Schutz eines konkreten Vertrauens bedacht war. Noch nie ist eine Regelung aufgehoben worden, ohne dass Vertrauen auf eine Rechtslage enttäuscht wurde, die geeignet war, als Grundlage für individuelle Dispositionen zu dienen. Dies gilt insbesondere auch für Fälle, in denen sich der Gesetzgeber auf eine „authentische Interpretation“ berief.
Dabei wurde gerade in jüngerer Zeit ein solches Vertrauen selbst dann verneint, wenn eine höchstgerichtliche, durch den Gesetzgeber geänderte Rechtsprechung vorlag. Warum diese Kriterien, die dort in Bezug auf bestimmte Rentner und Beamte zum Tragen kam, gegenüber den Banken in einem weithin spekulativen Geschäftsbereich nicht zur Anwendung kommen sollen, ist nicht einleuchtend.
Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass ein konsequentes Abstellen auf das Vertrauenskriterium den Grundsatz des Verbots echt rückwirkender Gesetze und die Schutzstandards der Rechtsprechung preisgebe, weil dann unter beliebiger Berufung auf Klärungsbedarf gesetzliche Entscheidungen nachträglich umgedreht werden könnten. Denn aus der Auslegungsbedürftigkeit des Rechts lässt sich nicht herleiten, dass gesetzliche Grundentscheidungen und die zu ihrer Umsetzung getroffenen Bestimmungen in aller Regel unbegrenzt auslegungsoffen sind und unsere Rechtsordnung schon grundsätzlich nicht in der Lage ist, konkretes Vertrauen in bestimmte Rechtsfolgen zu begründen oder Grundlagen zu schaffen, auf die sich Dispositionen stützen lassen. Immer, aber auch nur dann, wenn eine solches Vertrauen besteht, hat das Rückwirkungsverbot seine Berechtigung.
4. Die streitbefangenen Normen geben auch sachlich keinen Anlass, von einem Vertrauen der klagenden Banken in die steuerrechtliche Berücksichtigung ihrer Verluste auszugehen. Es ist wenig wahrscheinlich, dass der Gesetzgeber Gewinne aus Anteilen an Investmentfonds von Steuern freistellen, hiermit verbundene Verluste aber steuermindernd anerkennen wollte. Dass eine solche Lösung schon ursprünglich nicht intendiert war, ist bei sachgerechter Auslegung jedenfalls naheliegend - jedenfalls aber konnten die Banken auf eine solche Auslegung keine Dispositionen stützen konnten. Wenig einleuchtend sind auch die in der Entscheidung ergänzend herangezogenen Abgrenzungskriterien für die Anerkennung von Ausnahmen.
Verfassungsrechtlich zulässig sei eine rückwirkende Regelung nur, wenn die alte Regelung zu einer durchgreifend unverständlichen oder verworrenen Rechtslage geführt hätte. Danach darf der Gesetzgeber also das, was er als Redaktionsfehler ansieht, hier deshalb nicht selbst klären, weil der Fehler zu geringfügig war; hätte er gravierendere und größere Verwirrung stiftende Fehler begangen, wäre dies hingegen möglich. Solche Abgrenzungen überzeugen nicht.
Quelle: PM Nr. 12/2014 vom 20. Februar 2014