Freitag, 11. Februar 2011

LG Wiesbaden: Keine Verhängung von Zwangsgeldern aus unionsrechtswidrigem Urteil

Ein Artikel von Rechtsanwalt Dr. Andreas Leupold
Mit Beschluss vom 07.02.2011 (Az.: 13 O 119/06) hat das Landgericht Wiesbaden einen Ordnungsmittelantrag der Lotterie-Treuhandgesellschaft mbH Hessen ("Lotto Hessen") gegen bwin kostenpflichtig zurückgewiesen. bwin war mit Urteil des OLG Frankfurt a.M. vom 04.06.2009 untersagt worden, so wie im Urteilstenor wiedergegeben über das Internet im Bundesland Hessen befindlichen Personen die Möglichkeit anzubieten oder zu verschaffen, Sportwetten zu festen Gewinnquoten ohne behördliche Erlaubnis einzugehen oder abzuschließen. Nach Verkündung des Berufungsurteils beantragte Lotto Hessen, wegen angeblicher Zuwiderhandlung gegen das vom OLG Frankfurt ausgesprochene Unterlassungsgebot ein "empfindliches Ordnungsgeld" gegen bwin zu verhängen. Nach Auffassung des Landgerichts Wiesbaden besteht aber "kein Zweifel, dass das auf den GlüStV gestützte Urteil des OLG Frankfurt mit Unionsrecht unvereinbar ist" mit der Folge, dass Lotto Hessen die Zwangsvollstreckung aus diesem Urteil nicht betreiben kann.

Zur Begründung seiner Entscheidung stützte sich das Landgericht Wiesbaden auf das Urteil des EuGH vom 08.09.2010 in der Rechtssache C-409/06 Winner Wetten, mit dem klargestellt wurde, dass aufgrund des Vorrangs des unmittelbar geltenden Unionsrechts eine damit unvereinbare nationale Regelung über ein staatliches Sportwettenmonopol auch nicht für eine Übergangszeit weiter angewendet werden darf. Dies hat zur Folge, "dass jede dem Unionsrecht entgegenstehende Bestimmung nationalen Rechts ohne weiteres unanwendbar wird". Nach der Rechtsprechung des EuGH ist jedes nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaates verpflichtet, das unmittelbar geltende Unionsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es dem Einzelnen verleiht, zu schützen, indem es jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt. Die nationalen Gerichte müssen daher alles unterlassen, was ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der unmittelbar geltenden Normen des Unionsrechts bilden würde.

Anerkennung verdient die Entscheidung des Landgerichts Wiesbaden aber nicht nur für die klaren Worte, mit denen es die Unionsrechtswidrigkeit des Vollstreckungstitels festgestellt hat, sondern auch für die daraus zu Recht gezogene Schlussfolgerung: "Die Verhängung von Zwangsgeldern im Ordnungsmittelverfahren die auch strafrechtliche Elemente enthält (…) ist deshalb unionsrechtlich verboten, wenn der zugrundeliegende Titel seinerseits gegen Unionsrecht verstößt." Jegliche Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des OLG Frankfurt, so das Landgericht Wiesbaden, "würde unter Beachtung der oben geschilderten Grundsätze die Gewährung effektiven Rechtsschutzes der Schuldnerin verhindern oder zumindest in Frage stellen. Die Zulassung der Zwangsvollstreckung aus einem vorläufig vollstreckbaren Urteil, das sich auf europarechtswidrige nationale Regelungen stützt, würde nämlich dazu führen, dass die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden würde. Dies gilt nach Auffassung der Kammer unabhängig davon, dass die Vorschriften der ZPO für sich genommen nicht gegen Unionsrecht verstoßen. Die Anwendung von Verfahrensvorschriften darf nicht dazu führen, dass dadurch die derzeit durch das Urteil des OLG Frankfurt bestehende Rechtsverletzung zu Lasten der Schuldnerin manifestiert wird."

Die Entscheidung des Landgerichts Wiesbaden räumt mit der Fehlvorstellung auf, dass das Unionsrecht im Vollstreckungsverfahren von den nationalen Gerichten nicht zu beachten sei. Das Gegenteil ist der Fall, denn wie der EuGH schon mit Urteil vom 29.04.1999 in der Rechtssache C-224/97 – Ciola deutlich gemacht hat, verbietet der Anwendungsvorrang des Unionsrechts selbstredend auch die Bestrafung aus einem unionsrechtswidrigen Urteil – und zwar gleichgültig, ob dieses Urteil nur vorläufig vollsteckbar oder sogar rechtskräftig ist.
Kontakt:
Dr. Andreas Leupold
Kardinal-Faulhaberstr. 15
80333 München


BGH Beschluss vom 19. Mai 2011  I ZR 15/09

Rn 3 Die Kläger halten die Vollstreckung für unzulässig, weil die zu vollstreckende Entscheidung auf einer mit dem Grundgesetz unvereinbaren Norm beruhe. Sie berufen sich dazu auf § 79 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG sowie das sogenannte Sportwettenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 (BVerfGE 115, 276) und einen Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. November 2007 zu § 284 StGB (BVerfG, NVwZ 2008, 301).

Rn 10 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts regelt § 79 BVerfGG in seinen Absätzen 1 und 2 die Folgen von Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, durch die eine Rechtsnorm für verfassungswidrig erklärt wird, für rechtskräftige oder sonst nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf der Grundlage der für verfassungswidrig erklärten Rechtsnorm ergangen sind. Demgemäß kommt auch die entsprechende Anwendung des § 767 ZPO gemäß Satz 3 des § 79 Abs. 2 BVerfGG nur gegenüber nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen im Sinne des Satzes 1 dieser Rechtsnorm in Betracht (BVerfGE 115, 51 Rn. 32, 51). 
§ 767 ZPO Vollstreckungsabwehrklage


Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 129/2005 vom 23. Dezember 2005
Zum Beschluss vom 6. Dezember 2005 – 1 BvR 1905/02 

Auszug:
   

Zum Verbot der Vollstreckung unanfechtbarer Entscheidungen, die auf einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe beruhen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
§ 79 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) regelt die Folgen von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, durch die eine Rechtsnorm für verfassungswidrig erklärt wird, auf deren Grundlage nicht mehr anfechtbare Entscheidungen ergangen sind. Es gilt gemäß § 79 Abs. 2 BVerfGG der Grundsatz, dass nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, dieauf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, in ihrer Existenz nicht mehr in Frage gestellt werden. Doch gilt für sie, soweit aus ihnen noch nicht vollstreckt worden ist, das Verbot der Vollstreckung. Diese Regelung findet entsprechende Anwendung, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht auf Nichtigkeit einer Norm erkannt, sondern sich darauf beschränkt hat, deren Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz festzustellen.

§ 79 Abs. 2 BVerfGG ist aber auch dann entsprechend anzuwenden, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht die Norm selbst, sondern eine bestimmte Auslegungsvariante der Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt hat. Auf diese Weise kann ein inhaltlicher Widerspruch zu § 79 Abs. 1 BVerfGG vermieden werden. Diese Norm, die für das Strafrecht einen zusätzlichen Wiederaufnahmegrund enthält, bezieht auch den Fall der verfassungswidrigen Auslegung neben der Nichtig- und der Unvereinbarerklärung in ihren Anwendungsbereich ein. (Insoweit erging die Entscheidung mit 7 zu 1 Stimmen).

Entsprechende Anwendung findet § 79 Abs. 2 BVerfGG aber auch auf nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer Auslegung und Anwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe beruhen, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist. Dies gilt allerdings nur, wenn das Bundesverfassungsgericht, wie in der Bürgschaftsentscheidung vom 19. Oktober 1993, für die Auslegung des bürgerlichen Rechts über den Einzelfall hinausgehende Maßstäbe setzt, an welche die Zivilgerichte bei ihrer künftigen Rechtsprechung in gleich gelagerten Fällen gebunden sind. Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung den Begriffen „gute Sitten“, „Verkehrssitte“ sowie „Treu und Glauben“ in den § 138 und § 242 BGB mit Bezug auf Bürgschaftsverträge auch für die Rechtsanwendung in anderen Fällen reproduzierbare – und für die Zivilgerichte verbindliche – Konturen gegeben. Dies hat dazu geführt, dass im Rahmen der Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB rechtssatzmäßig typisierbare Fallgruppen gebildet worden sind, die der weiteren Rechtsanwendung zu Grunde gelegt werden können.Dies unterscheidet sich, auch wenn die abschließende Festlegung und Normausfüllung Sache der Zivilgerichte bleibt, hinsichtlich des Grundrechtsschutzes nicht von der verfassungskonformen Auslegung einer Rechtsvorschrift im herkömmlichen Sinne. Im Lichte des allgemeinen Gleichheitssatzes ist es deshalb verfassungsrechtlich geboten, auch den Fall der die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte sichernden Auslegung von zivilrechtlichen Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen in den Anwendungsbereich des § 79 Abs. 2 BVerfGG einzubeziehen.

Der analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG steht auch nicht entgegen, dass das zum Nachteil der Beschwerdeführerin ergangene Urteil im Jahre 1992 mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Einklang stand. Die von § 79 Abs. 2 BVerfGG eröffnete Möglichkeit der Vollstreckungsabwehrklage setzt gerade voraus, dass die Einwendungen des Vollstreckungsschuldners erst später entstanden sind und vor Erlass des Urteils noch nicht geltend gemacht werden konnten. (Insoweit erging die Entscheidung mit 5 zu 3 Stimmen).

Zum Beschluss vom 6. Dezember 2005 – 1 BvR 1905/02


Mit der einstimmigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. April 2009 (2 BvR 1496/05, Rn. 33 f. – juris, BVerfGK 15, 330) - (vgl. S. 5) wurde ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der deutschen beziehungsweise in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) der ausländischen privaten Anbieter - so auch in die allgemeine Handlungsfreiheit des Beschwerdeführers - festgestellt. weiterlesen

zuletzt aktualisiert: 04.06.2012