Donnerstag, 2. Juli 2015

Die Wahrung des Rechts durch den Gerichtshof der Europäischen Union


Geltungsbereich


Nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GR-Charta gilt die Charta für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.

Der EuGH hat diese Klausel im Urteil Äkerberg Fransson vom 26.2.2013 (EuGH, Rs C-617/10. Abgedruckt in NJW 2013, S. 1415) extensiv interpretiert. In diesem aus Schweden stammenden Vorabentscheidungsverfahren ging es im Ausgangsverfahren um eine steuerstrafrechtliche Angelegenheit, welche auch Fragen der Mehrwertsteuer betraf.

Der Gerichtshof sollte sich hier zu der Bindungswirkung des in Art. 50 GR-Charta enthaltenen Verbots des „ne bis in idem“ für den nationalen Gesetzgeber äußern. Mit Rücksicht darauf, daß für die Mehrwertsteuer eine Kompetenz der Union besteht und auch entsprechende europäische Richtlinien existieren, hat der Gerichtshof seine Zuständigkeit bejaht.

Er gelangt zu diesem Ergebnis, indem er die in Art. 51 Abs. 1 GR-Charta enthaltene Formel „ausschließlich bei der Durchführung“ mit „im Anwendungs- und Geltungsbereich des Unionsrechts“ gleichsetzt und damit an seine frühere einschlägige Rechtsprechung vor Inkrafttreten der Grundrechtecharta anknüpft.
(29  Zur Bewertung der Entscheidung siehe H.-J. Rabe, Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten, NJW
2013, S. 1407 ff.)

Die Entscheidung ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil der Gerichtshof zu seinem Ergebnis gegen die Auffassung von acht am Verfahren beteiligten Regierungen, das Votum des Generalanwalts und die in diesem Prozeß vertretene Ansicht der Kommission gelangt ist. Bei dieser Fallkonstellation fühlt man sich in gewisser Weise an den berühmten Fall Van Gend und Loos (EuGH, Rs 26/62, Slg. 1963, S. 1.) erinnert, in dem der Gerichtshof sich bei seiner weitreichenden Entscheidung zur unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts ebenfalls über die Auffassung der am Verfahren beteiligten Regierungen und des Generalanwalts hinweggesetzt hat.

So läßt sich die Rolle des Gerichtshofes heute dahingehend charakterisieren, daß er in der Europäischen Union die Funktion des Verfassungsgerichts und der obersten Rechtsschutzinstanz wahrnimmt.

Unter diesen Umständen konnte es deshalb kaum ausbleiben, daß der Gerichtshof besonders in seiner Rolle als Verfassungsgericht sich auch der Kritik an seinen Entscheidungen stellen musste, wie sie im mitgliedstaatlichen Rahmen die nationalen Verfassungsgerichte gerade im Grenzbereich von Recht und Politik immer wieder
erleben.

Hans von der Groebens:
„Es scheint noch nicht allseits realisiert worden zu sein, daß der Europäische Gerichtshof nicht nur die oberste Rechtsschutzinstanz in der EU bildet, sondern auch die Funktion eines europäischen Verfassungsgerichts erfüllt.“
Gemäß Art. 4 Abs. 2, Satz 1 EUV ist die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen, zu achten, was eine Bevorzugung durch eine begünstigende Rechtsauslegung der RL verbietet.

Die Rücksichtnahme auf die Vorstellungen und Interessen der Mitgliedstaaten ist dabei heute auch ausdrückliches Vertragsgebot. So heißt es in Art. 4 Abs. 2, Satz 1 EUV, daß die Union nicht nur die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen, sondern auch deren jeweilige nationale Identität achtet, wie sie in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen  Strukturen zum Ausdruck kommt. Wenn dieses Achtungsgebot ausdrücklich die regionale und lokale Selbstverwaltung einschließt, sind damit grundsätzlich auch föderale Strukturen geschützt, wie sie etwa in der Bundesrepublik Deutschland bestehen.

Quelle: Prof. Dr. Jürgen Schwarze
Die Wahrung des Rechts durch den Gerichtshof der Europäischen Union  (pdf-download)

Die EU-Grundrechtecharta: Anwendbarkeit und Auslegung

Von Koen Lenaerts, Luxemburg *

Nachdem  die  Charta  der  Grundrechte  der  Europäischen  Union  (im  Folgenden: Charta) nunmehr zum primären Unionsrecht gehört, kommt ihr eine dreifache Funktion zu. Erstens dient sie – ebenso wie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts – als Auslegungshilfe, da sowohl das abgeleitete Unionsrecht als auch das in den Bereich des Unionsrechts fallende nationale Recht im Licht der Charta ausgelegt werden müssen. Zweitens können die Bestimmungen der Charta – ebenso wie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts – zur Begründung einer gerichtlichen Klage herangezogen werden. Unionsbestimmungen, die gegen einen Artikel der Charta verstoßen, sind für nichtig zu erklären, und in den Bereich des Unionsrechts fallende Bestimmungen des nationalen Rechts, die gegen die Charta verstoßen, sind aufzuheben. Schließlich stellt die Charta auch weiterhin eine Quelle für die „Entdeckung“ allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts dar.

* Richter und Kammerpräsident am Gerichtshof der Europäischen Union, Professor für Unionsrecht an der Universität Leuven. Diskussionsbeitrag anlässlich des Besuches des Bundesverfassungsgerichtes beim EuGH am 27. Juni 2011.
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s.a.:
EuGH zur Reichweite der EU-Grundrechte-Charta
Anmerkungen zu den Schlussanträgen in der Rs. Gauweiler (C-62/14)  weiterlesen


HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der  Gültigkeit  einer  Handlung  der  Union  vorlegen.  Der  Gerichtshof  entscheidet  nicht  über  den  nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des  Gerichtshofs  zu  entscheiden.  Diese  Entscheidung  des  Gerichtshofs  bindet  in  gleicher  Weise  andere  nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.