Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 50/2013 vom 08. August 2013
Beschluss vom 11. Juli 2013
2 BvR 2302/11
2 BvR 1279/12
Therapieunterbringungsgesetz entspricht bei
verfassungskonformer Auslegung dem Grundgesetz
Das Therapieunterbringungsgesetz ist mit dem Grundgesetz vereinbar, muss jedoch verfassungskonform ausgelegt werden. Die Unterbringung darf nur dann angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem heute veröffentlichten Beschluss entschieden. Der Richter Huber hat ein Sondervotum zur Gesetzgebungszuständigkeit abgegeben.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen seine gerichtlich angeordnete Unterbringung, mittelbar auch gegen das zum 1. Januar 2011 in Kraft getretene Therapieunterbringungsgesetz. Vorwiegend unter Alkoholeinfluss hat er mehrfach Gewaltdelikte, meist mit Sexualbezug, begangen. Im Jahr 1989 ordnete das Landgericht seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, weil seine Schuldunfähigkeit nicht
auszuschließen sei. Im November 2005 erklärte das Landgericht seine Unterbringung für erledigt, weil er zwar noch gefährlich, aber nicht mehr erheblich in seiner Schuldfähigkeit beeinträchtigt sei. Vor vollständiger Verbüßung der Freiheitsstrafe ordnete das Landgericht erstmals im April 2007 die nachträgliche Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers an. Im Mai 2010 verfügte der Bundesgerichtshof vor dem
Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) die sofortige Freilassung des Beschwerdeführers.
Die Stadt S. beantragte daraufhin seine Therapieunterbringung.
Gegenstand des Verfahrens 2 BvR 2302/11 sind Beschlüsse des Landgerichts vom 2. September 2011 und des Oberlandesgerichts vom 30. September 2011 über die vorläufige Therapieunterbringung des Beschwerdeführers für die Dauer von drei Monaten. Gegenstand des Verfahrens 2 BvR 1279/12 sind die
Beschlüsse des Landgerichts vom 17. Februar 2012 und des Oberlandesgerichts vom 14. Mai 2012 über die bis zum 1. März 2013 befristete Unterbringung des Beschwerdeführers im Hauptsacheverfahren.
2. Die Verfassungsbeschwerden sind unbegründet, soweit sie mittelbar gegen die Vorschriften des Therapieunterbringungsgesetzes gerichtet sind.
a) Dem Bundesgesetzgeber steht die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz zu.
Der Kompetenztitel „Strafrecht“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) erfasst historisch betrachtet neben vergeltenden, schuldausgleichenden Sanktionen auch spezialpräventive Reaktionen auf eine Straftat. Daher ließen sich sowohl die - durch vorkonstitutionelle Gesetze eingeführte - primäre Sicherungsverwahrung als auch die nachträgliche Sicherungsverwahrung dem historisch vorgefundenen Regelungsbestand des Strafrechts zuordnen. Diesem weiten kompetenzrechtlichen Begriffsverständnis steht die engere Bedeutung des Begriffs der Strafe in Art. 103 Abs. 2 GG nicht entgegen. Die Therapieunterbringung verfolgt - ebenso wie die Sicherungsverwahrung - den Zweck, Straftäter, deren Gefährlichkeit für hochrangige Rechtsgüter fortbesteht, im Anschluss an die verbüßte Strafhaft zum Schutz der Allgemeinheit sicher unterzubringen. Neben der spezifischen Anknüpfung an eine strafrechtlich sanktionierte Anlasstat stützt vor allem die Funktion des
Therapieunterbringungsgesetzes, eine Lücke im Instrumentarium des Strafrechts zu schließen, die Zugehörigkeit zum selben Kompetenztitel.
Das die Regelungslücke füllende Gesetz kann kompetenzrechtlich nicht anders beurteilt werden als das lückenhafte Gesetz selbst. Auch das freiheitsorientierte Therapiekonzept und die verfahrensrechtliche
Ausgestaltung stehen der kompetenzrechtlichen Zuordnung zum Strafrecht nicht entgegen.
b) Bei verfassungskonformer Auslegung ist die Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz mit dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar.
aa) Die Therapieunterbringung ist eine nachträglich angeordnete freiheitsentziehende Maßnahme. Ihre Eingriffsintensität entspricht der der Sicherungsverwahrung. Auch § 1 Abs. 1 ThUG ermöglicht eine potenziell unbefristete Freiheitsentziehung. § 2 ThUG schreibt die Unterbringung in einer geeigneten Therapieeinrichtung und ein freiheitsorientiertes Therapiekonzept vor; auch die Sicherungsverwahrung ist in deutlichem Abstand zum Strafvollzug - freiheitsorientiert mit klarer therapeutischer Ausrichtung auszugestalten.
bb) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es daher unter Berücksichtigung der Vorgaben aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, eine Unterbringung nur dann anzuordnen, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist. Zwar sieht der Wortlaut des § 1 Abs. 1 ThUG keine derart einzugrenzende Gefahrenprognose vor. Allerdings ist eine verfassungskonforme - restriktive - Auslegung möglich. Wortlaut und Zweck der Vorschrift stehen einer solchen Auslegung nicht entgegen.
Ebenso wenig entgegen steht der Einwand, dem Therapieunterbringungsgesetz verbleibe bei einer Übertragung der strengen Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts zur nachträglichen Sicherungsverwahrung kein Anwendungsbereich. Denn die Therapieunterbringung ist subsidiär zur Sicherungsverwahrung ausgestaltet mit der Folge, dass ein Zurücktreten hinter die Sicherungsverwahrung im Gesetz selbst angelegt ist. Überdies darf nicht außer Betracht bleiben, dass das Therapieunterbringungsgesetz zu einem Zeitpunkt erlassen wurde, zu dem die maßgeblichen Fragen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs noch nicht geklärt waren und auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch ausstand.
Seinerzeit ging es dem Gesetzgeber darum, eine eng begrenzte Übergangsregelung bis zum Wirksamwerden der neu geordneten Sicherungsverwahrung zu schaffen.
cc) Den verfassungsrechtlich gebotenen Abstand zur Vollstreckung der Strafhaft formuliert § 2 ThUG. Das Gesetz legt qualitative Maßstäbe für die Einrichtungen fest und schreibt die räumliche sowie organisatorische Trennung von Einrichtungen des Strafvollzuges vor. Zudem sollen die Betroffenen durch die Unterbringung unter Berücksichtigung therapeutischer Gesichtspunkte und der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit möglichst wenig belastet werden. Mit diesen Vorgaben sichert das Gesetz die Wahrung des Abstandsgebots und schafft eine notwendige Voraussetzung dafür, dass die Therapieunterbringung nicht als Strafe im Sinne des Art. 7 Abs. 1 EMRK einzuordnen ist.
dd) Das Tatbestandsmerkmal „psychische Störung“ im Sinne des § 1 Abs. 1 ThUG steht nicht im Widerspruch zu den Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
(1) Das Therapieunterbringungsgesetz definiert den Begriff der psychischen Störung nicht näher. Wie er zu verstehen ist, geht jedoch aus Wortbedeutung und Entstehungsgeschichte hinreichend deutlich hervor.
Gemäß der Gesetzesbegründung soll an die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK, der eine Freiheitsentziehung bei „psychisch Kranken“ erlaubt, und an die Diagnoseklassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV angeknüpft werden. Die Störung muss nicht von solcher Art sein, dass sie die strafrechtliche Verantwortung des Täters ausschließt oder in der psychiatrisch-forensischen Begutachtungspraxis als psychische Erkrankung gewertet wird; wohl aber muss sich ein klinisch erkennbarer Komplex von solchen Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten zeigen, die mit Belastungen und Beeinträchtigungen - auf der individuellen und oft auch der kollektiven oder sozialen Ebene - verbunden sind.
(2) Unter systematischen Gesichtspunkten löst sich die Therapieunterbringung vom bisherigen zweigliedrigen System der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus einerseits und der Sicherungsverwahrung andererseits. Der Gesetzgeber installiert einen nicht anhand der strafrechtlichen Verantwortlichkeit abzugrenzenden „dritten Weg“. Dem Verzicht auf ein Defizit strafrechtlicher Verantwortlichkeit stehen die Wertungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK und die hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR nicht entgegen. Soweit der EGMR auch qualitative Anforderungen an das nationale Recht stellt, genügt das Therapieunterbringungsgesetz diesen, insbesondere in Bezug auf die Vorhersehbarkeit.
c) Die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots sind gewahrt.
Die Gesetzesbegründung knüpft an die restriktive Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „psychische Störung“ durch den EGMR an.
Darüber hinaus lehnt sie sich an die in der Psychiatrie anerkannten Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV an. Weitere Eingriffsschwellen entstehen durch das Erfordernis eines Kausalzusammenhangs zwischen der psychischen Störung und der Gefahr sowie durch die sonstigen Tatbestandsmerkmale des § 1 ThUG.
Auch Meinungsverschiedenheiten zu der Frage, ob ein subjektiver Leidensdruck des Betroffenen erforderlich ist, führen nicht zu einer unzureichenden Bestimmtheit. Mit dem Ziel des Gesetzgebers, einen möglichst nachhaltigen Schutz der Allgemeinheit zu erreichen, wäre ein solches Erfordernis nicht vereinbar; auch der Wortlaut der Vorschrift legt eine solche Auslegung nicht nahe. d) Das Therapieunterbringungsgesetz verstößt in der hier maßgeblichen Fassung nicht gegen das Verbot des Einzelfallgesetzes aus Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG.
Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG verbietet grundrechtseinschränkende Gesetze, die nicht allgemein sind, sondern nur für den Einzelfall gelten. Ein Gesetz ist allgemein, wenn sich wegen der abstrakten Fassung des Tatbestandes nicht absehen lässt, auf wie viele und welche Fälle es Anwendung findet. Das schließt die Regelung eines Einzelfalls allerdings nicht aus, wenn der Sachverhalt so beschaffen ist, dass es nur einen Fall dieser Art gibt und die Regelung dieses singulären Sachverhalts von sachlichen Gründen getragen wird.
Dem Wortlaut nach ist § 1 Abs. 1 ThUG abstrakt gefasst und wird insoweit dem Allgemeinheitsgebot gerecht. Der Anwendungsbereich des Gesetzes betrifft zwar einen eng begrenzten Personenkreis; eine Individualisierung der Betroffenen liegt in dieser abstrakten Begrenzung jedoch nicht.
3. Die mit den Verfassungsbeschwerden angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen sind mit den Vorgaben des Grundgesetzes für die Anwendung des Therapieunterbringungsgesetzes nicht zu vereinbaren. Sie verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, weil die Fachgerichte bei ihren Entscheidungen nicht den verfassungsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsmaßstab zugrunde gelegt haben. Es kommt allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist.
Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist allerdings der Ansatz des Oberlandesgerichts, demzufolge der erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad nicht an einer festen Prozentgrenze festgemacht werden könne, das Gewicht der prognostizierten Delikte in die Betrachtung mit einzubeziehen sei.
Sondervotum des Richters Huber:
Soweit die Senatsmehrheit eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für den Erlass des Therapieunterbringungsgesetzes bejaht, stimme ich dem zwar im Ergebnis zu. Eine Zuständigkeit des Bundes lässt sich jedoch nicht direkt aus dem Kompetenztitel „Strafrecht“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG), sondern lediglich aus dem Sachzusammenhang mit dem Strafrecht herleiten.
1. Die Auffassung der Senatsmehrheit überdehnt den Begriff des Strafrechts im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.
a) Das Therapieunterbringungsgesetz soll ausschließlich der Abwehr von hochgradigen Gefahren schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten dienen, soweit sie ihre Grundlage in psychischen Störungen der Unterzubringenden haben. Im Zeitpunkt des Inkrafttretens bestanden deutliche Unterschiede zum Recht der Sicherungsverwahrung. Dies ergibt sich aus den Anordnungsvoraussetzungen und aus den gesetzlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des Vollzuges. Zudem lehnt sich das Verfahrensrecht an die Vorschriften des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit an und begründet eine ausschließliche Zuständigkeit der Zivilkammern der Landgerichte.
Sieht der Gesetzgeber ausdrücklich keinen Gleichlauf mit dem Strafprozessrecht vor, so kann die verfassungsrechtliche Beurteilung darüber nicht hinweggehen. Allein der Umstand, dass auch die Therapieunterbringung an eine Anlasstat anknüpft, qualifiziert diese noch nicht zu einer Reaktion auf strafrechtliches Unrecht. Vielmehr stellt die Anknüpfung an eine Anlasstat sicher, dass dieses tief eingreifende Instrument auf das unbedingt Erforderliche beschränkt bleibt.
b) Zwar ist anerkannt, dass die Maßregeln der Besserung und Sicherung dem Bereich des „Strafrechts“ zuzuordnen sind. Dieses weite Verständnis des Kompetenztitels „Strafrecht“ ist - wie die Senatsmehrheit hervorhebt - zum einen historisch kontingent und liegt zum anderen auch sachlich nahe. Nicht zuletzt ermöglicht die (teilweise) Verzahnung von Strafen und Maßregeln im zweispurigen deutschen Sanktionensystem freiheitsschonende Wirkungen. Genese und Leistungsfähigkeit des zweispurigen Sanktionensystems rechtfertigen es freilich nicht, dem Bund unter dem Titel „Strafrecht“ auch die Kompetenz zur Errichtung weiterer Säulen zuzusprechen. Bereits bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung war die Anknüpfung an die Anlasstat so stark relativiert, dass eine ausufernde Interpretation des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zu Lasten der Länder befürchtet wurde. Für die Therapieunterbringung gilt dies erst recht.
2. Dem Bund steht gleichwohl eine Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs zu.
a) Die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs stützt und ergänzt eine zugewiesene Zuständigkeit, wenn die entsprechende Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne dass zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgeregelt wird, wenn also das Übergreifen in einen an sich den Ländern übertragenen Kompetenzbereich unerlässliche Voraussetzung für die Regelung der zugewiesenen Materie ist.
b) Das Therapieunterbringungsgesetz weist starke Bezüge zu den Unterbringungsgesetzen der Länder auf. Jedoch richtet es sich - wegen der Anknüpfung an eine Anlasstat - nur an Straftäter. Dies vermag einen Sachzusammenhang mit dem Strafrecht zu begründen. Die Regelung der Therapieunterbringung ist für das vom Bundesgesetzgeber verfolgte Schutzkonzept unerlässlich. Sie ähnelt in ihrem Regelungsgehalt den Maßregeln der Besserung und Sicherung und besitzt darüber hinaus eine lückenfüllende Funktion. Daher besteht für den Bund eine Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs.
c) Diese kompetenzielle Zuordnung wird der Grundkonzeption der Art. 70 ff. GG besser gerecht als die Auffassung der Senatsmehrheit und trägt prospektiv auch zum Schutz der Gesetzgebungskompetenzen der Länder bei.
Quelle: PM vom 08.08.2013
L e i t s a t z
zum Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013
- 2 BvR 2302/11 -
- 2 BvR 1279/12 -
Zur Verfassungsmäßigkeit des Therapieunterbringungsgesetzes.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2302/11 -
- 2 BvR 1279/12 -
Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
a) Der Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 30. September 2011 - 5 W 212/11-94 - und der Beschluss des Landgerichts Saarbrücken vom 2. September 2011 - 5 O 59/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
b) Der Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 14. Mai 2012 - 5 W 44/12-22 - und der Beschluss des Landgerichts Saarbrücken vom 17. Februar 2012 - 5 O 59/11 Th - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
§ 1 Absatz 1 des Therapieunterbringungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (Bundesgesetzblatt I Seite 2300) ist mit der Maßgabe mit dem Grundgesetz vereinbar, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist.
Im Übrigen werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.
Das Saarland hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.
weiterlesen:
Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013
- 2 BvR 2302/11 -
- 2 BvR 1279/12 -
Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) v. 08.08.2013
Der Fall Mollath verdeutlicht Reformbedarf des Maßregelrechts: DGPPN ruft die Initiative Maßregelreform ins Leben
Der Fall Gustl Mollath hat sich in den letzten Monaten stark auf die öffentliche Wahrnehmung der Psychiatrie in Deutschland ausgewirkt. In der Berichterstattung wird die Behandlung psychisch erkrankter Menschen fälschlicherweise mit der „Besserung und Sicherung“ von psychisch kranken, verurteilten Straftätern im Maßregelvollzug gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung kann auf psychisch erkrankte Menschen stigmatisierend wirken. Mit der vom Oberlandesgericht Nürnberg angeordneten Wiederaufnahme des Verfahrens besteht nun die Chance, diesen kontrovers diskutieren Fall neu zu beurteilen – ein aus Sicht der DGPPN begrüßenswerter Schritt. Gleichzeitig verweist die öffentliche Debatte auf grund-legende strukturelle Probleme in der forensischen Psychiatrie. Die DGPPN startet deshalb die Initiative Maßregelreform, die unter Einbezug der politischen, juristischen und fachärztlichen Experten auf die dringend notwendige Reform des Maßregelrechts hinarbeiten soll.
In den letzten 15 Jahren ist es in Deutschland
zu einer Verdoppelung der forensisch-psychiatrischen Behandlungsplätze
gekommen. Infolge der gesellschaftlichen Forderung nach mehr Sicherheit
ist dabei auch die Verweildauer in der Forensik stark gestiegen.
Bundesweit werden gegenwärtig rund 10.000 Patienten stationär im
psychiatrischen Krankenhaus auf Grundlage des Strafgesetzbuches
behandelt. Hinzu kommen mehrere tausend ambulant betreute Patienten in
der forensischen Nachsorge. Die ambulante Nachbetreuung in den
forensischen Institutsambulanzen ist bundesweit etabliert und arbeitet
sehr erfolgreich (weniger als 5 Prozent Rückfälle).
Die Psychiatrie und Psychotherapie hat unter den medizinischen Disziplinen eine Sonderstellung: Sie kommt in erster Linie ihrem medizinischen Heilauftrag nach, d.h. sie diagnostiziert und therapiert Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen freiwillig medizinische Hilfe suchen. Zudem weist ihr die Gesellschaft auch ordnungspolitische Aufgaben zu. Dazu gehört insbesondere die „Besserung und Sicherung“ von Menschen, die Straftaten aufgrund psychischer Erkrankungen verübt haben. Hierfür wurden gesonderte Kliniken und Abteilungen für forensische Psychiatrie geschaffen (psychiatrischer Maßregelvollzug). Straftäter, die Gerichte aufgrund ihrer psychischen Erkrankung als nicht oder vermindert schuldfähig erklären, werden – wenn auch in der Zukunft erneut krankheitsbedingte Straftaten zu erwarten sind – zur fachgerechten Behandlung in forensisch-psychiatrische Kliniken eingewiesen. Die Voraussetzungen dazu sind im Strafgesetzbuch geregelt.
In der aktuellen Debatte um den Fall Gustl Mollath wird die Behandlung von psychisch erkrankten Menschen mit der „Besserung und Sicherung“ von psychisch kranken Straftätern verwechselt. Diese Verwechslung ist schwer wiegend: Im Verlauf eines Jahr erleidet in Deutschland schätzungsweise jeder dritte Erwachsene eine psychische Erkrankung. Immer mehr dieser Betroffenen suchen professionelle Hilfe im psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystem.
Der Fall Gustl Mollath hat gezeigt, dass in Bezug auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen, in denen die forensische Psychiatrie ihrem Behandlungs- und Sicherungsauftrag nachkommt, erhebliche Informationsdefizite bestehen. Dabei ist es die rechtsstaatliche Aufgabe des Gerichts – und nicht der forensischen Psychiatrie – zu prüfen und festzustellen, ob sich die einem Menschen zur Last gelegten Straftaten überhaupt ereignet haben und nicht eventuelle Falschbezichtigungen eine Rolle spielen. Es ist auch alleinige Aufgabe des Gerichts, die Schwere von begangenen Straftaten zu bewerten. Gutachter haben eine diagnostische und prognostische Aufgabe. In Gerichtsverfahren entscheiden nicht sie, ob es eine Straftat überhaupt gegeben haben könnte oder ob der von ihnen untersuchte Proband sie begangen hat, sondern sie arbeiten angeleitet durch das Gericht.
Der Fall Gustl Mollath hat nun den dringenden Reformbedarfs der rechtlichen Rahmenbedingungen der Behandlung im Maßregelvollzug deutlich gemacht. Bereits 2011 hat die DGPPN eine entsprechende Forderung an die Politik adressiert. Die Bedeutung einer korrekten Begutachtung und Behandlung – zum Beispiel in Hinblick auf Diagnose, Gefährlichkeitsprognose und Risikoabschätzung – erfordert zwingend die Beteiligung forensisch-psychiatrischer Experten an den notwendigen Reformen. Deshalb ruft die DGPPN die Initiative Maßregelreform ins Leben. Diese soll unter Einbezug der politischen, juristischen und fachärztlichen Experten auf die Reform des Maßregelrechts hinarbeiten – mit dem Ziel die rechtlichen Rahmenbedingungen einer Behandlung im Maßregelvollzug rasch anzupassen und die medizinische Behandlung von psychisch kranken Straftätern zu gewährleisten. Das konstituierende Auftaktgespräch findet am 11. September 2013 in Berlin statt.
KontaktDie Psychiatrie und Psychotherapie hat unter den medizinischen Disziplinen eine Sonderstellung: Sie kommt in erster Linie ihrem medizinischen Heilauftrag nach, d.h. sie diagnostiziert und therapiert Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen freiwillig medizinische Hilfe suchen. Zudem weist ihr die Gesellschaft auch ordnungspolitische Aufgaben zu. Dazu gehört insbesondere die „Besserung und Sicherung“ von Menschen, die Straftaten aufgrund psychischer Erkrankungen verübt haben. Hierfür wurden gesonderte Kliniken und Abteilungen für forensische Psychiatrie geschaffen (psychiatrischer Maßregelvollzug). Straftäter, die Gerichte aufgrund ihrer psychischen Erkrankung als nicht oder vermindert schuldfähig erklären, werden – wenn auch in der Zukunft erneut krankheitsbedingte Straftaten zu erwarten sind – zur fachgerechten Behandlung in forensisch-psychiatrische Kliniken eingewiesen. Die Voraussetzungen dazu sind im Strafgesetzbuch geregelt.
In der aktuellen Debatte um den Fall Gustl Mollath wird die Behandlung von psychisch erkrankten Menschen mit der „Besserung und Sicherung“ von psychisch kranken Straftätern verwechselt. Diese Verwechslung ist schwer wiegend: Im Verlauf eines Jahr erleidet in Deutschland schätzungsweise jeder dritte Erwachsene eine psychische Erkrankung. Immer mehr dieser Betroffenen suchen professionelle Hilfe im psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystem.
Der Fall Gustl Mollath hat gezeigt, dass in Bezug auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen, in denen die forensische Psychiatrie ihrem Behandlungs- und Sicherungsauftrag nachkommt, erhebliche Informationsdefizite bestehen. Dabei ist es die rechtsstaatliche Aufgabe des Gerichts – und nicht der forensischen Psychiatrie – zu prüfen und festzustellen, ob sich die einem Menschen zur Last gelegten Straftaten überhaupt ereignet haben und nicht eventuelle Falschbezichtigungen eine Rolle spielen. Es ist auch alleinige Aufgabe des Gerichts, die Schwere von begangenen Straftaten zu bewerten. Gutachter haben eine diagnostische und prognostische Aufgabe. In Gerichtsverfahren entscheiden nicht sie, ob es eine Straftat überhaupt gegeben haben könnte oder ob der von ihnen untersuchte Proband sie begangen hat, sondern sie arbeiten angeleitet durch das Gericht.
Der Fall Gustl Mollath hat nun den dringenden Reformbedarfs der rechtlichen Rahmenbedingungen der Behandlung im Maßregelvollzug deutlich gemacht. Bereits 2011 hat die DGPPN eine entsprechende Forderung an die Politik adressiert. Die Bedeutung einer korrekten Begutachtung und Behandlung – zum Beispiel in Hinblick auf Diagnose, Gefährlichkeitsprognose und Risikoabschätzung – erfordert zwingend die Beteiligung forensisch-psychiatrischer Experten an den notwendigen Reformen. Deshalb ruft die DGPPN die Initiative Maßregelreform ins Leben. Diese soll unter Einbezug der politischen, juristischen und fachärztlichen Experten auf die Reform des Maßregelrechts hinarbeiten – mit dem Ziel die rechtlichen Rahmenbedingungen einer Behandlung im Maßregelvollzug rasch anzupassen und die medizinische Behandlung von psychisch kranken Straftätern zu gewährleisten. Das konstituierende Auftaktgespräch findet am 11. September 2013 in Berlin statt.
Prof. Dr. med. Wolfgang Maier
Präsident DGPPN
Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
DGPPN-Geschäftsstelle
Reinhardtstraße 27 B
10117 Berlin
Tel.: 030.2404 772-11
Fax.: 030.2404 772-29
E-Mail: pressestelle[at]dgppn.de
Quelle
s.a. Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) v. 26.07.2013
Maßregelvollzug in der Kritik: Psychisch kranke Menschen in der forensischen Psychiatrie und Psychotherapie weiterlesen