URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
In der Rechtssache C-156/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. Januar 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 28. März 2013, in dem Verfahren
Digibet Ltd und Gert Albers/Westdeutsche Lotterie GmbH & Co. OHG
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PRESSEMITTEILUNG Nr. 85/14
PRESSEMITTEILUNG Nr. 85/14
Gerichtshof der Europäischen Union
PRESSEMITTEILUNG Nr. 85/14
Luxemburg, den 12. Juni 2014
Urteil in der Rechtssache C-156/13
Digibet Ltd und Gert Albers/Westdeutsche Lotterie GmbH & Co. OHG
Die vom Land Schleswig-Holstein vorübergehend verfolgte liberalere Glücksspielpolitik stellt die Kohärenz der strikteren Politik der übrigen deutschen Länder nicht in Frage
Das in fast allen Bundesländern geltende Verbot der Veranstaltung von Glücksspielen im Internet und der Werbung dafür kann in angemessenem Verhältnis zu den verfolgten Zielen des Allgemeininteresses stehen
In Deutschland sind die Veranstaltung und die Vermittlung von Glücksspielen im Internet sowie die Werbung für Glücksspiele im Fernsehen, im Internet sowie über Telekommunikationsanlagen grundsätzlich verboten. Die Verwendung des Internets zu diesen Zwecken kann allerdings ausnahmsweise für Lotterien und Sportwetten erlaubt werden. Mit dieser Ausnahme soll eine geeignete Alternative zum illegalen Glücksspielangebot bereitgestellt und der Entwicklung und Ausbreitung nicht erlaubter Spiele entgegengewirkt werden.
Im Land Schleswig-Holstein waren die Veranstaltung und die Vermittlung von Glücksspielen im Internet vom 1. Januar 2012 bis zum 8. Februar 2013 erlaubt. Diese Erlaubnis wurde bei Vorliegen bestimmter objektiver Voraussetzungen jeder Person in der Union erteilt. In dieser Zeit erlaubte Schleswig-Holstein auch die Werbung für Glücksspiele im Fernsehen und im Internet. Die liberalere Regelung von Schleswig-Holstein ist zwar mittlerweile aufgehoben worden, doch gelten die den Anbietern von Glücksspielen im Internet erteilten Genehmigungen während einer Übergangszeit von mehreren Jahren fort.
Der Gesellschaft Digibet ist die Veranstaltung von Glücksspielen aufgrund einer von den Behörden von Gibraltar erteilten Lizenz gestattet. Sie bietet auf ihrer Internetseite „digibet.com“ in deutscher Sprache Glücksspiele und Sportwetten an. Auf eine Klage der Westdeutschen Lotterie (der staatlichen Lottogesellschaft von Nordrhein-Westfalen) verbot ein deutsches Gericht Digibet und ihrem Geschäftsführer Gert Albers, über das Internet in Deutschland wohnhaften Personen die Möglichkeit anzubieten, an Glücksspielen teilzunehmen.
Digibet und Herr Albers fochten diese Entscheidung beim Bundesgerichtshof an, der den Gerichtshof fragt, ob die während eines Zeitraums von über einem Jahr verfolgte liberalere Politik des Landes Schleswig-Holstein die Vereinbarkeit des in den übrigen Ländern geltenden Spieleverbots mit den Vorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr in Frage stellen kann.
Das Unionsrecht erlaubt es den Mitgliedstaaten zwar, diese Grundfreiheit im Bereich der Glücksspiele einzuschränken, doch verlangt es, dass jede Einschränkung geeignet sein muss, die Ziele des Allgemeininteresses zu erreichen, die den Erlass der Einschränkung gerechtfertigt haben.Der Bundesgerichtshof meint, dass im vorliegenden Fall das Vorliegen weniger strenger Vorschriften im Land Schleswig-Holstein die Eignung der in den übrigen Ländern erlassenen Vorschriften zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele des Allgemeinwohls beeinträchtigen könnte.
In seinem Urteil vom heutigen Tag weist der Gerichtshof erstens darauf hin, dass das Verbot, in Deutschland Glücksspiele zu veranstalten und zu bewerben, eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellt, die jedoch durch Ziele des Allgemeinwohls wie die in der deutschen Regelung genannten gerechtfertigt sein kann.Der Gerichtshof stellt zweitens fest, dass, selbst wenn man annehmen wollte, dass die weniger strenge Regelung von Schleswig-Holstein die Kohärenz der Verbotspolitik der übrigen Länder habe beeinträchtigen können, die Anwendung dieser liberalen Regelung zeitlich auf weniger als 14 Monate und räumlich auf ein Bundesland begrenzt war. Somit stellt das vorübergehende Vorliegen weniger strenger Vorschriften im Land Schleswig-Holstein die Eignung der in den anderen Ländern geltenden Beschränkungen zur Erreichung der verfolgten Ziele des Allgemeinwohls nicht ernsthaft in Frage. Folglich waren die 15 anderen Länder nicht verpflichtet, ihre Regelung in diesem Bereich allein deshalb zu ändern, weil ein einzelnes Land für einen begrenzten Zeitraum eine liberalere Politik verfolgt hat.
Der Gerichtshof entscheidet daher, dass die deutsche Regelung im Bereich der Glücksspiele in Bezug auf die mit ihr verfolgten Ziele des Allgemeininteresses verhältnismäßig und infolgedessen mit dem freien Dienstleistungsverkehr vereinbar sein kann.
Der Bundesgerichtshof hat allerdings zu prüfen, ob die in Rede stehende Regelung allen sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit genügt.
(Hervorhebungen durch VS)
Quelle: PRESSEMITTEILUNG Nr. 85/14 (pdf-download)
s.u.a. Kurzbeitrag von Rechtsanwalt Rolf Karpenstein weiterlesen
Der Europäische Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass die Staatseinnahmen eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs nicht rechtfertigen könnten und einer Konzessionsregelung entgegenstehe, wenn diese nicht wirklich das Ziel des Spielerschutzes oder der Kriminalitätsbekämpfung verfolge.
Ein Verstoß eines Wirtschaftsteilnehmers gegen die Glücksspielregelung könne auch nicht zu Sanktionen führen, wenn diese Regelung mit dem freien Dienstleistungsverkehr in der EU nicht vereinbar sei.
„Art. 56 AEUV – Freier Dienstleistungsverkehr – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 15 bis 17, 47 und 50 – Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten, unternehmerische Freiheit, Eigentumsrecht, Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht, Grundsatz ne bis in idem – Art. 51 – Geltungsbereich – Durchführung des Unionsrechts – Glücksspiele – Restriktive Regelung eines Mitgliedstaats – Verwaltungsbehördliche und strafrechtliche Sanktionen – Zwingende Gründe des Allgemeininteresses – Verhältnismäßigkeit“
Zur Verhältnismäßigkeit entschied der EuGH in der Rechtssache C-390/12 am 30. April 2014 :
43 Weiters ist darauf hinzuweisen, dass die von den Mitgliedstaaten auferlegten Beschränkungen die von der Rechtsprechung des Gerichtshofs insoweit aufgestellten Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit und der Nichtdiskriminierung erfüllen müssen. Danach ist eine nationale Regelung nur dann geeignet, die Erreichung des geltend gemachten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, C-42/07, EU:C:2009:519, Rn. 59 bis 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Der bloße Umstand, dass ein Mitgliedstaat ein anderes Schutzsystem als ein anderer Mitgliedstaat gewählt hat, kann keinen Einfluss auf die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der einschlägigen Bestimmungen haben. Diese sind allein im Hinblick auf die von den zuständigen Stellen des betroffenen Mitgliedstaats verfolgten Ziele und auf das von ihnen angestrebte Schutzniveau zu beurteilen (Urteil HIT und HIT LARIX, C-176/11, EU:C:2012:454, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).
45 Im besonderen Bereich der Veranstaltung von Glücksspielen verfügen die staatlichen Stellen nämlich über ein ausreichendes Ermessen, um festzulegen, welche Erfordernisse sich aus dem Schutz der Verbraucher und der Sozialordnung ergeben. Soweit die von der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Voraussetzungen im Übrigen beachtet werden, ist es Sache jedes Mitgliedstaats, zu beurteilen, ob es im Zusammenhang mit den von ihm verfolgten legitimen Zielen erforderlich ist, Tätigkeiten in Bezug auf Spiele und Wetten vollständig oder teilweise zu verbieten, oder ob es genügt, sie zu beschränken und zu diesem Zweck mehr oder weniger strenge Kontrollformen vorzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteile Stoß u. a., C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, EU:C-2010:504, Rn. 76, sowie Carmen Media Group, EU:C-2010:505, Rn. 46).
46 Außerdem steht fest, dass im Gegensatz zur Einführung eines freien und unverfälschten Wettbewerbs auf einem traditionellen Markt die Betreibung eines derartigen Wettbewerbs auf dem sehr spezifischen Markt für Glücksspiele, d. h. zwischen mehreren Veranstaltern, die die gleichen Glücksspiele betreiben dürfen, insofern nachteilige Folgen haben könnte, als diese Veranstalter versucht wären, einander an Einfallsreichtum zu übertreffen, um ihr Angebot attraktiver als das ihrer Wettbewerber zu machen, so dass für die Verbraucher die mit dem Spiel verbundenen Ausgaben und die Gefahr der Spielsucht erhöht würden (Urteil Stanleybet International u. a., C-186/11 und C-209/11, EU:C-2013:33, Rn. 45).
47 Für die Feststellung, welche Ziele mit der nationalen Regelung tatsächlich verfolgt werden, ist jedoch im Rahmen einer Rechtssache, mit der der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV befasst worden ist, das vorlegende Gericht zuständig (vgl. in diesem Sinne Urteil Dickinger und Ömer, EU:C-2011:582, Rn. 51).
48 Außerdem hat das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung der Hinweise des Gerichtshofs zu prüfen, ob die durch den betreffenden Mitgliedstaat auferlegten Beschränkungen den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit genügen (vgl. Urteil Dickinger und Ömer, EU:C-2011:582, Rn. 50).
49 Insbesondere muss es sich – vor allem im Licht der konkreten Anwendungsmodalitäten der betreffenden restriktiven Regelung – vergewissern, dass sie tatsächlich dem Anliegen entspricht, in kohärenter und systematischer Weise die Gelegenheiten zum Spiel zu verringern, die Tätigkeiten in diesem Bereich zu begrenzen und die mit diesen Spielen verbundene Kriminalität zu bekämpfen (vgl. Urteil Dickinger und Ömer, EU:C-2011:582, Rn. 50 und 56).
50 Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es dem Mitgliedstaat, der sich auf ein Ziel berufen möchte, mit dem sich eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen lässt, obliegt, dem Gericht, das über diese Frage zu entscheiden hat, alle Umstände darzulegen, anhand deren dieses Gericht sich vergewissern kann, dass die Maßnahme tatsächlich den sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebenden Anforderungen genügt (vgl. Urteil Dickinger und Ömer, EU:C-2011:582, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Jedoch lässt sich aus dieser Rechtsprechung nicht ableiten, dass einem Mitgliedstaat nur deshalb die Möglichkeit genommen wäre, zu belegen, dass eine innerstaatliche restriktive Maßnahme diesen Anforderungen genügt, weil er keine Untersuchungen vorlegen kann, die dem Erlass der fraglichen Regelung zugrunde lagen (vgl. in diesem Sinne Urteil Stoß u. a., EU:C-2010:504, Rn. 72).
52 Folglich muss das nationale Gericht eine Gesamtwürdigung der Umstände vornehmen, unter denen eine restriktive Regelung, wie sie in den Ausgangsverfahren in Rede steht, erlassen worden ist und durchgeführt wird.
53 Im vorliegenden Fall haben die nationalen Behörden nach Ansicht des vorlegenden Gerichts nicht nachgewiesen, dass die Kriminalität und/oder die Spielsucht im präjudiziellen Zeitraum tatsächlich ein erhebliches Problem darstellten.
54 Das Gericht scheint ferner anzunehmen, dass das wahre Ziel der fraglichen restriktiven Regelung nicht in der Kriminalitätsbekämpfung und dem Spielerschutz liegt, sondern in einer bloßen Maximierung der Staatseinnahmen, obwohl der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass das Ziel, die Einnahmen der Staatskasse zu maximieren, für sich allein eine solche Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs nicht rechtfertigen kann (vgl. Urteil Dickinger und Ömer, EU:C-2011:582, Rn. 55). Diese Regelung erscheine, so das Gericht, jedenfalls unverhältnismäßig, da sie nicht geeignet sei, die von der Rechtsprechung des Gerichtshofs geforderte Kohärenz zu garantieren, und über das hinausgehe, was zur Erreichung der angeführten Ziele erforderlich sei.
55 Sollte das vorlegende Gericht bei dieser Auffassung bleiben, müsste es zu dem Ergebnis kommen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
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