Dienstag, 28. Mai 2019

EuGH-PM: Deutsche Staatsanwälte nicht unabhängig genug

Der EuGH hat entschieden, dass die deutschen Staatsanwaltschaften keine hinreichende Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive bieten, um zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehles befugt zu sein.

Gerichtshof der Europäischen Union
PRESSEMITTEILUNG Nr. 68/19

Luxemburg, den 27. Mai 2019
Urteile in den verbundenen Rechtssachen C-508/18, OG
(Staatsanwaltschaft Lübeck), und C-82/19 PPU, PI (Staatsanwaltschaft
Zwickau), sowie in der Rechtssache C-509/18, PF (Generalstaatsanwalt von
Litauen)
Presse und Information

Die deutschen Staatsanwaltschaften bieten keine hinreichende Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive, um zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls befugt zu sein

Der Generalstaatsanwalt von Litauen bietet hingegen eine solche Gewähr für Unabhängigkeit

Zwei litauische Staatsangehörige und ein rumänischer Staatsangehöriger wenden sich vor den irischen Gerichten gegen die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle, die von deutschen Staatsanwaltschaften und vom Generalstaatsanwalt von Litauen zur Strafverfolgung ausgestellt wurden. Ihnen werden vorsätzliche Tötung und schwere Körperverletzung (OG), Diebstahl mit Waffen (PF) bzw. Bandenraub oder Raub mit Waffen (PI) zur Last gelegt.

Die drei Betroffenen machen geltend, die deutschen Staatsanwaltschaften und der Generalstaatsanwalt von Litauen seien nicht zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls befugt, da sie keine „Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl 1 seien. In Bezug auf die deutschen Staatsanwaltschaften tragen OG und PI insbesondere vor, sie seien nicht von der Exekutive unabhängig, da sie zu einer Verwaltungshierarchie unter der Leitung des Justizministers gehörten, so dass die Gefahr einer politischen Einflussnahme bestehe.

Der Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) und der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) ersuchen den Gerichtshof in diesem Kontext um die Auslegung des Rahmenbeschlusses. Da PI sich aufgrund des gegen ihn ergangenen Europäischen Haftbefehls in Irland in Haft befindet, hat der Gerichtshof dem Antrag des High Court stattgegeben, das PI betreffende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

In seinen heutigen Urteilen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaats, die wie die deutschen Staatsanwaltschaften der Gefahr ausgesetzt sind, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive, etwa eines Justizministers, unterworfen zu werden, nicht unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses fallen.

Der als eine strukturell von der Judikative unabhängige Stelle für die Verfolgung von Straftaten zuständige Generalstaatsanwalt eines Mitgliedstaats wie der Generalstaatsanwalt von Litauen, dessen Status ihm eine Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive im Rahmen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls verschafft, fällt hingegen unter den genannten Begriff. 


Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass der Europäische Haftbefehl im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung darstellt, das seinerseits auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten beruht. Diese beiden Grundsätze haben fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen.

Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung setzt voraus, dass Europäische Haftbefehle nur zu vollstrecken sind, wenn sie die im Rahmenbeschluss aufgestellten Voraussetzungen erfüllen. Da es sich bei einem Europäischen Haftbefehl somit um eine „justizielle Entscheidung“ handelt, muss er u. a. von einer „Justizbehörde“ ausgestellt worden sein.

Zwar können die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensautonomie in ihrem nationalen Recht die für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständige „Justizbehörde“ bestimmen, doch dürfen Bedeutung und Tragweite dieses Begriffs nicht der Beurteilung durch jeden Mitgliedstaat überlassen bleiben, sondern müssen in der gesamten Union einheitlich sein.

Es trifft zu, dass sich der Begriff „Justizbehörde“ nicht allein auf die Richter oder Gerichte eines Mitgliedstaats beschränkt, sondern so zu verstehen ist, dass er darüber hinaus die Behörden erfasst, die in diesem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken, im Unterschied insbesondere zu Ministerien oder Polizeibehörden, die zur Exekutive gehören.

Der Gerichtshof geht davon aus, dass sowohl die deutschen Staatsanwaltschaften als auch der Generalstaatsanwalt von Litauen eine wesentliche Rolle im Ablauf der Strafverfahren spielen und deshalb an der Strafrechtspflege mitwirken.

Die mit der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls betraute Behörde muss jedoch bei der Ausübung ihrer Aufgaben unabhängig handeln, auch wenn der Europäische Haftbefehl auf einem nationalen Haftbefehl beruht, der von einem Richter oder einem Gericht erlassen wurde.
Sie muss dabei in der Lage sein, diese Aufgaben in objektiver Weise wahrzunehmen, unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Gesichtspunkte und ohne Gefahr zu laufen, dass ihre Entscheidungsbefugnis Gegenstand externer Anordnungen oder Weisungen, insbesondere seitens der Exekutive, ist, so dass kein Zweifel daran besteht, dass die Entscheidung, den Europäischen Haftbefehl auszustellen, von ihr getroffen wurde und nicht letzten Endes von der Exekutive.

Zu den Staatsanwaltschaften in Deutschland stellt der Gerichtshof fest, dass nicht gesetzlich ausgeschlossen ist, dass ihre Entscheidung, einen Europäischen Haftbefehl auszustellen, im Einzelfall einer Weisung des Justizministers des betreffenden Bundeslands unterworfen werden könnte. Daher erfüllen sie eines der Erfordernisse für ihre Einstufung als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses offenbar nicht, und zwar das Erfordernis, der einen solchen Haftbefehl vollstreckenden Justizbehörde die Gewähr für unabhängiges Handeln im Rahmen seiner Ausstellung zu bieten.

Dagegen dürfte der Generalstaatsanwalt von Litauen als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses einzustufen sein, denn sein Status in diesem Mitgliedstaat gewährleistet nicht nur die Objektivität seiner Aufgabe, sondern verschafft ihm auch eine Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive im Rahmen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls. Der Gerichtshof vermag allerdings den ihm vorliegenden Akten nicht zu entnehmen, ob die Entscheidungen des Generalstaatsanwalts über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls Gegenstand eines Rechtsbehelfs sein können, der den einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen voll und ganz genügt; dies zu prüfen ist Sache des Supreme Court.
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HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidungdes Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Der Volltext der Urteile (C-508/18 und C-82/19 sowie C-509/18) wird am Tag der Verkündung auf der Curia-Website veröffentlicht.
Pressekontakt: Hartmut Ost (+352) 4303 3255
Filmaufnahmen von der Verkündung des Urteils sind verfügbar über
Europe by Satellite“  (+32) 2 2964106



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1 Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und dieÜbergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung.

Quelle: PDF-Download

siehe auch:

Eigenständige Begriffe des Gemeinschaftsrechts

Aus meiner Sicht, geht es in den Vorlageverfahren hauptsächlich um die Beantwortung der Frage:

Sind die Staatsanwaltschaften eine Justizbehörde im Sinne der autonomen Auslegung dieses in Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses des Rates von 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten verwendeten Begriffs?

Die gemeinschaftsrechtlichen Begriffe sollen eine unterschiedliche Anwendung in den Mitgliedstaaten verhindern und müssen einheitlich in allen Mitgliedstaaten ausgelegt werden. (vgl. EuGHv. 11.1.2001 Rs. C-76/99 - Kommission/Frankreich, EuGHE 2001, I 249, UR 2001, 62; vgl. auch Grünwald/Pogodelan - UR2003, 189)

"Zunächst ist festzustellen, daß der fragliche Begriff in einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts enthalten ist, die hinsichtlich seines Sinnes und seiner Tragweite nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist; daraus folgt, daß die Auslegung des Begriffs in seiner allgemeinen Bedeutung nicht in das Ermessen jedes einzelnen Mitgliedstaats gestellt werden kann". (C-154/80, Rn. 9 - Aardappelenbewaarplaats G.A.)

Das Unionsrecht verlangt die Einheitlichkeit des Rechts und eine richtlinienkonforme Auslegung, um die vollständige Wirksamkeit der Richtlinien entsprechend ihrer Zielsetzung zu gewährleisten. EuGH-Harz (Rs. 79/83) Slg. 1984, 1921 HV, 29 Daran gebunden sind alle Träger öffentlicher Gewalt, auch die Gerichte. EuGH-Köbler (Rs. C-224/01)

Da mit den gemeinschaftsrechtlichen Begriffen eine unterschiedliche Anwendung in den Mitgliedstaaten verhindert werden soll, müssen diese einheitlich in allen Mitgliedstaaten ausgelegt werden. Deshalb kann die Auslegung autonomer Begriffe des Gemeinschaftsrechts nicht von der Auslegung abhängen, die ihm im Zivilrecht eines Mitgliedstaats gegeben wird. (vgl. EuGHv. 11.1.2001 Rs. C-76/99 - Kommission/Frankreich, EuGHE 2001, I 249, UR 2001, 62; vgl. Auch Grünwald/Pogodelan - UR2003, 189)

Pressespiegel:

Deutscher Richterbund mahnt: "europäische Justizstandards einhalten"

Richterbund fordert Abschaffung der politischen Weisungsgebundenheit
"Es sollte", so der DRB-Vorsitzende Jens Gnisa", für Deutschland zum Selbstverständnis gehören, europäische Justizstandards einzuhalten". Wegen Bedenken bezüglich der Vereinbarkeit mit dem Gewaltenteilungsprinzip hatte der Richterbund bereits vor fünf Jahren einen Gesetzentwurf präsentiert, der vorsah, wenigstens das Einzelfall-Weisungsrecht abzuschaffen und nur ein allgemeines Weisungsrecht beizubehalten....
Der bekannte Hamburger Gustl-Mollath-Verteidiger Gerhard Strate meinte dazu im Anschluss an eine Telepolis-Veranstaltung (vgl. Fall Mollath: Verwerfungen unter der Oberfläche des Rechtsstaats), ohne eine "Kontrollinstanz"würden beispielsweise Augsburger Staatsanwälte noch wesentlich problematischer agieren, als sie das jetzt schon tun (vgl. Bayerischer Landtag beschäftigt sich mit Staatsanwaltschaft Augsburg).
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In der Bundesrepublik gebe es "keine hinreichende Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive", urteilte der Europäische Gerichtshof in Luxemburg.
In Deutschland sei gesetzlich nicht ausgeschlossen, dass ein Europäischer Haftbefehl in Einzelfällen auf Weisung des Justizministers des jeweiligen Bundeslandes ausgestellt werde, hieß es zur Begründung (Rechtssachen C-508/18, C-82/19, C-509/18).
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Der Generalanwalt hat unter P. 1 seiner Schlussanträge ausgeführt: “.....dass dieses Vorabentscheidungsersuchen die geeignete Gelegenheit dafür bietet“, zu prüfen, ob „die deutsche Staatsanwaltschaft als „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses einzustufen ist“..... (P. 2)

Richterverbände fordern eine Reform des GVG
Der Deutsche Richterbund nimmt die EuGH-Entscheidung einmal mehr zum Anlass, sich für die Abschaffung der Weisungsbefugnis der Justizminister an die Staatsanwälte stark zu machen. „Das Weisungsrecht der Justizminister an die Staatsanwaltschaften im Einzelfall muss umgehend aufgehoben werden“, sagte der Vorsitzende des DRB, Jens Gnisa, am Montag in Berlin. Er forderte den Gesetzgeber auf, das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) zu reformieren.

Auch Carsten Löbbert, Sprecher des Bundesvorstandes der Neuen Richtervereinigung, fordert zu einer Reform der Strukturen auf.
"Der EuGH hat klar formuliert, dass eine Weisungsgebundenheit, wie sie § 146 GVG festgelegt ist, nicht zu der Formulierung „ausstellende Justizbehörde“ im Rahmenbeschluss passt."
Die Luxemburger Richter hätten weiter formuliert, das Bedeutung und Tragweite dieses Begriffes in der EU einheitlich verstanden werden müssten.
"Diesen Standard erfüllt Deutschland nicht", so Löbbert.
"Die deutsche Justiz sollte sich ihren organisatorischen Lebenslügen stellen."
Vielleicht ist die Entscheidung auch ein erster Hinweis darauf, wie die Richter mit dem Versuch umgehen werden, sie zu Aussagen in dieser Frage zu bewegen. Als einen solchen gezielten Versuch kann man die Vorlage eines Verwaltungsrichters am VG Wiesbaden verstehen. Er hatte dem EuGH die Frage vorgelegt, ob er eigentlich an einem unabhängigen Gericht arbeite – sein Beschluss machte deutlich, dass der VG-Richter eher vom Gegenteil ausgeht.
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*(Hervorhebungen durch mich)