Donnerstag, 30. Mai 2019

EuGH C‑509/18 - zum Begriff „ausstellende Justizbehörde“


URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
27. Mai 2019(*)

Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 6 Abs. 1 – Begriff ‚ausstellende Justizbehörde‘ – Vom Generalstaatsanwalt eines Mitgliedstaats ausgestellter Europäischer Haftbefehl – Status – Gewähr für Unabhängigkeit“

In der Rechtssache C‑509/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 31. Juli 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 6. August 2018, in einem Verfahren betreffend die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

PF

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras und T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin C. Toader, des Kammerpräsidenten F. Biltgen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter L. Bay Larsen, M. Safjan, D. Šváby, S. Rodin und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. März 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–        von PF, vertreten durch J. Ferry, BL, und R. Munro, SC, im Auftrag von D. Rudden und E. Rudden, Solicitors,
–        des Minister for Justice and Equality, vertreten durch J. Quaney, M. Browne, G. Hodge und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von B. M. Ward, A. Hanrahan und J. Benson, BL, und von P. Caroll, SC,
–        der dänischen Regierung, vertreten durch P. Z. L. Ngo und J. Nymann-Lindegren als Bevollmächtigte,
–        der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch T. Henze, J. Möller, M. Hellmann und A. Berg als Bevollmächtigte, dann durch M. Hellmann, J. Möller und A. Berg als Bevollmächtigte,
–        der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, D. Dubois und E. de Moustier als Bevollmächtigte,
–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Faraci, avvocato dello Stato,
–        der litauischen Regierung, vertreten durch V. Vasiliauskienė, J. Prasauskienė, G. Taluntytė und R. Krasuckaitė als Bevollmächtigte,
–        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und Z. Wagner als Bevollmächtigte,
–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
–        der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse, K. Ibili und J. Schmoll als Bevollmächtigte,
–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
–        der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters, J. Tomkin und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April 2019
folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Irland. Der Haftbefehl wurde am 18. April 2014 vom Lietuvos Respublikos generalinis prokuroras (Generalstaatsanwalt der Republik Litauen, im Folgenden: Generalstaatsanwalt von Litauen) zur Strafverfolgung von PF in Litauen erlassen.

 Rechtlicher Rahmen
 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 5, 6, 8 und 10 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lauten:

„(5)      Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

(6)      Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.


(8)      Entscheidungen zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls müssen ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss.


(10)      Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 [EU] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 [EU] mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.“

4        Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“

5        Die Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses enthalten die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann. Art. 5 des Rahmenbeschlusses betrifft die vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährenden Garantien.

6        Art. 6 („Bestimmung der zuständigen Behörden“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

„(1)      Ausstellende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist.

(2)      Vollstreckende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats zuständig für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist.

(3)      Jeder Mitgliedstaat unterrichtet das Generalsekretariat des Rates über die nach seinem Recht zuständige Justizbehörde.“

 Irisches Recht

7        Mit dem European Arrest Warrant Act 2003 (Irisches Gesetz über den Europäischen Haftbefehl von 2003) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: EAW Act) wird der Rahmenbeschluss 2002/584 in irisches Recht umgesetzt. Abs. 1 von Section 2(1) des EAW Act bestimmt:

„Mit ,Justizbehörde‘ wird der Berufs- oder Laienrichter oder die sonstige Person bezeichnet, der oder die nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats befugt ist, dieselben oder ähnliche Aufgaben wahrzunehmen, wie sie nach Section 33 von einem Gericht [in Irland] wahrgenommen werden.“

8        Section 20 des EAW Act sieht vor:

„(1)      In Verfahren, auf die dieses Gesetz Anwendung findet, kann der High Court [(Hoher Gerichtshof, Irland)], wenn er die ihm übermittelten Unterlagen oder Informationen für nicht ausreichend hält, um es ihm zu ermöglichen, seine Aufgaben nach diesem Gesetz wahrzunehmen, die ausstellende Justizbehörde oder gegebenenfalls den Ausstellungsstaat ersuchen, ihm innerhalb einer von ihm anzugebenden Frist solche zusätzlichen, von ihm angegebenen Unterlagen oder Informationen zu übermitteln.

(2)      Die zentrale Behörde [in Irland] kann, wenn sie die ihr nach diesem Gesetz übermittelten Unterlagen oder Informationen für nicht ausreichend hält, um es ihr oder dem High Court [(Hoher Gerichtshof)] zu ermöglichen, Aufgaben nach diesem Gesetz wahrzunehmen, die ausstellende Justizbehörde oder gegebenenfalls den Ausstellungsstaat ersuchen, ihr innerhalb einer von ihr anzugebenden Frist solche zusätzlichen, von ihr angegebenen Unterlagen oder Informationen zu übermitteln. …“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

9        Am 18. April 2014 erließ der Generalstaatsanwalt von Litauen einen Europäischen Haftbefehl, um die Übergabe von PF, eines litauischen Staatsangehörigen, zur Strafverfolgung wegen einer Tat zu erwirken, die PF im Jahr 2012 begangen haben soll und die vom Generalstaatsanwalt als „Diebstahl mit Waffen“ qualifiziert wird.

10      PF erhob vor dem High Court (Hoher Gerichtshof) Klage und stellte die Gültigkeit des Europäischen Haftbefehls u. a. mit dem Einwand in Abrede, dass der Generalstaatsanwalt von Litauen keine „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sei.

11      Zur Stützung dieses Vorbringens legte PF ein Rechtsgutachten eines litauischen Anwalts vor, aus dem u. a. hervorgeht, dass nach Art. 109 der Verfassung der Republik Litauen die Rechtsprechung in diesem Mitgliedstaat nur von den Gerichten ausgeübt werde. Der Generalstaatsanwalt von Litauen sei der ranghöchste Staatsanwalt in Litauen. Er habe den Status eines Staatsanwalts und sei sowohl von der Exekutive als auch von der Judikative unabhängig. Nach Art. 118 der Verfassung seien die Staatsanwälte mit der Durchführung und Leitung strafrechtlicher Ermittlungen und mit der Verfolgung von Straftaten betraut. Nach der Rechtsprechung des Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas (Verfassungsgericht der Republik Litauen) sei ein Staatsanwalt jedoch nicht zur Mitwirkung an der Rechtspflege berufen und übernehme auch in der Ermittlungsphase, für die er zuständig sei, keine Aufgaben im Zusammenhang mit der Rechtspflege.

12      Unter diesen Umständen wandte sich der High Court (Hoher Gerichtshof) über die irische zentrale Behörde an den Generalstaatsanwalt von Litauen und ersuchte ihn um weitere Informationen in Bezug auf seine Einstufung als „Justizbehörde“, insbesondere in Anbetracht der Urteile vom 10. November 2016, Poltorak (C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858), und vom 10. November 2016, Özçelik (C‑453/16 PPU, EU:C:2016:860).

13      Der Generalstaatsanwalt von Litauen antwortete wie folgt:

„Die Generalstaatsanwaltschaft der Republik Litauen ist sowohl von der Exekutive als auch vom Justizministerium unabhängig.
Zu den Strafverfolgungsbehörden in der Republik Litauen gehören die Generalstaatsanwaltschaft und die örtlichen Staatsanwaltschaften; die litauischen Strafverfolgungsbehörden führen die vorgerichtlichen Ermittlungen durch und leiten sie und verfolgen im Namen des Staates Straftaten. Diese Bestimmungen sind in Art. 118 der Verfassung der Republik Litauen niedergelegt.“

14      Am 27. Februar 2017 entschied der High Court (Hoher Gerichtshof), dass der Generalstaatsanwalt von Litauen eine „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sei und ordnete die Übergabe von PF an.

15      Mit Urteil vom 20. Oktober 2017 wies der Court of Appeal (Berufungsgerichtshof, Irland) das Rechtsmittel von PF gegen das Urteil des High Court (Hoher Gerichtshof) zurück und bestätigte, dass der Generalstaatsanwalt von Litauen eine „Justizbehörde“ im Sinne der genannten Bestimmung sei.

16      Das vorlegende Gericht – der Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) – ließ die Einlegung eines Rechtsmittels gegen das Urteil des Court of Appeal (Berufungsgerichtshof) zu.

17      Im Hinblick auf die Urteile des Gerichtshofs vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483), vom 10. November 2016, Poltorak (C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858), vom 10. November 2016, Özçelik (C‑453/16 PPU, EU:C:2016:860), und vom 10. November 2016, Kovalkovas (C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861), möchte dieses Gericht wissen, ob der Generalstaatsanwalt von Litauen als „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 eingestuft werden kann.

18      Aus dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich insbesondere, dass eine solche Einstufung davon abhänge, ob die betreffende Stelle eine zur Mitwirkung an der Strafrechtspflege eines Mitgliedstaats berufene Behörde sei. Sie biete aber keine klaren Kriterien dafür, wann eine Stelle in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats mit der Rechtspflege betraut oder zur Mitwirkung an ihr berufen sei.

19      Insoweit sei angesichts der Tatsache, dass der Begriff „Justizbehörde“ ein autonomer Begriff des Unionsrechts sei, fraglich, ob zur Klärung der Frage, ob der Generalstaatsanwalt von Litauen an der Rechtspflege mitwirke, allein auf das nationale Recht des betreffenden Mitgliedstaats abzustellen sei. Außerdem stelle sich die Frage, ob die Durchführung von Ermittlungen und die Verfolgung von Straftaten einen hinreichenden Zusammenhang mit der Rechtspflege aufwiesen, um einen Staatsanwalt, der mit diesen Aufgaben betraut, aber nach nationalem Recht von der Judikative unabhängig sei, als „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ansehen zu können.

20      Unter diesen Umständen hat der Supreme Court (Oberster Gerichtshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Bestehen die Kriterien, nach denen sich beurteilt, ob es sich bei einem als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmten Staatsanwalt um eine Justizbehörde im Sinne der autonomen Auslegung dieses in Art. 6 Abs. 1 verwendeten Begriffs handelt, darin, dass der Staatsanwalt erstens von der Exekutive unabhängig ist und zweitens in der für ihn maßgeblichen Rechtsordnung an der Rechtspflege mitwirkt oder zur Mitwirkung an der Rechtspflege berufen ist?

2.      Wenn nein, nach welchen Kriterien soll ein nationales Gericht dann beurteilen, ob es sich bei einem Staatsanwalt, der als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt ist, um eine Justizbehörde im Sinne von Art. 6 Abs. 1 handelt?

3.      Soweit zu diesen Kriterien gehört, dass der Staatsanwalt an der Rechtspflege mitwirkt oder zur Mitwirkung an der Rechtspflege berufen ist, ist dies anhand der Stellung, die er in seiner Rechtsordnung einnimmt, oder anhand bestimmter objektiver Kriterien festzustellen? Falls objektive Kriterien maßgeblich sind, was sind dann diese Kriterien?

4.      Ist der Generalstaatsanwalt von Litauen eine Justizbehörde im Sinne der autonomen Auslegung dieses in Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verwendeten Begriffs?

 Zu den Vorlagefragen

21      Mit seinen Fragen, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass darunter der als eine strukturell von der Judikative unabhängige Stelle für die Verfolgung von Straftaten zuständige und von der Exekutive unabhängige Generalstaatsanwalt eines Mitgliedstaats fällt.

22      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht, im Unionsrecht fundamentale Bedeutung haben, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die im Unionsrecht anerkannten Grundrechte beachten (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23      Was insbesondere den Rahmenbeschluss 2002/584 angeht, geht aus seinem sechsten Erwägungsgrund hervor, dass der mit ihm eingeführte Europäische Haftbefehl im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung darstellt.

24      Dieser Grundsatz kommt in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zur Anwendung, der die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach diesem Grundsatz und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken müssen. Die vollstreckenden Justizbehörden können daher die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls grundsätzlich nur aus den Gründen verweigern, die in den Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses abschließend aufgezählt werden. Außerdem darf die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur an eine der in Art. 5 des Rahmenbeschlusses abschließend geregelten Bedingungen geknüpft werden. Folglich stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung seiner Vollstreckung als eng auszulegende Ausnahme ausgestaltet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung setzt jedoch voraus, dass nur Europäische Haftbefehle im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 gemäß dessen Bestimmungen zu vollstrecken sind. Wie aus diesem Artikel hervorgeht, handelt es sich bei einem solchen Haftbefehl um eine „justizielle Entscheidung“, so dass er von einer „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ausgestellt worden sein muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. November 2016, Poltorak, C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 28, und vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 29).

26      Nach Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ist ausstellende Justizbehörde die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staates für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist.

27      Zwar können die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensautonomie in ihrem nationalen Recht die für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständige „Justizbehörde“ bestimmen, doch dürfen Bedeutung und Tragweite dieses Begriffs nicht der Beurteilung durch jeden Mitgliedstaat überlassen bleiben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. November 2016, Poltorak, C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 30 und 31, sowie vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 31 und 32).

28      Der genannte Begriff bedarf in der gesamten Union einer autonomen und einheitlichen Auslegung, die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung sowohl des Wortlauts von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 als auch des Kontexts, in den er sich einfügt, und des mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziels zu ermitteln ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. November 2016, Poltorak, C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 32, und vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 33).

29      Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass sich der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Justizbehörde“ nicht allein auf die Richter oder Gerichte eines Mitgliedstaats beschränkt, sondern so zu verstehen ist, dass er darüber hinaus die Behörden erfasst, die in diesem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken, im Unterschied insbesondere zu Ministerien oder Polizeibehörden, die zur Exekutive gehören (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. November 2016, Poltorak, C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 33 und 35, sowie vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 34 und 36).

30      Daraus folgt, dass sich der Begriff „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 auf die Behörden eines Mitgliedstaats erstrecken kann, die, ohne notwendigerweise Richter oder Gerichte zu sein, in diesem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken.

31      Diese Auslegung wird zum einen durch den Kontext von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestätigt. Hierzu ist festzustellen, dass der Rahmenbeschluss ein Instrument der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ist, die die gegenseitige Anerkennung nicht nur rechtskräftiger Entscheidungen der Strafgerichte umfasst, sondern darüber hinaus von Entscheidungen der Justizbehörden der Mitgliedstaaten im Rahmen des Strafverfahrens, einschließlich der die Verfolgung von Straftaten betreffenden Phase dieses Verfahrens.

32      Die in Art. 31 EU, der die Rechtsgrundlage des Rahmenbeschlusses 2002/584 bildet, vorgesehene justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen schloss nämlich u. a. die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten sowohl im Verfahren als auch bei der Vollstreckung von Entscheidungen ein.

33      Der Begriff „Verfahren“, der weit zu verstehen ist, kann sich auf das gesamte Strafverfahren erstrecken, d. h. auf die Phase vor dem Strafprozess, den Strafprozess selbst und die Phase der Vollstreckung der rechtskräftigen Entscheidung eines Strafgerichts, mit der eine Person einer Straftat für schuldig befunden wurde.

34      Für diese Auslegung spricht auch der Wortlaut von Art. 82 Abs. 1 Buchst. d AEUV, der Art. 31 EU ersetzt hat. Dort heißt es nunmehr, dass die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten im Rahmen der Strafverfolgung sowie des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen umfasst.

35      Zum anderen wird die vorstehende Auslegung durch das Ziel des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestätigt, das nach dessen fünftem Erwägungsgrund darin besteht, ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts einzuführen.

36      Der Rahmenbeschluss 2002/584 soll nämlich durch die Einführung eines vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit erleichtern und beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, wobei er entsprechend dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraussetzt (Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic, C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls kann nach Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses zwei verschiedene Gegenstände haben. Er kann entweder zur Strafverfolgung im Ausstellungsmitgliedstaat oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in diesem Staat ausgestellt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2010, B., C‑306/09, EU:C:2010:626, Rn. 49).

38      Da der Europäische Haftbefehl in der Phase vor der Urteilsverkündung den freien Verkehr justizieller Entscheidungen in Bezug auf die Strafverfolgung erleichtert, ist davon auszugehen, dass die Behörden, die nach nationalem Recht für den Erlass solcher Entscheidungen zuständig sind, in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses fallen können.

39      Aus den Erwägungen in den Rn. 29 bis 38 des vorliegenden Urteils folgt, dass bei einer Behörde wie der Staatsanwaltschaft – die im Rahmen des Strafverfahrens befugt ist, eine einer Straftat verdächtigte Person zu verfolgen, damit sie vor Gericht gestellt wird – davon auszugehen ist, dass sie im betreffenden Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt.

40      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass der Generalstaatsanwalt von Litauen in diesem Mitgliedstaat eine wesentliche Rolle im Ablauf des Strafverfahrens spielt.

41      Insoweit hat die litauische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt, nach Art. 118 der Verfassung der Republik Litauen sei die Staatsanwaltschaft insbesondere mit der Durchführung und Leitung von Ermittlungen und mit der Erhebung der öffentlichen Klage betraut. Nach der Rechtsprechung des Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas (Verfassungsgericht der Republik Litauen) sei sie dafür ausschließlich zuständig. Aus diesen Angaben geht hervor, dass der Generalstaatsanwalt von Litauen generell im Rahmen des Strafverfahrens die Vorbedingungen für die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt durch die Strafgerichte dieses Mitgliedstaats zu schaffen hat.

42      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass der Generalstaatsanwalt von Litauen in diesem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirkt.

43      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 zur Schaffung eines vereinfachten Systems der unmittelbaren Übergabe zwischen Justizbehörden dient, das an die Stelle eines mit einem Eingriff und einer Beurteilung durch die politische Gewalt verbundenen Systems der klassischen Kooperation zwischen souveränen Staaten treten soll, um im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts den freien Verkehr strafrechtlicher justizieller Entscheidungen sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 41).

44      In diesem Rahmen muss, wenn ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wird, damit ein anderer Mitgliedstaat eine zum Zweck der Strafverfolgung gesuchte Person festnimmt und übergibt, diese Person in einem ersten Stadium des Verfahrens in den Genuss der Verfahrens- und Grundrechte gekommen sein, deren Schutz die Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats nach dem anzuwendenden nationalen Recht, insbesondere im Hinblick auf den Erlass eines nationalen Haftbefehls, zu gewährleisten haben (Urteil vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi, C‑241/15, EU:C:2016:385, Rn. 55).

45      Das System des Europäischen Haftbefehls enthält somit einen zweistufigen Schutz der Verfahrens- und Grundrechte, in deren Genuss die gesuchte Person kommen muss, da zu dem gerichtlichen Schutz auf der ersten Stufe, beim Erlass einer nationalen Entscheidung wie eines nationalen Haftbefehls, der Schutz hinzukommt, der auf der zweiten Stufe, bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls, zu der es gegebenenfalls kurze Zeit nach dem Erlass dieser nationalen justiziellen Entscheidung kommen kann, zu gewährleisten ist (Urteil vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi, C‑241/15, EU:C:2016:385, Rn. 56).

46      Bei einer Maßnahme, die – wie die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls – das in Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht auf Freiheit des Betroffenen beeinträchtigen kann, impliziert dieser Schutz, dass zumindest auf einer seiner beiden Stufen eine Entscheidung erlassen wird, die den einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen genügt.

47      Folglich muss, wenn nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls eine Behörde zuständig ist, die in diesem Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt, aber kein Richter oder Gericht ist, die nationale justizielle Entscheidung – wie ein nationaler Haftbefehl –, auf die sich der Europäische Haftbefehl stützt, ihrerseits diese Anforderungen erfüllen.

48      Die Erfüllung dieser Anforderungen ermöglicht es dabei, der vollstreckenden Justizbehörde zu garantieren, dass die Entscheidung, zum Zweck der Strafverfolgung einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, auf einem gerichtlicher Kontrolle unterworfenen nationalen Verfahren beruht und dass die Person, gegen die sich der nationale Haftbefehl richtet, über alle dem Erlass derartiger Entscheidungen eigene Garantien verfügte, insbesondere über diejenigen, die sich aus den in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Grundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben.

49      Die in Rn. 45 des vorliegenden Urteils erwähnte zweite Stufe des Schutzes der Rechte des Betroffenen impliziert, dass die nach nationalem Recht für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständige Justizbehörde insbesondere überprüft, ob die für seine Ausstellung erforderlichen Voraussetzungen eingehalten wurden und ob seine Ausstellung in Anbetracht der Besonderheiten des Einzelfalls verhältnismäßig war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 47).

50      Die Gewährleistung dieser zweiten Stufe des Schutzes obliegt nämlich der „ausstellenden Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584, d. h. der Stelle, die letztlich die Entscheidung trifft, den Europäischen Haftbefehl auszustellen; dies gilt auch dann, wenn der Europäische Haftbefehl auf einer nationalen Entscheidung beruht, die von einem Richter oder einem Gericht getroffen wurde.

51      Die „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 muss daher in der Lage sein, diese Aufgabe in objektiver Weise wahrzunehmen, unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Gesichtspunkte und ohne Gefahr zu laufen, dass ihre Entscheidungsbefugnis Gegenstand externer Anordnungen oder Weisungen, insbesondere seitens der Exekutive, ist, so dass kein Zweifel daran besteht, dass die Entscheidung, den Europäischen Haftbefehl auszustellen, von dieser Behörde getroffen wurde und nicht letzten Endes von der Exekutive (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 42).

52      Infolgedessen muss die ausstellende Justizbehörde der vollstreckenden Justizbehörde die Gewähr bieten können, dass sie angesichts der nach der Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats bestehenden Garantien bei der Ausübung ihrer der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls innewohnenden Aufgaben unabhängig handelt. Diese Unabhängigkeit verlangt, dass es Rechts- und Organisationsvorschriften gibt, die zu gewährleisten vermögen, dass die ausstellende Justizbehörde, wenn sie die Entscheidung trifft, einen solchen Haftbefehl auszustellen, nicht der Gefahr ausgesetzt ist, etwa einer Einzelweisung seitens der Exekutive unterworfen zu werden.

53      Außerdem müssen, wenn nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls eine Behörde zuständig ist, die in diesem Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt, aber selbst kein Gericht ist, in dem Mitgliedstaat die Entscheidung über die Ausstellung eines solchen Haftbefehls und insbesondere ihre Verhältnismäßigkeit in einer Weise gerichtlich überprüfbar sein, die den einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen voll und ganz genügt.

54      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den schriftlichen Erklärungen der litauischen Regierung, dass in Litauen die Letztverantwortung für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls beim Generalstaatsanwalt von Litauen liegt, der auf Antrag des mit der Sache, in der um die Übergabe des Betroffenen ersucht wird, befassten Staatsanwalts tätig wird. Im Rahmen der ihm übertragenen Zuständigkeiten prüft der Generalstaatsanwalt von Litauen, ob die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls erfüllt sind und ob es insbesondere eine vollstreckbare gerichtliche Entscheidung über die Inhaftierung des Betroffenen gibt; diese Entscheidung muss nach litauischem Recht von einem Richter oder einem Ermittlungsrichter getroffen werden.

55      Die litauische Regierung hat in ihren schriftlichen Erklärungen weiter ausgeführt, dass die litauischen Staatsanwälte bei der Ausübung ihres Amtes nach der Verfassung der Republik Litauen, insbesondere ihrem Art. 118 Abs. 3, und nach den Bestimmungen des Lietuvos Respublikos prokuratūros įstatymas (Gesetz über die Staatsanwaltschaft der Republik Litauen) unabhängig seien. Da der Generalstaatsanwalt von Litauen den Status eines Staatsanwalts habe, komme er in den Genuss dieser Unabhängigkeit, die es ihm ermögliche, bei der Ausübung seines Amtes und insbesondere dann, wenn er wie im Ausgangsrechtsstreit über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zur Strafverfolgung entscheide, ohne jeden äußeren Einfluss, namentlich der Exekutive, tätig zu werden. Dabei sei er verpflichtet, auch über die Wahrung der Rechte der Betroffenen zu wachen.

56      In Anbetracht dessen dürfte der Generalstaatsanwalt von Litauen als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 einzustufen sein, denn über die Feststellung in Rn. 42 des vorliegenden Urteils hinaus gewährleistet sein Status in diesem Mitgliedstaat nicht nur die Objektivität seiner Aufgabe, sondern verschafft ihm auch eine Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive im Rahmen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls. Der Gerichtshof vermag allerdings den ihm vorliegenden Akten nicht zu entnehmen, ob die Entscheidungen des Generalstaatsanwalts über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls Gegenstand eines Rechtsbehelfs sein können, der den einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen voll und ganz genügt; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.

57      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass der Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass darunter der als eine strukturell von der Judikative unabhängige Stelle für die Verfolgung von Straftaten zuständige Generalstaatsanwalt eines Mitgliedstaats fällt, dessen Status in diesem Mitgliedstaat ihm eine Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive im Rahmen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls verschafft.

 Kosten

58      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Der Begriff ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass darunter der als eine strukturell von der Judikative unabhängige Stelle für die Verfolgung von Straftaten zuständige Generalstaatsanwalt eines Mitgliedstaats fällt, dessen Status in diesem Mitgliedstaat ihm eine Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive im Rahmen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls verschafft.

Unterschriften