PRESSEMITTEILUNG Nr. 68/19 vom 27. Mai 2019
Vorlageverfahren - Anträge
Urteile C‑508/18 und C‑82/19
Schlussanträge RS. C‑508/18 und C‑82/19
Urteil C‑509/18
Schlussanträge C-509/18
Vorlageverfahren - Anträge
Urteile C‑508/18 und C‑82/19
Schlussanträge RS. C‑508/18 und C‑82/19
Urteil C‑509/18
Schlussanträge C-509/18
Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
27. Mai 2019(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl –
Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 6 Abs. 1 – Begriff ‚ausstellende Justizbehörde‘ – Von der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats ausgestellter Europäischer Haftbefehl – Status – Vorliegen eines Unterordnungsverhältnisses
gegenüber einem Organ der Exekutive – Befugnis des Justizministers zu Einzelweisungen – Keine Gewähr für Unabhängigkeit“
In den verbundenen Rechtssachen C‑508/18 und C‑82/19 PPU
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 31. Juli 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 6. August 2018,
und vom High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) mit Entscheidung vom 4. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Februar 2019, in Verfahren betreffend die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle gegen
OG (C‑508/18),
PI (C‑82/19 PPU),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras und
T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin C. Toader, des Kammerpräsidenten F. Biltgen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter L. Bay Larsen, M. Safjan,
D. Šváby, S. Rodin und I. Jarukaitis,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des beim Gerichtshof am 5. Februar 2019 eingegangenen Antrags des High Court (Hoher Gerichtshof) vom 4. Februar 2019, das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑82/19 PPU gemäß Art. 107
der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund der Entscheidung der Vierten Kammer vom 14. Februar 2019, diesem Antrag stattzugeben,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. März 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von OG, vertreten durch E. Lawlor, BL, und R. Lacey, SC, im Auftrag von M. Moran, Solicitor,
– von PI, vertreten durch D. Redmond, Barrister, und R. Munro, SC, im Auftrag von E. King, Solicitor,
– des Minister for Justice and Equality, vertreten durch J. Quaney, M. Browne, G. Hodge und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von B. M. Ward, A. Hanrahan und J. Benson, BL,
und von P. Caroll, SC,
– der dänischen Regierung, vertreten durch P. Z. L. Ngo und J. Nymann-Lindegren als Bevollmächtigte,
– der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch T. Henze, J. Möller, M. Hellmann und A. Berg als Bevollmächtigte, dann durch M. Hellmann, J. Möller und A. Berg als Bevollmächtigte,
– der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, D. Dubois und E. de Moustier als Bevollmächtigte,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Faraci, avvocato dello Stato,
– der litauischen Regierung, vertreten durch V. Vasiliauskienė, J. Prasauskienė, G. Taluntytė und R. Krasuckaitė als Bevollmächtigte,
– der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und Z. Wagner als Bevollmächtigte,
– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
– der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse, K. Ibili und J. Schmoll als Bevollmächtigte,
– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters, J. Tomkin und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April 2019
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren
zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).
2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen der Vollstreckung von zwei Europäischen Haftbefehlen in Irland. Die Haftbefehle wurden in der Rechtssache C‑508/18 am 13. Mai 2016
von der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Lübeck (Deutschland) (im Folgenden: Staatsanwaltschaft Lübeck) zur Strafverfolgung von OG und in der Rechtssache C‑82/19 PPU am 15. März 2018 von der Staatsanwaltschaft
Zwickau (Deutschland) zur Strafverfolgung von PI erlassen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Erwägungsgründe 5, 6, 8 und 10 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lauten:
„(5) Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren
Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt
worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren
innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase
vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.
(6) Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen
Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.
…
(8) Entscheidungen zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls müssen ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss.
…
(10) Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 [EU] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 [EU] mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.“
4 Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:
„(1) Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen
anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.
(2) Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.
(3) Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“
5 Die Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses enthalten die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann. Art. 5 des Rahmenbeschlusses betrifft die vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährenden Garantien.
„(1) Ausstellende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist.
(2) Vollstreckende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats zuständig für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist.
(3) Jeder Mitgliedstaat unterrichtet das Generalsekretariat des Rates über die nach seinem Recht zuständige Justizbehörde.“
Irisches Recht
7 Mit dem European Arrest Warrant Act 2003 (Irisches Gesetz über den Europäischen Haftbefehl von 2003) in seiner auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden: EAW Act) wird der Rahmenbeschluss 2002/584 in irisches Recht umgesetzt. Abs. 1 von Section 2(1) des EAW Act bestimmt:
„Mit ,Justizbehörde‘ wird der Berufs- oder Laienrichter oder die sonstige Person bezeichnet, der oder die nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats befugt ist, dieselben oder ähnliche Aufgaben wahrzunehmen,
wie sie nach Section 33 von einem Gericht [in Irland] wahrgenommen werden.“
„(1) In Verfahren, auf die dieses Gesetz Anwendung findet, kann der High Court [(Hoher Gerichtshof, Irland)], wenn er die ihm übermittelten Unterlagen oder Informationen für nicht ausreichend
hält, um es ihm zu ermöglichen, seine Aufgaben nach diesem Gesetz wahrzunehmen, die ausstellende Justizbehörde oder gegebenenfalls den Ausstellungsstaat ersuchen, ihm innerhalb einer von ihm anzugebenden Frist solche zusätzlichen,
von ihm angegebenen Unterlagen oder Informationen zu übermitteln.
(2) Die zentrale Behörde [in Irland] kann, wenn sie die ihr nach diesem Gesetz übermittelten Unterlagen oder Informationen für nicht ausreichend hält, um es ihr oder dem High Court zu ermöglichen,
Aufgaben nach diesem Gesetz wahrzunehmen, die ausstellende Justizbehörde oder gegebenenfalls den Ausstellungsstaat ersuchen, ihr innerhalb einer von ihr anzugebenden Frist solche zusätzlichen, von ihr angegebenen Unterlagen
oder Informationen zu übermitteln. …“
Deutsches Recht
„Die Beamten der Staatsanwaltschaft haben den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen.“
„Das Recht der Aufsicht und Leitung steht zu:
1. dem Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz hinsichtlich des Generalbundesanwalts und der Bundesanwälte;
2. der Landesjustizverwaltung hinsichtlich aller staatsanwaltschaftlichen Beamten des betreffenden Landes;
3. dem ersten Beamten der Staatsanwaltschaft bei den Oberlandesgerichten und den Landgerichten hinsichtlich aller Beamten der Staatsanwaltschaft ihres Bezirks.“
Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen
Rechtssache C‑508/18
11 OG ist ein litauischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Irland. Am 13. Mai 2016 erließ die Staatsanwaltschaft Lübeck einen Europäischen Haftbefehl, um seine Übergabe
zur Strafverfolgung wegen einer Tat zu erwirken, die OG im Jahr 1995 begangen haben soll und die von der Staatsanwaltschaft als „vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung“ qualifiziert wird.
12 OG erhob vor dem High Court (Hoher Gerichtshof) Klage und stellte die Gültigkeit des Europäischen Haftbefehls u. a. mit dem Einwand in Abrede, dass die Staatsanwaltschaft
Lübeck keine „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sei.
13 Zur Stützung dieses Vorbringens legte OG ein Rechtsgutachten eines deutschen Anwalts vor, aus dem u. a. hervorgeht, dass die Staatsanwaltschaft nach deutschem Recht nicht die autonome oder unabhängige Stellung eines Gerichts innehabe, sondern zu einer Verwaltungshierarchie unter der Leitung des Justizministers gehöre, so dass die Gefahr einer politischen Einflussnahme auf die Übergabeverfahren bestehe. Zudem sei die Staatsanwaltschaft keine Justizbehörde und dürfe, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, nicht die Inhaftierung oder die Festnahme einer Person anordnen. Dazu sei nur ein Richter oder ein Gericht befugt. Die Staatsanwaltschaft sei für die Vollstreckung eines von einem Richter oder einem Gericht erlassenen nationalen Haftbefehls zuständig, gegebenenfalls durch Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls. Infolgedessen sei an der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls von OG keine „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 beteiligt gewesen.
14 Unter diesen Umständen wandte sich der High Court (Hoher Gerichtshof) über die irische zentrale Behörde an die Staatsanwaltschaft Lübeck und ersuchte sie um weitere Informationen zu dem Vorbringen von OG in Bezug auf die Einstufung der Staatsanwaltschaft als „Justizbehörde“, insbesondere in Anbetracht der Urteile vom 10. November 2016, Poltorak (C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858), und vom 10. November 2016, Özçelik (C‑453/16 PPU, EU:C:2016:860).
15 Am 8. Dezember 2016 antwortete die Staatsanwaltschaft Lübeck auf dieses Ersuchen. Sie führte aus, nach deutschem Recht sei die Staatsanwaltschaft ein den nationalen Gerichten gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege; ihr obliege die Strafverfolgung und die Mitwirkung im Strafverfahren. Sie sorge u. a. für die Rechtmäßigkeit und die Ordnungsmäßigkeit des Ermittlungsverfahrens sowie für dessen reibungslosen Ablauf. Sie schaffe die Vorbedingungen für die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt und vollstrecke die gerichtlichen Entscheidungen. Sie sei, anders als die Richter, zur Einleitung von Ermittlungsverfahren befugt.
16 Zu ihrer Beziehung zum Schleswig-Holsteinischen Minister für Justiz (Deutschland) gab die Staatsanwaltschaft Lübeck an, der Minister sei ihr gegenüber nicht weisungsbefugt.
Nach nationalem Recht sei nur die den Staatsanwaltschaften in Schleswig-Holstein vorgesetzte Staatsanwaltschaft beim Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht (Deutschland) (im Folgenden: Generalstaatsanwalt) weisungsbefugt
gegenüber dem Leitenden Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Lübeck (Deutschland). Darüber hinaus finde die Weisungsbefugnis ihre Schranke im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und in dem für das Strafverfahren
geltenden Legalitätsprinzip, das seinerseits auf dem Rechtsstaatsprinzip beruhe. Der Minister könne zwar unter Umständen gegenüber dem Generalstaatsanwalt ein sogenanntes „externes“ Weisungsrecht ausüben, müsse dabei
aber die genannten Grundsätze beachten. Außerdem sei er in Schleswig-Holstein verpflichtet, den Präsidenten des Landtags (Deutschland) zu unterrichten, wenn er dem Generalstaatsanwalt eine Weisung erteile. Im vorliegenden
Fall habe weder der Justizminister dem Generalstaatsanwalt noch Letzterer der Staatsanwaltschaft Lübeck eine Weisung in Bezug auf OG erteilt.
17 Am 20. März 2017 wies der High Court (Hoher Gerichtshof) das Vorbringen von OG zurück, dass die Staatsanwaltschaft Lübeck keine „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sei. Der Court of Appeal (Berufungsgerichtshof, Irland), bei dem ein Rechtsmittel gegen das Urteil des High Court (Hoher Gerichtshof) eingelegt wurde, bestätigte dessen Urteil.
18 Das vorlegende Gericht – der Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) – ließ die Einlegung eines Rechtsmittels gegen das Urteil des Court of Appeal (Berufungsgerichtshof) zu.
19 In Anbetracht der ihm vorliegenden Beweise hat das vorlegende Gericht Zweifel daran, ob die Staatsanwaltschaft Lübeck die Voraussetzung der Unabhängigkeit und die Voraussetzung in Bezug auf die Rolle bei der Strafrechtspflege erfüllt, die sich aus den Urteilen des Gerichtshofs vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483), vom 10. November 2016, Poltorak (C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858), vom 10. November 2016, Özçelik (C‑453/16 PPU, EU:C:2016:860), und vom 10. November 2016, Kovalkovas (C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861), ergeben und die erfüllt sein müssen, um die Staatsanwaltschaft als „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 einstufen zu können.
20 Das vorlegende Gericht führt aus, nach dem institutionellen Aufbau der Staatsanwaltschaft in Deutschland scheine die Staatsanwaltschaft Lübeck der Leitung und Weisungen durch die Exekutive zu unterliegen. Daher sei zweifelhaft, ob die Staatsanwaltschaft die vom Gerichtshof in den genannten Urteilen aufgestellten Grundsätze erfülle und ob ihre Unabhängigkeit in dem bei ihm anhängigen Fall allein daraus geschlossen werden könne, dass die Exekutive in Bezug auf den gegen OG ergangenen Europäischen Haftbefehl keinen Gebrauch von ihrer Leitungs- und Weisungsbefugnis gemacht habe.
21 Die Staatsanwaltschaft spiele zwar in Deutschland eine wesentliche Rolle bei der Rechtspflege, nehme aber andere Aufgaben wahr als die Gerichte oder die Richter. Selbst wenn die Voraussetzung in Bezug auf ihre Unabhängigkeit erfüllt sein sollte, sei daher nicht klar, ob sie die Voraussetzung in Bezug auf die Mitwirkung an der Rechtspflege erfülle, die vorliegen müsse, um sie als „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 einstufen zu können.
22 Unter diesen Umständen hat der Supreme Court (Oberster Gerichtshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist die Unabhängigkeit eines Staatsanwalts von der Exekutive anhand seiner Stellung in der entsprechenden nationalen Rechtsordnung zu beurteilen? Wenn nein, nach welchen Kriterien beurteilt sich
dann die Unabhängigkeit von der Exekutive?
2. Ist ein Staatsanwalt, der nach nationalem Recht entweder direkt oder indirekt einer möglichen Leitung oder Weisung durch ein Justizministerium unterliegt, von der Exekutive hinreichend unabhängig,
um als „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 angesehen werden zu können?
3. Wenn ja, muss der Staatsanwalt auch funktionell von der Exekutive unabhängig sein, und nach welchen Kriterien beurteilt sich die funktionelle Unabhängigkeit?
4. Falls er von der Exekutive unabhängig ist: Ist ein Staatsanwalt, dessen Aufgaben darauf beschränkt sind, Ermittlungen einzuleiten und durchzuführen sowie sicherzustellen, dass solche Ermittlungen
objektiv und rechtmäßig durchgeführt werden, Anklagen zu erheben, gerichtliche Entscheidungen zu vollstrecken und Straftaten zu verfolgen, der keine nationalen Haftbefehle ausstellt und der keine richterlichen Aufgaben
wahrnehmen darf, eine „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584?
5. Ist die Staatsanwaltschaft Lübeck eine „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584?
Rechtssache C‑82/19 PPU
23 Am 15. März 2018 erließ die Staatsanwaltschaft Zwickau (Deutschland) einen Europäischen Haftbefehl gegen PI, einen rumänischen Staatsangehörigen, um seine Übergabe zur Strafverfolgung wegen Straftaten zu erwirken, die als „Bandenraub oder Raub mit Waffen“ qualifiziert wurden. Der Haftbefehl wurde vom vorlegenden Gericht – dem High Court (Hoher Gerichtshof) – am 12. September 2018 für vollstreckbar erklärt. PI wurde am 15. Oktober 2018 auf der Grundlage dieses Haftbefehls festgenommen und befindet sich seitdem in Haft.
24 Das vorlegende Gericht führt aus, es sei mit dem gleichen Problem konfrontiert wie der Supreme Court (Oberster Gerichtshof) in der Rechtssache C‑508/18.
25 PI trat seiner Übergabe in Vollstreckung des gegen ihn ergangenen Europäischen Haftbefehls u. a. unter Berufung darauf entgegen, dass die Staatsanwaltschaft Zwickau keine für die Ausstellung eines solchen Europäischen Haftbefehls zuständige „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sei.
26 Zur Stützung dieses Vorbringens zog PI das in Rn. 13 des vorliegenden Urteils erwähnte Rechtsgutachten zur Staatsanwaltschaft Lübeck heran sowie ein Gutachten des gleichen Anwalts in Bezug auf die Staatsanwaltschaft Zwickau.
27 Unter diesen Umständen wandte sich das vorlegende Gericht über die irische zentrale Behörde an die Staatsanwaltschaft Zwickau und ersuchte sie um weitere Informationen zu den von OG in Bezug auf den Status der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweisen.
28 Im Rahmen ihrer Antwort vom 24. Januar 2019 übermittelte die Staatsanwaltschaft Zwickau den nationalen Haftbefehl des Amtsgerichts Zwickau (Deutschland), auf dem der gegen PI ergangene Europäische Haftbefehl beruht, und führte aus, der nationale Haftbefehl sei von einem unabhängigen Richter erlassen worden. Zudem sei sie die nach Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständige Behörde.
29 An die Staatsanwaltschaft Zwickau wurde ein erneutes Ersuchen gerichtet, um zu klären, ob sie den gleichen Ansatz verfolgt wie die Staatsanwaltschaft Lübeck in der Rechtssache C‑508/18. Die Staatsanwaltschaft Zwickau antwortete am 31. Januar 2019:
„Ich nehme Bezug auf Ihre Nachricht vom 28. Januar 2019 und die beigefügten Schriftstücke der Staatsanwaltschaft Lübeck. Hinsichtlich der Stellung des Staatsanwalts im Rechtssystem der Bundesrepublik
Deutschland teile ich die Auffassung der Staatsanwaltschaft Lübeck. Ich möchte hinzufügen, dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Zwickau gegen die verfolgte Person unabhängig und ohne jede politische Einflussnahme
durchgeführt werden. Weder die Generalstaatsanwaltschaft Dresden [(Deutschland)] noch das Justizministerium des Freistaats Sachsen [(Deutschland)] haben zu irgendeinem Zeitpunkt irgendwelche Weisungen erteilt.“
30 In diesem Kontext möchte der High Court (Hoher Gerichtshof) ebenso wie der Supreme Court (Oberster Gerichtshof) in der Rechtssache C‑508/18 wissen, welche Kriterien ein nationales Gericht anwenden muss, um zu bestimmen, ob die Staatsanwaltschaft eine „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ist.
31 Unter diesen Umständen hat der High Court (Hoher Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist die Unabhängigkeit eines Staatsanwalts von der Exekutive anhand seiner Stellung in der entsprechenden nationalen Rechtsordnung zu beurteilen? Wenn nein, nach welchen Kriterien beurteilt sich
dann die Unabhängigkeit von der Exekutive?
2. Ist ein Staatsanwalt, der nach nationalem Recht entweder direkt oder indirekt einer möglichen Leitung oder Weisung durch ein Justizministerium unterliegt, von der Exekutive hinreichend unabhängig,
um als „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 angesehen werden zu können?
3. Wenn ja, muss der Staatsanwalt auch funktionell von der Exekutive unabhängig sein, und nach welchen Kriterien beurteilt sich die funktionelle Unabhängigkeit?
4. Falls er von der Exekutive unabhängig ist: Ist ein Staatsanwalt, dessen Aufgaben darauf beschränkt sind, Ermittlungen einzuleiten und durchzuführen sowie sicherzustellen, dass solche Ermittlungen
objektiv und rechtmäßig durchgeführt werden, Anklagen zu erheben, gerichtliche Entscheidungen zu vollstrecken und Straftaten zu verfolgen, der keine nationalen Haftbefehle ausstellt und der keine richterlichen Aufgaben
wahrnehmen darf, eine „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584?
5. Ist die Staatsanwaltschaft Zwickau eine Justizbehörde im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584?
Verfahren vor dem Gerichtshof
Rechtssache C‑508/18
32 In der Rechtssache C‑508/18 hat das vorlegende Gericht beantragt, diese Rechtssache gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.
33 Sein Antrag ist durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 20. September 2018, Minister for Justice and Equality (C‑508/18 und C‑509/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:766), zurückgewiesen worden.
34 Der Präsident des Gerichtshofs hat entschieden, dass die Rechtssache C‑508/18 mit Vorrang entschieden wird.
Rechtssache C‑82/19 PPU
35 In der Rechtssache C‑82/19 PPU hat das vorlegende Gericht beantragt, das in Art. 107 der Verfahrensordnung vorgesehene Eilvorabentscheidungsverfahren anzuwenden.
36 Zur Stützung seines Antrags hat es insbesondere geltend gemacht, dass PI derzeit, bis zu seiner tatsächlichen Übergabe an die deutschen Behörden, seiner Freiheit beraubt sei.
37 Erstens ist festzustellen, dass sich das Vorabentscheidungsersuchen in dieser Rechtssache auf die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 bezieht, der zu den von Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags erfassten Bereichen gehört. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.
38 Zweitens ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen, dass dem im Ausgangsverfahren Betroffenen derzeit seine Freiheit entzogen ist und dass seine weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Poltorak, C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Inhaftnahme von PI wurde nämlich nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts im Rahmen der Vollstreckung des gegen ihn erlassenen Europäischen Haftbefehls angeordnet.
39 Unter diesen Umständen hat die Vierte Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag der Berichterstatterin und nach Anhörung des Generalanwalts am 14. Februar 2019 entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts stattzugeben und das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑82/19 PPU dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.
40 Überdies ist entschieden worden, die vorliegende Rechtssache an den Gerichtshof zu verweisen, damit sie der Großen Kammer zugewiesen wird.
41 Wegen des Zusammenhangs der Rechtssachen C‑508/18 und C‑82/19 PPU sind sie zu gemeinsamem Urteil zu verbinden.
Zu den Vorlagefragen
42 Mit ihren jeweiligen Fragen, die gemeinsam zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob der Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass darunter die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaats fallen, die für die Verfolgung von Straftaten zuständig sind und in einem Unterordnungsverhältnis zu einem Organ der Exekutive dieses Mitgliedstaats wie einem Justizminister stehen, dessen Anordnungen oder Einzelweisungen sie im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar unterworfen werden können.
43 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht, im Unionsrecht fundamentale Bedeutung haben, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die im Unionsrecht anerkannten Grundrechte beachten (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Was insbesondere den Rahmenbeschluss 2002/584 angeht, geht aus seinem sechsten Erwägungsgrund hervor, dass der mit ihm eingeführte Europäische Haftbefehl im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung darstellt.
45 Dieser Grundsatz kommt in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zur Anwendung, der die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach diesem Grundsatz und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken müssen. Die vollstreckenden Justizbehörden können daher die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls grundsätzlich nur aus den Gründen verweigern, die in den Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses abschließend aufgezählt werden. Außerdem darf die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur an eine der in Art. 5 des Rahmenbeschlusses abschließend geregelten Bedingungen geknüpft werden. Folglich stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung seiner Vollstreckung als eng auszulegende Ausnahme ausgestaltet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung setzt jedoch voraus, dass nur Europäische Haftbefehle im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 gemäß dessen Bestimmungen zu vollstrecken sind. Wie aus diesem Artikel hervorgeht, handelt es sich bei einem solchen Haftbefehl um eine „justizielle Entscheidung“, so dass er von einer „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ausgestellt worden sein muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. November 2016, Poltorak, C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 28, und vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 29).
47 Nach Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ist ausstellende Justizbehörde die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staates für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist.
48 Zwar können die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensautonomie in ihrem nationalen Recht die für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständige „Justizbehörde“ bestimmen, doch dürfen Bedeutung und Tragweite dieses Begriffs nicht der Beurteilung durch jeden Mitgliedstaat überlassen bleiben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. November 2016, Poltorak, C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 30 und 31, sowie vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 31 und 32).
49 Der genannte Begriff bedarf in der gesamten Union einer autonomen und einheitlichen Auslegung, die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung sowohl des Wortlauts von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 als auch des Kontexts, in den er sich einfügt, und des mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziels zu ermitteln ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. November 2016, Poltorak, C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 32, und vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 33).
50 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass sich der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Justizbehörde“ nicht allein auf die Richter oder Gerichte eines Mitgliedstaats beschränkt, sondern so zu verstehen ist, dass er darüber hinaus die Behörden erfasst, die in diesem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken, im Unterschied insbesondere zu Ministerien oder Polizeibehörden, die zur Exekutive gehören (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. November 2016, Poltorak, C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 33 und 35, sowie vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 34 und 36).
51 Daraus folgt, dass sich der Begriff „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 auf die Behörden eines Mitgliedstaats erstrecken kann, die, ohne notwendigerweise Richter oder Gerichte zu sein, in diesem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken.
52 Diese Auslegung wird zum einen durch den Kontext von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestätigt. Hierzu ist festzustellen, dass der Rahmenbeschluss ein Instrument der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ist, die die gegenseitige Anerkennung nicht nur rechtskräftiger Entscheidungen der Strafgerichte umfasst, sondern darüber hinaus von Entscheidungen der Justizbehörden der Mitgliedstaaten im Rahmen des Strafverfahrens, einschließlich der die Verfolgung von Straftaten betreffenden Phase dieses Verfahrens.
53 Die in Art. 31 EU, der die Rechtsgrundlage des Rahmenbeschlusses 2002/584 bildet, vorgesehene justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen schloss nämlich u. a. die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten sowohl im Verfahren als auch bei der Vollstreckung von Entscheidungen ein.
54 Der Begriff „Verfahren“, der weit zu verstehen ist, kann sich auf das gesamte Strafverfahren erstrecken, d. h. auf die Phase vor dem Strafprozess, den Strafprozess selbst und die Phase der Vollstreckung der rechtskräftigen Entscheidung eines Strafgerichts, mit der eine Person einer Straftat für schuldig befunden wurde.
55 Für diese Auslegung spricht auch der Wortlaut von Art. 82 Abs. 1 Buchst. d AEUV, der Art. 31 EU ersetzt hat. Dort heißt es nunmehr, dass die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten im Rahmen der Strafverfolgung sowie des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen umfasst.
56 Zum anderen wird die vorstehende Auslegung durch das Ziel des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestätigt, das nach dessen fünftem Erwägungsgrund darin besteht, ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts einzuführen.
57 Der Rahmenbeschluss 2002/584 soll nämlich durch die Einführung eines vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt
worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit erleichtern und beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit
und des Rechts zu werden, wobei er entsprechend dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraussetzt (Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic, C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026,
Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).
58 Die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls kann nach Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses zwei verschiedene Gegenstände haben. Er kann entweder zur Strafverfolgung im Ausstellungsmitgliedstaat oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in diesem Staat ausgestellt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2010, B., C‑306/09, EU:C:2010:626, Rn. 49).
59 Da der Europäische Haftbefehl in der Phase vor der Urteilsverkündung den freien Verkehr justizieller Entscheidungen in Bezug auf die Strafverfolgung erleichtert, ist davon auszugehen, dass die Behörden, die nach nationalem Recht für den Erlass solcher Entscheidungen zuständig sind, in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses fallen können.
60 Aus den Erwägungen in den Rn. 50 bis 59 des vorliegenden Urteils folgt, dass bei einer Behörde wie der Staatsanwaltschaft – die im Rahmen des Strafverfahrens befugt ist, eine einer Straftat verdächtigte Person zu verfolgen, damit sie vor Gericht gestellt wird – davon auszugehen ist, dass sie im betreffenden Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt.
61 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass die Staatsanwaltschaften in Deutschland eine wesentliche Rolle im Ablauf des Strafverfahrens spielen.
62 Insoweit hat die deutsche Regierung in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen ausgeführt, nach den Bestimmungen des deutschen Rechts über das Strafverfahren seien die Staatsanwaltschaften zur Erhebung der öffentlichen Klage berufen, so dass sie allein für die Einleitung der Strafverfolgung zuständig seien. Außerdem seien die Staatsanwaltschaften aufgrund des Legalitätsprinzips grundsätzlich verpflichtet, gegen jede einer Straftat verdächtigte Person Ermittlungen einzuleiten. Aus diesen Angaben geht hervor, dass die Staatsanwaltschaften generell im Rahmen des Strafverfahrens die Vorbedingungen für die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt durch die Strafgerichte dieses Mitgliedstaats zu schaffen haben.
63 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Staatsanwaltschaften im betreffenden Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken.
64 Zweitens haben die vorlegenden Gerichte unter Bezugnahme auf das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte Zweifel daran, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Staatsanwaltschaften dieses Erfordernis erfüllen, da sie in eine hierarchische Struktur mit dem Justizminister des betreffenden Bundeslands an der Spitze eingebunden seien, wobei dieser Minister gegenüber den Stellen, die ihm wie die Staatsanwaltschaften untergeordnet seien, zu Kontrolle, Leitung und sogar Weisung befugt sei.
65 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 zur Schaffung eines vereinfachten Systems der unmittelbaren Übergabe zwischen Justizbehörden dient, das an die Stelle eines mit einem Eingriff und einer Beurteilung durch die politische Gewalt verbundenen Systems der klassischen Kooperation zwischen souveränen Staaten treten soll, um im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts den freien Verkehr strafrechtlicher justizieller Entscheidungen sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 41).
66 In diesem Rahmen muss, wenn ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wird, damit ein anderer Mitgliedstaat eine zum Zweck der Strafverfolgung gesuchte Person festnimmt und übergibt, diese Person in einem ersten Stadium des Verfahrens in den Genuss der Verfahrens- und Grundrechte gekommen sein, deren Schutz die Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats nach dem anzuwendenden nationalen Recht, insbesondere im Hinblick auf den Erlass eines nationalen Haftbefehls, zu gewährleisten haben (Urteil vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi, C‑241/15, EU:C:2016:385, Rn. 55).
67 Das System des Europäischen Haftbefehls enthält somit einen zweistufigen Schutz der Verfahrens- und Grundrechte, in deren Genuss die gesuchte Person kommen muss, da zu dem gerichtlichen Schutz auf der ersten Stufe, beim Erlass einer nationalen Entscheidung wie eines nationalen Haftbefehls, der Schutz hinzukommt, der auf der zweiten Stufe, bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls, zu der es gegebenenfalls kurze Zeit nach dem Erlass dieser nationalen justiziellen Entscheidung kommen kann, zu gewährleisten ist (Urteil vom 1. Juni 2016, Bob-Dogi, C‑241/15, EU:C:2016:385, Rn. 56).
68 Bei einer Maßnahme, die – wie die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls – das in Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht auf Freiheit des Betroffenen beeinträchtigen kann, impliziert dieser Schutz, dass zumindest auf einer seiner beiden Stufen eine Entscheidung erlassen wird, die den einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen genügt.
69 Folglich muss, wenn nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls eine Behörde zuständig ist, die in diesem Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt, aber kein Richter oder Gericht ist, die nationale justizielle Entscheidung – wie ein nationaler Haftbefehl –, auf die sich der Europäische Haftbefehl stützt, ihrerseits diese Anforderungen erfüllen.
70 Die Erfüllung dieser Anforderungen ermöglicht es dabei, der vollstreckenden Justizbehörde zu garantieren, dass die Entscheidung, zum Zweck der Strafverfolgung einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, auf einem gerichtlicher Kontrolle unterworfenen nationalen Verfahren beruht und dass die Person, gegen die sich der nationale Haftbefehl richtet, über alle dem Erlass derartiger Entscheidungen eigene Garantien verfügte, insbesondere über diejenigen, die sich aus den in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Grundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben.
71 Die in Rn. 67 des vorliegenden Urteils erwähnte zweite Stufe des Schutzes der Rechte des Betroffenen impliziert, dass die nach nationalem Recht für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständige Justizbehörde insbesondere überprüft, ob die für seine Ausstellung erforderlichen Voraussetzungen eingehalten wurden und ob seine Ausstellung in Anbetracht der Besonderheiten des Einzelfalls verhältnismäßig war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 47).
72 Die Gewährleistung dieser zweiten Stufe des Schutzes obliegt nämlich der „ausstellenden Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584, d. h. der Stelle, die letztlich die Entscheidung trifft, den Europäischen Haftbefehl auszustellen; dies gilt auch dann, wenn der Europäische Haftbefehl auf einer nationalen Entscheidung beruht, die von einem Richter oder einem Gericht getroffen wurde.
73 Die „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 muss daher in der Lage sein, diese Aufgabe in objektiver Weise wahrzunehmen, unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Gesichtspunkte und ohne Gefahr zu laufen, dass ihre Entscheidungsbefugnis Gegenstand externer Anordnungen oder Weisungen, insbesondere seitens der Exekutive, ist, so dass kein Zweifel daran besteht, dass die Entscheidung, den Europäischen Haftbefehl auszustellen, von dieser Behörde getroffen wurde und nicht letzten Endes von der Exekutive (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 42).
74 Infolgedessen muss die ausstellende Justizbehörde der vollstreckenden Justizbehörde die Gewähr bieten können, dass sie angesichts der nach der Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats bestehenden Garantien bei der Ausübung ihrer der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls innewohnenden Aufgaben unabhängig handelt. Diese Unabhängigkeit verlangt, dass es Rechts- und Organisationsvorschriften gibt, die zu gewährleisten vermögen, dass die ausstellende Justizbehörde, wenn sie die Entscheidung trifft, einen solchen Haftbefehl auszustellen, nicht der Gefahr ausgesetzt ist, etwa einer Einzelweisung seitens der Exekutive unterworfen zu werden.
75 Außerdem müssen, wenn nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls eine Behörde zuständig ist, die in diesem Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt, aber selbst kein Gericht ist, in dem Mitgliedstaat die Entscheidung über die Ausstellung eines solchen Haftbefehls und insbesondere ihre Verhältnismäßigkeit in einer Weise gerichtlich überprüfbar sein, die den Erfordernissen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes voll und ganz genügt.
76 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den in den Vorlageentscheidungen enthaltenen und von der deutschen Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof bestätigten Angaben zwar, dass die deutschen Staatsanwaltschaften zur Objektivität verpflichtet sind und nicht nur belastende, sondern auch entlastende Umstände zu ermitteln haben. Gleichwohl verfügt nach den genannten Angaben der Justizminister über ein „externes“ Weisungsrecht gegenüber den Staatsanwaltschaften (§§ 146 und 147 GVG).
77 Wie die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof bestätigt hat, verleiht dieses Weisungsrecht dem Justizminister die Befugnis, unmittelbaren Einfluss auf die Entscheidung einer Staatsanwaltschaft zu nehmen, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen oder gegebenenfalls nicht zu erlassen. Die deutsche Regierung hat hinzugefügt, dass das Weisungsrecht insbesondere im Stadium der Prüfung, ob die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls verhältnismäßig ist, ausgeübt werden kann.
78 Die deutsche Regierung hat zwar darauf hingewiesen, dass das deutsche Recht Garantien vorsehe, die es ermöglichten, das Weisungsrecht des Justizministers gegenüber der Staatsanwaltschaft zu begrenzen, so dass die Fälle, in denen von ihm Gebrauch gemacht werden könne, äußerst selten seien.
79 Dabei hat sie zum einen angegeben, das für die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft geltende Legalitätsprinzip vermöge zu gewährleisten, dass etwaige Einzelweisungen des Justizministers die sich aus Gesetz und Recht ergebenden Grenzen jedenfalls nicht überschritten. Zudem seien die Staatsanwälte im Land Schleswig-Holstein und im Freistaat Sachsen Beamte, die nicht wegen der bloßen Nichtbeachtung einer Weisung ihres Amtes enthoben werden könnten. Zum anderen hat sie ausgeführt, im Land Schleswig-Holstein müssten Weisungen des Ministers gegenüber den Staatsanwaltschaften schriftlich erteilt und dem Präsidenten des Landtags mitgeteilt werden. Im Freistaat Sachsen sehe der Koalitionsvertrag der Landesregierung vor, dass vom Weisungsrecht des Justizministers in einer Reihe von Einzelfällen während der Laufzeit des Koalitionsvertrags kein Gebrauch mehr gemacht werde.
80 Festzustellen ist jedoch, dass solche Garantien – ihr Vorliegen unterstellt – jedenfalls nicht völlig ausschließen können, dass Entscheidungen der Staatsanwaltschaft über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls, wie sie in den Ausgangsverfahren in Rede stehen, im Einzelfall einer Weisung des Justizministers des betreffenden Bundeslands unterworfen werden könnten.
81 Zunächst mag es zwar zutreffen, dass nach dem Legalitätsprinzip eine offensichtlich rechtswidrige Weisung des Ministers von der betreffenden Staatsanwaltschaft grundsätzlich nicht zu befolgen wäre, doch ist, wie aus Rn. 76 des vorliegenden Urteils hervorgeht, das Weisungsrecht des Ministers im GVG anerkannt, und dort ist nicht näher geregelt, unter welchen Voraussetzungen es ausgeübt werden kann. Dass es das genannte Prinzip gibt, ist daher für sich genommen nicht geeignet, den Justizminister eines Bundeslands daran zu hindern, auf die Ermessensausübung durch die Staatsanwaltschaften dieses Bundeslands bei ihrer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls Einfluss zu nehmen; dies hat die deutsche Regierung im Übrigen in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof bestätigt.
82 Ferner mag zwar in einigen Bundesländern wie im Land Schleswig-Holstein für Weisungen des Ministers die Schriftform vorgeschrieben sein. Gleichwohl bleiben sie, wie in der vorstehenden Randnummer hervorgehoben, nach dem GVG zulässig. Überdies haben die Erörterungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ergeben, dass angesichts der allgemeinen Formulierung des GVG jedenfalls nicht ausgeschlossen werden kann, dass Weisungen mündlich erteilt werden.
83 Schließlich mag die Exekutive im Freistaat Sachsen zwar beschlossen haben, derzeit in bestimmten Einzelfällen keinen Gebrauch vom Weisungsrecht zu machen; diese Garantie erstreckt sich aber offenbar nicht auf alle Fälle. Sie ist jedenfalls nicht gesetzlich verankert worden, so dass nicht ausgeschlossen ist, dass sich die Sachlage in der Zukunft durch eine politische Entscheidung ändern könnte.
84 Wie in Rn. 73 des vorliegenden Urteils ausgeführt, besteht aufgrund der Gefahr, dass die Exekutive im Einzelfall einen solchen Einfluss auf die Staatsanwaltschaft ausüben könnte, aber keine Gewähr dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben im Zusammenhang mit der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls die in Rn. 74 des vorliegenden Urteils erwähnten Garantien erfüllt.
85 Diese Erwägung kann nicht durch den von der deutschen Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof angeführten Umstand in Frage gestellt werden, dass der Betroffene gegen Entscheidungen der Staatsanwaltschaften über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden vor den zuständigen deutschen Gerichten Klage erheben kann.
86 In Anbetracht der Angaben der deutschen Regierung dürfte die Existenz dieses Rechtsbehelfs als solche nämlich nicht geeignet sein, die Staatsanwaltschaften vor der Gefahr zu bewahren, dass ihre Entscheidungen im Rahmen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls einer Einzelweisung des Justizministers unterworfen werden.
87 Mit einem solchen Rechtsbehelf kann zwar gewährleistet werden, dass die Wahrnehmung der Aufgaben der Staatsanwaltschaft einer nachträglichen gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden kann, doch bleibt eine etwaige Einzelweisung des Justizministers gegenüber den Staatsanwaltschaften im Rahmen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nach deutschem Recht jedenfalls zulässig.
88 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Staatsanwaltschaften, da sie der Gefahr ausgesetzt sind, bei ihrer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls von der Exekutive beeinflusst zu werden, eines der Erfordernisse für ihre Einstufung als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 offenbar nicht erfüllen, und zwar das Erfordernis, die Gewähr für unabhängiges Handeln im Rahmen der Ausstellung eines solchen Haftbefehls zu bieten.
89 Im vorliegenden Fall ist es dabei aus den in Rn. 73 des vorliegenden Urteils genannten Gründen irrelevant, dass den Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau im Rahmen der Ausstellung der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehle von den Justizministern der betreffenden Bundesländer keine Einzelweisung erteilt wurde.
90 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass der Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass darunter nicht die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaats fallen, die der Gefahr ausgesetzt sind, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive, etwa eines Justizministers, unterworfen zu werden.
Kosten
91 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Rechtssachen C‑508/18 und C‑82/19 PPU werden zu gemeinsamem Urteil verbunden.
2. Der Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen
Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass darunter nicht die Staatsanwaltschaften
eines Mitgliedstaats fallen, die der Gefahr ausgesetzt sind, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens
der Exekutive, etwa eines Justizministers, unterworfen zu werden.
Unterschriften
* Verfahrenssprache:
Englisch.