Samstag, 19. April 2014

Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Haftung der Mitgliedstaaten wegen Verstoßes gegen das EU-Recht

(Abschrift)

EUROPÄISCHE KOMMISSION 
Brüssel, den 15. Juli 2009


Inhalt


1. EINLEITUNG........3
2. GRUNDSATZURTEIL FRANCOVICH.....3
3. VORAUSSETZUNGEN FÜR DIE HAFTUNG DES STAATES:
URTEIL BRASSERIE DU PECHEUR / FACTORTAME.....4
4. ENTWICKLUNG DER RECHTSPRECHUNG SEIT DEM URTEIL BRASSERIE DU PECHEUR UND FACTORTAME: URTEIL IM FALL BRITISH TELECOMMUNICATIONS.......7
5. FÜR DEN VERSTOSS GEGEN DAS GEMEINSCHAFTSRECHT
VERANTWORTLICHES ORGAN.........8
6. ANWENDUNG DES HAFTUNGSGRUNDSATZES DURCH DIE
GERICHTE DER MITGLIEDSTAATEN......10
7. FAZIT......13

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1.  EINLEITUNG

In ihrer Mitteilung vom 5. September 2007  „Ein Europa der Ergebnisse – Anwendung des Gemeinschaftsrechts“ (KOM(2007) 502) hatte die Kommission die Veröffentlichung eines Papiers zur Erläuterung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Haftung der Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht angekündigt.

Schon sehr früh, nämlich in seinem Urteil vom 16. Dezember 1960 (1), hat der Gerichtshof folgenden Leitsatz verkündet:

“Stellt der Gerichtshof fest, dass ein Akt der Gesetzgebungs- oder der Verwaltungsorgane eines Mitgliedstaates demGemeinschaftsrecht zuwiderläuft, so ist dieser Staat nach Artikel 86 EGKS-Vertrag
verpflichtet, sowohl diesen Akt rückgängig zu machen als auch die möglicherweise durch ihn verursachten rechtswidrigen Folgen zu beheben.“ (2)

Gefestigt wurde diese Rechtsprechung zur Haftung eines Staates wegen Verstoßes gegen geltendes Gemeinschaftsrecht in dem Francovich-Urteil vom 28. Mai 1991 (3)
.
2.  GRUNDSATZURTEIL FRANCOVICH

In diesem Urteil führte der Gerichtshof aus, dass der Einzelne gegenüber dem Mitgliedstaat Anspruch auf Ersatz der Schäden hat, die ihm daraus entstanden sind, dass dieser Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht fristgerecht umgesetzt hat (4).

Die Richtlinie 80/987 sah bestimmte Garantien zum Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers vor. Diese Richtlinie war von Italien nicht umgesetzt worden, wie der Gerichtshof  bereits auf die von der Kommission erhobene Vertragsverletzungsklage hin festgestellt hatte (5).

Im ersten Teil des Urteils führt der Gerichtshof aus, dass die Richtlinie 80/987 keine unmittelbare Wirkung entfalte, da ihre Bestimmungen insofern nicht hinreichend genau und bedingungslos seien, als sie den Mitgliedstaaten bei der Organisation und der Finanzierung der Garantieeinrichtung einen großen Gestaltungsspielraum ließen (entweder ausschließlich durch die öffentliche Hand oder mit Beteiligung der Arbeitgeber). Die Betroffenen können sich somit vor Gericht nicht unmittelbar auf die Richtlinie berufen (6).

Im zweiten Teil des Urteils stellt der Gerichtshof unter Verweis auf die Grundlagen des Gemeinschaftsrechts und die Pflicht der Gerichte, die volle Wirkung dieser Bestimmungen zu gewährleisten und die Rechte zu schützen, die das Gemeinschaftsrecht dem Einzelnen verleiht, fest, dass „die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen […] beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert [wäre],
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1   Rechtssache 6/60.

2   Slg. der Rechtsprechung, S. 1165.


3   Verbundene Rechtssachen C-6/90 und C-9/90.


4   Verbundene Rechtssachen C-6/90 und C-9/90, Rdnr. 46.


5   Rechtssache 22/87.


6   Verbundene Rechtssachen C-6/90 und C-9/90, Rdnr. 27. 



-3-

wenn der einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, dass seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einem Mitgliedstaat zuzurechnen ist“ (7). Diese Möglichkeit einer Entschädigung durch den Mitgliedstaat ist vor allem dann unerlässlich, wenn die volle Wirkung des Gemeinschaftsrechts davon abhängt, dass dieser Staat tätigwird, beispielsweise indem er eine Richtlinie umsetzt.

Unter Bezugnahme auf Artikel 5 EWG-Vertrag (nunmehr Artikel 10 EG-Vertrag) kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass es „[…] ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts [ist], dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die demEinzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen sind“  (8).


Mit diesem Urteil hat der Gerichtshof die Haftung des Staates zum Grundsatz erhoben, weil sie „aus dem Wesen der mit dem EWG-Vertrag geschaffenen Rechtsordnung [folge]“ (9), eine Formulierung, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung immer wieder aufgegriffen hat (10).

3.  VORAUSSETZUNGEN FÜR DIE HAFTUNG DES STAATES:  URTEIL  BRASSERIE DU PECHEUR / FACTORTAME (11)

Weitere Erläuterungen ließ der Gerichtshof in zwei Urteilen, den Rechtssachen Brasserie du pêcheur (12) und Factortame (13), folgen.

Der deutsche Bundesgerichtshof und der englische High Court hatten den Gerichtshof um Vorabentscheidung in der Frage gebeten,  ob ein Staat auch in Fällen, in denen es nicht um die Umsetzung von Richtlinien geht, haftet und der Einzelne einen Anspruch auf Ersatz des ihm entstandenen Schadens hat. In den beiden Rechtssachen geht es daher um die Frage, ob die Haftung des Staates grundsätzlich gilt, beispielsweise auch dann, wenn ein nationales Gesetz gegen unmittelbar anwendbare Rechtsvorschriften verstößt, und welche Bedingungen hierfür erfüllt sein müssen.

Durch das Urteil  Brasserie des pecheurs / Factortame und die darin formulierten Leitsätze ist es für den Einzelnen sehr viel einfacher geworden, den Staat zur Einhaltung des Gemeinschaftsrechts zu zwingen.

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7   Verbundene Rechtssachen C-6/90 und C-9/90, Rdnr. 33.
8   Verbundene Rechtssachen C-6/90 und C-9/90, Rdnr. 37.
9   Verbundene Rechtssachen C-6/90 und C-9/90, Rdnr. 35.
10  Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 31, Rechtssache C-392/93, Rdnr. 38, Rechtssache C-5/94, Rdnr. 24, verbundene Rechtssachen C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94, Rdnr. 20, verbundene Rechtssachen C-283/94, C-291/94 und C-292/94, Rdnr. 47, Rechtssache C-66/95, Rdnr. 31, verbundene Rechtssachen C-94/95 und C-95/95, Rdnr. 46, sowie die Rechtssachen C-373/95, Rdnr. 34, C-261/95, Rdnr. 24, C-127/95, Rdnr. 106, C-319/96, Rdnr. 24, C-424/97, Rdnr. 26, C-118/00, Rdnr. 34, C-224/01, Rdnr. 30, C-63/01, Rdnr. 82, und C-445/06, Rdnr. 19.
11  Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93.
12  Rechtssache C-46/93.
13  Rechtssache C-48/93.

-4-

Das Gericht stellt zunächst fest, dass  der Staat bei Verstoß gegen geltendes Gemeinschaftsrecht grundsätzlich haften  muss, sofern bestimmte Voraussetzungen gegeben sind, und zwar unabhängig davon, welches mitgliedstaatliche Organ den Verstoß begangen hat – es kann auch ein nationales Parlament sein (14)  – und unabhängig von der Art der verletzten Gemeinschaftsnorm, weil „der Entschädigungsanspruch die notwendige Ergänzung der unmittelbaren Wirkung darstellt, die den Gemeinschaftsvorschriften zukommt, auf deren Verletzung der entstandene Schaden beruht“ (15). Außerdem vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass die Voraussetzungen, die einen Entschädigungsanspruch begründen können, von der Art des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht abhängen. In den beiden zitierten Rechtssachen ließ er sich bei der Spezifizierung dieser Voraussetzungen von zwei Grundsätzen leiten: zum einen von dem Grundsatz der Wirksamkeit der Gemeinschaftsnormen, d.h. es muss gewährleistet sein, dass diese ihre volle Wirkung entfalten können und die dem Einzelnen durch sie verliehenen Rechte effektiv geschützt  werden, und zum anderen vom Grundsatz der Kohärenz zwischen der in Artikel 215 (nunmehr Artikel 288) EG-Vertrag geregelten außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft und der Haftung der Mitgliedstaaten: Es
dürfe nicht sein, dass die Voraussetzungen, unter die beiden Haftungssysteme zum Tragen kommen, unter vergleichbaren Umständen ohne besonderen Grund variieren.

Ausgehend von diesen beiden Grundsätzen, die er in seiner Rechtsprechung mehrfach ausgeführt und bestätigt hat, entwickelte der Gerichtshof die folgenden drei Voraussetzungen (16), um die Haftung des Staates wegen Verletzung einer Rechtsnorm festzustellen:

  • die Rechtsnorm, gegen die verstoßen  wurde, muss bezwecken, dem Einzelnen Rechte zu verleihen;
  • der Verstoß muss hinreichend qualifiziert sein und 
  • zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden muss ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen. Dabei ist  zu prüfen, ob sich der behauptete Schaden mit hinreichender Unmittelbarkeit aus dem Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht ergibt, um den Mitgliedstaat zu dessen Ersatz zu verpflichten (17).
Diese Voraussetzungen sind je nach Fallgestaltung zu beurteilen (18).

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14   Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 32.
15   Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 22.
16   Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 51; erneut aufgegriffen in den Rechtssachen
C-392/93, Rdnr. 39-40, und C-5/94, Rdnr. 25, den verbundenen Rechtssachen C-178/94, C-179/94, C-
188/94, C-189/94 und C-190/94, Rdnr. 21, sowie C-283/94, C-291/94 und C-292/94, Rdnr. 48, der
Rechtssache C-66/95, Rdnr. 32, den verbundenen Rechtssachen C-94/95 und C-95/95, Rdnr. 47,
sowie den Rechtssachen C-373/95, Rdnr. 35, C-261/95, Rdnr. 25, C-127/95, Rdnr. 107, C-319/96,
Rdnr. 25, C-424/97, Rdnr. 36, C-131/97, Rdnr. .52, C-371/97, Rdnr. 38, C-118/00, Rdnr. 36, C-
224/01, Rdnr. 51, C-63/01, Rdnr. 83, C-212/04, Rdnr. 112, C-446/04, Rdnr. 209, C-278/05, Rdnr. 69,
C-470/03, Rdnrn. 78 und 92, C-524/04, Rdnr. 115, C-201/05, Rdnr. 118, C-452/06, Rdnr. 35 und C-
445/06, Rdnr. 20.
17   Rechtssache C-446/04, Rdnr. 218.
18   Verbundene Rechtssachen C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94, Rdnr. 24, erneutaufgegriffen in den Rechtssachen C-127/95, Rdnr. 107, und C-424/97, Rdnr. 36. 


-5-

 Der Gerichtshof stellte fest, dass ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht dann unstrittig ist, wenn ein Mitgliedstaat die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat (19). Dies zu würdigen sei jedoch Sache der nationalen Gerichte, die „allein für die Feststellung des Sachverhalts (…) und die Qualifizierung der betreffenden Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht zuständigsind“ (20). Dennoch hielt es der Gerichtshof für hilfreich, auf bestimmte Kriterien hinzuweisen, die die nationalen Gerichte zu diesem Zweck heranziehen könnten. So sei „jedenfalls […] ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht offenkundig qualifiziert, wenn er trotz des Erlasses eines Urteils, in dem der zur Last gelegte Verstoß festgestellt wird, oder eines Urteils im Vorabentscheidungsverfahren oder aber einer gefestigten einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofes (…) fortbestanden hat“  (21).

Um festzustellen, ob eine Verletzung des  Gemeinschaftsrechts einen hinreichend qualifizierten Verstoß darstellt, muss das nationale Gericht alle Gesichtspunkte würdigen, die für den ihm vorgelegten Sachverhalt kennzeichnend sind (22). Zu diesenGesichtspunkten zählen unter anderem, wie der Gerichtshof im Urteil  Brasserie du Pêcheur und  Factortame ausgeführt hat, „das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte Vorschrift den nationalen oder Gemeinschaftsbehörden belässt, die Frage, ob der Verstoß vorsätzlich oder nicht vorsätzlich begangen oder der Schaden vorsätzlich oder nicht vorsätzlich zugefügt wurde, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums und der Umstand, dass die Verhaltensweisen eines Gemeinschaftsorgans möglicherweise  dazu beigetragen haben, dass nationale Maßnahmen oder Praktiken in gemeinschaftsrechtswidriger Weise unterlassen, eingeführt oder aufrechterhalten wurden“ (23).

Der Ermessensspielraum ist ein wichtiges Kriterium für die Feststellung, ob der Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht hinreichend qualifiziert ist. So könne „die bloße Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat, der zum Zeitpunkt dieser Rechtsverletzung keine gesetzgeberischen Entscheidungen zu treffen hatte und über einen erheblich verringerten oder gar auf Null reduzierten Gestaltungsspielraum verfügte, ausreichen, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß anzunehmen“ (24).                                  
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19   Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 55; erneut aufgegriffen in der Rechtssache C-392/93, Rdnr. 42; den verbundenen RechtssachenC-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94, Rdnr. 25, sowie C-283/94, C-291/94 und C-292/94, Rdnr. 50, und den Rechtssachen C-127/95, Rdnr. 109, C-140/97, Rdnr. 50, C-424/97, Rdnr. 38, C-118/00, Rdnr. 38, C-446/04, Rdnr. 212, C-278/05, Rdnrn. 70 und 82, C-470/97, Rdnr. 80, C-524/04, Rdnr. 118,  C-446/04, Rdnr. 212, C-201/05, Rdnr. 121 und C-452/06, Rdnr. 37.
20   Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 58.
21   Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 57, erneut zitiert in den Rechtssachen C-118/00, Rdnr. 44; C-224/01, Rdnr. 57, C-446/04, Rdnr. 214, C-524/04, Rdnr. 120,  C-446/04, Rdnr. 214, und C-201/05, Rdnr. 123.
22   Rechtssache C-424/97, Rdnr. 43, erneut aufgegriffen in den Rechtssachen C-118/00, Rdnr. 39; C-63/01, Rdnr. 86, C-224/01,Rdnr. 54, und C-278/05, Rdnr. 76.
23   Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 56, erneut aufgegriffen in den Rechtssachen C-392/93, Rdnr. 42; C-140/97, Rdnr. 50, C-424/97, Rdnr. 43, C-118/00, Rdnr. 39, C-224/01,Rdnr. 55, C-446/04, Rdnr. 213, C-278/05, Rdnrn. 70 und 77, C-524/04, Rdnr. 119,  C-446/04, Rdnr. 213, C-201/05, Rdnr. 122 und C-452/06, Rdnr. 37.
24   Rechtssache C-5/94, Rdnr. 28,  später erneut zitiert in den verbundenen Rechtssachen C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94, Rdnr. 21,sowie den Rechtssachen C-190/94, Rdnr. 25, C-127/95, Rdnr. 109, C-424/97, Rdnr. 38, C-118/00, Rdnr. 38, C-224/01,C-446/04, Rdnr. 212, C-278/05, Rdnr. 71, C-470/03, Rdnr. 81 und C-452/06, Rdnr. 38.

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Ob und in welchem Umfang dieser Gestaltungsspielraum vorliege, bestimme sich nach Gemeinschaftsrecht und nicht nach nationalem Recht (25).

In einem Urteil aus neuerer Zeit nahm der Gerichtshof zu der Frage Stellung, ob ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, für einen seiner Bürger Nichtigkeitsklage nach Artikel 230 EG oder Untätigkeitsklage nach Artikel  232 EG zu erheben und ob der Staat dafür haftbar gemacht werden könne, wenn er dies unterlässt. Er stellt in diesem Zusammenhang fest, dass „das Gemeinschaftsrecht keine Verpflichtung eines Mitgliedstaats enthält, eine Nichtigkeitsklage nach Artikel 230 EG oder eine Untätigkeitsklage nach Artikel 232 EG zugunsten eines seiner Bürger zu erheben. Es läuft ihm allerdings grundsätzlich nicht zuwider, wenn nationales Recht eine solche Verpflichtung oder die Haftung des Mitgliedstaats für den Fall vorsieht, dass er nicht in diesem Sinne tätig geworden ist“  (26).


4.  ENTWICKLUNG DER RECHTSPRECHUNG SEIT DEM URTEIL BRASSERIE DU PECHEUR UND FACTORTAME: URTEIL IM FALL BRITISH TELECOMMUNICATIONS (27)

Die im Urteil  Brasserie du pêcheur  und  Factortame entwickelten Grundsätze fanden rasch Eingang in die Rechtspraxis, wie der Fall British Telecommunications zeigt.

Obwohl der Gerichtshof die Feststellung, ob die Voraussetzungen für eine Haftung des Staates erfüllt sind (28), grundsätzlich den einzelstaatlichen Gerichten überlässt, zog er die Sache British Telecommunications an sich, da er der Auffassung war, dass er über alle Informationen [verfüge], die für die Beurteilung der Frage erforderlich sind, ob der hier gegebene Sachverhalt einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erkennen lässt (29).  Seither hat der Gerichtshof in der Frage, ob ein
bestimmter Sachverhalt einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht darstellt und mithin die Haftung des Staates auslöst, mehrfach direkt Stellung bezogen (30).

Kurze Zeit nach dem  British Telecommunications-Urteil bezog der Gerichtshof in der Rechtssache Dillenkofer (31)  wiederum Position und vertrat die Auffassung, dass, wenn ein Mitglied keine Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie innerhalb der dafür festgesetzten Frist trifft, um das durch diese Richtlinie vorgeschriebene Ziel zu erreichen, dieser Umstand als solcher einen qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht darstellt (32).

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25   Rechtssache C-424/97, Rdnr. 40.
26   Rechtssache C-511/03, Rdnr. 32.

27   Rechtssache C-392/93.


28   Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 58, erneut zitiert in der Rechtssache C-224/01, Rdnr. 100.

29   Rechtssache C-392/93, Rdnr. 41.


30   Rechtssache C-392/93, Rdnr. 41, erneut zitiert in den verbundenen Rechtssachen C-283/94, C-291/94

und C-292/94, Rdnr. 49, sowie in den Rechtssachen C-319/96, Rdnr. 26, C-118/00, Rdnr. 40, und C-
224/01, Rdnr. 101.

31  Verbundene Rechtssachen C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94.


32  Verbundene Rechtssachen C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94, Rdnr. 29, erneut

aufgegriffen in den Rechtssachen C-319/96, Rdnr. 28, und C-111/97, Rdnr. 21.


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5.  FÜR DEN  VERSTOSS GEGEN DAS  GEMEINSCHAFTSRECHT VERANTWORTLICHES ORGAN

In seinem Urteil Brasserie du Pêcheur und Factortame führte der Gerichtshof aus, dass der Grundsatz der Haftung des Staates „für jeden Fall des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen das Gemeinschaftsrecht unabhängig davon gilt, welches mitgliedstaatliche Organ durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß begangen hat“ (33).  Deshalb könne sich „ein Mitgliedstaat (…) seiner Haftung nicht dadurch entziehen, dass er auf die Aufteilung  der Zuständigkeit und der Haftung auf Körperschaften verweist, die nach seiner Rechtsordnung bestehen (34).  Laut Gerichtshof hat der Einzelne grundsätzlich Anspruch auf Schadensersatz, „gleichgültig, welche staatliche Stelle d[ies]en Verstoß begangen hat und welche Stelle nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats d[ies]en Schadensersatz grundsätzlich zu leisten hat“ (35).

In der Rechtssache Köhler (36) wurde der Gerichtshof erstmals mit der heiklen Frage der Haftung der Mitgliedstaaten wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht durch eines ihrer letztinstanzlichen Gerichte konfrontiert. 

Der Gerichtshof argumentiert, dass sich  bei Verstoß gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung die Haftung des Staates auf alle seine Organe erstrecke und dies erst recht für die Gemeinschaftsrechtsordnung gelten müsse, da diese für alle staatlichen Instanzen einschließlich der Legislative bindend und das Gemeinschaftsrecht dazu da sei, die Situation des Einzelnen unmittelbar zu regeln (37). Er verweist auf die besondere Verantwortung, die letztinstanzlichen Gerichten beim Schutz der Interessen der Einzelnen zukomme, und beruft sich dabei insbesondere auf Artikel 234 Absatz 3 EG-Vertrag (38).

Der Gerichtshof hat deshalb für Recht erkannt, dass eine Haftung der Mitgliedstaaten auch dann möglich ist, wenn der Verstoß  gegen das Gemeinschaftsrecht in einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts begründet ist.

Zu den Haftungsvoraussetzungen erklärte der Gerichtshof mit Blick auf die besondere Funktion der Judikative, dass „der Staat für eine solche gemeinschaftsrechtswidrige Entscheidung nur in dem Ausnahmefall [haftet], dass das Gericht offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen hat“ (39).

Den im Urteil  Brasserie du Pêcheur  und Factortame genannten Kriterien für die Feststellung eines offenkundigen Verstoßes  gegen das Gemeinschaftsrecht fügt der Gerichtshof ein weiteres Kriterium hinzu, nämlich die Verletzung der Vorlagepflicht nach Artikel 234 Absatz 3 EG-Vertrag durch das fragliche Gericht (40).

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33  Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 32.
34   Rechtssache C-302/97, Rdnr. 62.

35   Rechtssache C-424/97, Rdnr. 27.


36   Rechtssache C-224/01.


37   Rechtssache C-224/01, Rdnr. 32.


38   Rechtssache C-224/01, Rdnr. 33-35.


39   Rechtssache C-224/01, Rdnr. 53.


40   Rechtssache C-224/01, Rdnrn. 55-56. 



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In seinem Urteil in der Sache Traghetti (41) hat der Gerichtshof die im  Köbler-Urteil (42)dargelegten Grundsätze nochmals aufgegriffen, bestätigt und weiter ausgeführt.

Das Tribunale di Genova hatte dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob das Gemeinschaftsrecht und insbesondere die vom Gerichtshof im Urteil  Köbler aufgestellten Grundsätze einer nationalen  Regelung entgegenstehen, wie sie das italienische Recht vorsieht, das zum einen jegliche Haftung des Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch einen von einem letztinstanzlichen nationalen Gericht begangenen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden sind, ausschließt, wenn sich dieser Verstoß aus einer Auslegung von Rechtsvorschriften oder einer Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch dieses Gericht  ergibt, und zum anderen diese Haftung im Übrigen auf Fälle von Vorsatz und grob fehlerhaftem Verhalten des Richters begrenzt (43).

Der Gerichtshof vertrat in seinem Urteil den Standpunkt, dass das Gemeinschaftsrecht der Anwendung nationalen Rechts entgegensteht, das, wie im Falle Italiens, eine Haftung des Staates in Fällen ausschließt, in denen sich der Verstoß aus einer Auslegung von Rechtsvorschriften oder einer Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch dieses Gericht ergibt (44). Die Auslegung von Rechtsvorschriften  gehöre eben gerade zum Wesen der Rechtsprechung und könne durchaus zu einem offenkundigen Verstoß gegen das geltende Gemeinschaftsrecht führen (45).

Würde man eine Haftung des Staates ausschließen, sobald der einem nationalen Gericht zur Last gelegte Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht die Auslegung von Rechtsnormen oder eine Sacherhalts- oder Beweiswürdigung beträfe, würde nach Ansicht des Gerichtshofs der Grundsatz der Haftung des Staates ins Leere laufen, denn dies hieße nichts anderes als dass der Einzelne des Schutzes durch ein Gericht beraubt würde, sobald ein letztinstanzliches nationales Gericht einen offenkundigen Fehler bei der Ausübung dieser Tätigkeiten beginge (46).

Desgleichen befand das Gericht, dass eine nationale Norm, die die Haftung des Staates auf Fälle von Vorsatz oder grob fehlerhaftem Verhalten des Richters begrenze, dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufe (47). Er verwies dabei nochmals auf die Haftungsvoraussetzungen, die sich aus dem Gemeinschaftsrecht ableiteten und im Urteil Köbler ausführlich dargestellt worden seien (48).

Zwar könne nicht ausgeschlossen werden, dass das nationale Recht in Bezug auf Art oder Grad des Verstoßes die Kriterien näher erläutert, die erfüllt sein müssten, damit der Staat für einen einem letztinstanzlichen  nationalen Gericht zuzurechnenden Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht haftet, doch dürften diese Kriterien nicht strenger sein als nötig, um die Voraussetzung eines offenkundigen Verstoßes gegen geltendes Recht zu erfüllen.

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41   Rechtssache C-173/03.
42   Rechtssache C-224/01.

43   Rechtssache C-173/03, Rdnrn. 20 und 24.


44   Rechtssache C-173/03, Rdnr. 31.


45   Rechtssache C-173/03, Rdnrn. 34 und 35 sowie 38 und 39.


46   Rechtssache C-173/03, Rdnrn. 36 und 41.


47   Rechtssache C-173/03, Rdnr. 46.


48   Rechtssache C-173/03, Rdnr. 44.



-9-

In einem früheren Urteil in der Rechtssache  Konstantinos Adeneler (49) kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die den Mitgliedstaaten obliegende Verpflichtung, nichts zu tun, was die Erreichung des mit einer Richtlinie verfolgten Zieles ernsthaft gefährden würde, wenn sie nicht in Haftung genommen werden wollen, ebenso auch für die einzelstaatlichen Gerichte gilt. Daher müssen es die Gerichte der Mitgliedstaaten ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie unterlassen, das innerstaatliche Recht auf eine Weise auszulegen, die die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Zieles nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde (50).


6.  ANWENDUNG DES HAFTUNGSGRUNDSATZES DURCH DIE GERICHTE DER MITGLIEDSTAATEN

Seit dem  Francovich-Urteil lautet die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs dahingehend, dass es „Sache der nationalen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten [ist], die zuständigen Gerichte zu bestimmen und das Verfahren für die Klagen auszugestalten, die den vollen Schutz der dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen“ (51). Die Mitgliedstaaten müssten daher die Folgen des durch den Verstoß gegen geltendes Gemeinschaftsrecht
verursachten Schadens im Rahmen ihres nationalen Haftungsrechts beheben.

Es obliegt somit dem Richter, im Einzelfall zu entscheiden, ob der Kläger Anspruch auf Ersatz des Schadens hat, der ihm infolge eines Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen das Gemeinschaftsrecht entstanden ist, und gegebenenfalls die Höhe der Entschädigung zu bestimmen (52).

Dabei verweist der Gerichtshof immer wieder auf die beiden Grundprinzipien, wonach die vom innerstaatlichen Recht  festgelegten Voraussetzungen nicht ungünstiger sein dürfen als bei ähnlichen Klagen, die nur nationales Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), und wonach sie nicht so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Erlangung einer Entschädigung praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (53).

Das Gemeinschaftsrecht verlangt demnach eine effektive Entschädigung und duldet keine zusätzlichen Voraussetzungen aus mitgliedstaatlichem Recht, die ein Erlangen von Schadensersatz oder anderen Formen der Entschädigung übermäßig erschweren (54).

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49   Rechtssache C-212/04.

50   Rechtssache C-212/04, Rdnrn. 122-123.


51   Verbundene Rechtssachen C-6/90 und C-9/90, Rdnr. 42, erneut zitiert in der Rechtssache C-446/04, Rdnr. 220.


52   Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 58, erneut aufgegriffen in den Rechtssachen C-6/95, Rdnr. 34; C-118/00, Rdnr. 40, C-224/01, Rdnr. 87, C-446/04, Rdnr. 208 und 210, C-470/03, Rdnr. 89, C-524/04, Rdnr. 116, C-446/04, Rdnr. 210, C-201/05, Rdnr. 119 und C-452/06, Rdnr. 36.


53   Verbundene Rechtssachen C-6/90 und C-9/90, Rdnr. 42-43, erneut zitiert in den verbundenen Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 67, sowie in den Rechtssachen C-5/94, Rdnr. 31-32, C-373/95, Rdnr. 37, C-261/95, Rdnr. 27, 127/95, Rdnr. 112, C-424/97, Rdnr. 33, C-224/01, Rdnr. 58, C-446/04, Rdnr. 203 und 219, C-470/03, Rdnrn. 89 und 94, C-524/04, Rdnr. 123, C-446/04, Rdnr. 219, C-201/05, Rdnr. 126, C-524/01 und C-445/96, Rdnr. 31.


54   Rechtssache C-470/03, Rdnr. 90.


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Der Gerichtshof hat somit die Anwendung einer  an den Verschuldensbegriff geknüpften Voraussetzung im innerstaatlichen Haftungsrecht, die über die Voraussetzung des zuvor erwähnten hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht hinausgeht, ausgeschlossen (55) und beispielsweise den Standpunkt vertreten, dass entgangener Gewinn nicht grundsätzlich als nicht ersatzfähiger Schaden betrachtet werden darf (56).

Der Gerichtshof hat im Verlauf seiner Rechtsprechung erläutert, welche Maßstäbe im innerstaatlichen Recht an eine Haftung des Staates anzulegen sind.

Rechtsmittel:

Das nationale Gericht kann prüfen, ob sich der Geschädigte in angemessener Form um die Verhinderung des Schadenseintritts oder um die Begrenzung des Schadensumfangs bemüht hat und ob er insbesondere rechtzeitig alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ausgeschöpft hat (57). Nach einem allgemeinen, den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsatz muss sich nämlich der Geschädigte in angemessener Form um die Begrenzung des Schadensumfangs bemühen, wenn er nicht Gefahr laufen will, den Schaden selbst tragen zu müssen (58).

Der Gerichtshof vertritt allerdings unter Bezugnahme auf sein Urteil in der Rechtssache Metallgesellschaft (59) generell die Auffassung, dass es dem Effektivitätsprinzip zuwiderliefe, vom Geschädigten zu verlangen, dass er systematisch alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ausschöpft, da dies mit übermäßigen Schwierigkeiten verbunden oder nicht zumutbar sein könnte. Das Gemeinschaftsrecht steht nicht der Anwendung einer nationalen Regelung entgegen, nach der ein Einzelner keinen Ersatz für einen Schaden verlangen kann, bei dem er es vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, ihn durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden, vorausgesetzt, dass der Gebrauch dieses Rechtsmittels dem Geschädigten zumutbar ist, wobei es Sache des vorlegenden Gerichts ist, dies anhand aller Umstände des Ausgangsrechtsstreits zu prüfen (60).

Fristen:

In der Rechtssache  Palmisani  befand der Gerichtshof, „dass es nicht gegen Gemeinschaftsrecht verstößt, wenn ein Mitgliedstaat für die Erhebung einer Klage auf Ersatz des durch die verspätete Umsetzung der Richtlinie entstandenen Schadens eine Ausschlussfrist von einem Jahr nach der Umsetzung in seine nationale Rechtsordnung vorschreibt, sofern diese Verfahrensvorschrift nicht weniger günstig ist als Vorschriften, die für ähnliche Klagen innerstaatlicher Art gelten“ (61). 
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55   Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 79, erneut aufgegriffen in den Rechtssache C-424/97, Rdnr. 39.

56   Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 87, erneut aufgegriffen in der Rechtssache C-470/03, Rdnr. 95.


57   Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 84, erneut aufgegriffen in den Rechtssache C-445/06, Rdnr. 60.


58   Verbundene Rechtssachen C-104/89 und C-37/90, Rdnr. 33, erneut aufgegriffen in den verbundenen Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 85, und der Rechtssache 445/06, Rdnr. 61.


59   Verbundene Rechtssachen C-6/397 und C-410/98, Rdnr. 104, erneut zitiert in den Rechtssachen C-524/04, Rdnr. 124, C-201/05, Rdnr. 127 und C-445/06, Rdnr. 63.


60   Rechtssache 446/06, Rdnr. 69.


61   Rechtssache C-261/95, Rdnr. 39-40. 


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Für den Gerichtshof führen solche Fristen  nicht dazu, die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (62). Allerdings muss eine solche Ausschlussfrist bereits bestehen, um die mit ihr bezweckte Rechtssicherheit zu gewährleisten (63).

Das Gemeinschaftsrecht verlangt nicht, dass die im innerstaatlichen Recht vorgeschriebene Frist für die Verjährung des Haftungsanspruchs gegenüber dem Staat wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht während eines von der Kommission nach Artikel 226 EG-Vertrag anhängig gemachten Vertragsverletzungsverfahrens unterbrochen oder gehemmt wird. (64)

Die Feststellung der Vertragsverletzung ist nach Meinung des Gerichtshofs zwar ein wichtiges, aber kein unbedingt notwendiges Kriterium, um zu prüfen, ob die Voraussetzung der hinreichenden Qualifizierung des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht erfüllt ist. Die dem Einzelnen zustehenden Rechte können weder davon abhängen, dass die Kommission es für zweckmäßig hält, gemäß Artikel 226 EG-Vertrag gegen einen Mitgliedstaat vorzugehen, noch davon, dass der Gerichtshof gegebenenfalls in einem Urteil die Vertragsverletzung feststellt (65).

In demselben Urteil kam der Gerichtshof zu dem Schluss, das es dem Gemeinschaftsrecht nicht zuwiderläuft, wenn die Verjährungsfrist für einen Haftungsanspruch gegenüber dem Staat wegen  fehlerhafter Umsetzung einer Richtlinie zu dem Zeitpunkt in Gang gesetzt wird, in dem die ersten Schadensfolgen der fehlerhaften Umsetzung eingetreten und weitere Schadensfolgen absehbar sind, selbst wenn dieser Zeitpunkt vor der ordnungsgemäßen Umsetzung dieser Richtlinie liegt (66).

Schadensersatzpflichtige Stelle:

Im Urteil Konle (67) stellte der Gerichtshof fest, dass jeder Mitgliedstaat selbst sicherstellen muss, dass dem Einzelnen der Schaden ersetzt wird, der ihm durch einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht entstanden ist, gleichgültig, welche staatliche Stelle diesen Verstoß begangen hat und welche Stelle nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats diesen Schadensersatz grundsätzlich zu leisten hat (68). Ein Mitgliedstaat kann sich daher seiner Haftung nicht dadurch entziehen, dass er auf die interne Aufteilung der Zuständigkeiten verweist (69).

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62   Rechtssache C-228/96, Rdnr. 19, erneut zitiert in den Rechtssachen C-62/00, Rdnr. 35, und C-445/06, Rdnr. 32.

63   Rechtssache C-62/00, Rdnr.. 34, erneut zitiert in der Rechtssache C-445/06, Rdnr. 33.

64   Rechtssache C-445/06, Rdnr. 45-46.

65   Verbundene Rechtssachen C-6/93 und C9/93, Rdnrn. 93-95, erneut zitiert in der Rechtssache C-445/06, Rdnrn. 37-38.

66   Rechtssache C-445/06, Rdnr. 56.

67   Rechtssache C-302/97.

68   Rechtssache C-302/97, Rdnr. 62, erneut aufgegriffen in den Rechtssachen C-424/97, Rdnr. 27 und C-118/00, Rdnr. 35.

69   Rechtssache C-424/97, Rdnr. 28.

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Im Falle eines Mitgliedstaats mit föderalistischer Struktur muss jedoch nicht unbedingt der Gesamtstaat für den Ersatz der einem Einzelnen durch gemeinschaftsrechtswidrige innerstaatliche Maßnahmen entstandenen Schäden aufkommen, um seinen gemeinschaftsrechtlichen Pflichten Genüge zu tun, vorausgesetzt, die innerstaatlichen Verfahrensregelungen gewährleisten einen wirksamen Schutz der Rechte, die dem Einzelnen aufgrund Gemeinschaftsrechts zustehen (70). Dieser Grundsatz wurde in der Rechtssache  Haim (71) auch auf Mitgliedstaaten ohne föderalistische Struktur übertragen, in  denen jedoch bestimmte Gesetzgebungs- oder Verwaltungsaufgaben dezentralisiert von Gebietskörperschaften mit einer gewissen Autonomie oder von anderen öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, die vom Staat rechtlich getrennt sind, wahrgenommen werden. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist es „[...]  gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Haftung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft für Ersatz des Schadens, der einem Einzelnen durch von ihr unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht getroffene Maßnahmen entstanden ist, neben derjenigen des Mitgliedstaats selbst gegeben ist“ (72).

Angemessener Ersatz des Schadens:

Im Urteil  Brasserie du pêcheur und  Factortame bestätigte der Gerichtshof, dass der Ersatz der Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, dem erlittenen Schaden angemessen sein muss, so dass ein effektiver Schutz der Rechte des Einzelnen gewährleistet ist (73).

Eine angemessene Wiedergutmachung des Schadens kann auch in Form einer rückwirkenden, ordnungsgemäßen und lückenlosen Durchführung der Richtlinie erfolgen, vorausgesetzt, die Richtlinie wurde ordnungsgemäß umgesetzt, es sei denn, die Begünstigten machen das Vorliegen zusätzlicher Einbußen geltend, die ihnen dadurch entstanden sind, dass sie nicht rechtzeitig in den Genuss der durch die Richtlinie garantierten finanziellen Vergünstigungen gelangen konnten; für diese Einbußen müssen
sie ebenfalls entschädigt werden (74).

7.  FAZIT

Der Gerichtshof macht den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Haftungsmodalitäten keine einheitlichen Auflagen, aber er legt fest, welche drei Grundvoraussetzungen für den Haftungseintritt erfüllt sein müssen.  Deren Anwendung bleibt hingegen den einzelstaatlichen Gerichten überlassen, so dass sie im Rahmen der ihnen vom Gemeinschaftsrecht vorgegebenen Grenzen  den Besonderheiten ihrer Rechtsordnungen Rechnung tragen können.

*    *    *
                                                
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70   Rechtssache C-302/97, Rdnr. 63-64, erneut aufgegriffen in der Rechtssache C-424/97, Rdnr. 30.

71   Rechtssache C-424/97.


72   Rechtssache C-424/97, Rdnr. 31-32.


73   Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 82; erneut zitiert in den verbundenen Rechtssachen C-94/95 und C-95/95, Rdnrn. 48 und 54, sowie in den Rechtssachen C-373/95, Rdnr. 36, und C-261/95, Rdnr. 26.


74   Verbundene Rechtssachen C-94/95 und C-95/95, Rdnr. 51-54, erneut aufgegriffen in den Rechtssachen C-373/95, Rdnr. 39, C-131/97, Rdnr. 53, und C-371/97, Rdnr. 39.



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Direktlink zum Gerichtshof der Europäischen-Union

Der Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag, EUV) ist der Gründungsvertrag der Europäischen Union (EU). Zusammen mit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bildet er, ausdrücklich als die Verträge genannt, die primärrechtliche Grundlage des politischen Systems der EU. Bisweilen werden diese Verträge deshalb auch als „europäisches Verfassungsrecht“ bezeichnet, formal sind sie jedoch völkerrechtliche Verträge zwischen den EU-Mitgliedstaaten.
Europäische Union  Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union dejure    
EU-Vertrag dejure     
Anwendung des Rechts der Europäischen Union

DAS RECHT DER EU UND SEINE DURCHSETZUNG IN DEN MITGLIEDSTAATEN
Prof. Lorenz, Rechtsprechung - Europarecht
   

Anwendungsvorrang des Unionsrechts
Nach Art. 4 Abs, 3 S. 3 EUV sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, das Unionsrecht, inbegriffen die Grundfreiheiten, zu wahren. Um die einheitliche und volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu sichern, sind unionsrechtswidrige mitgliedstaatliche Regelungen nicht nur unmittelbar zu beseitigen, sondern dürfen aufgrund des Anwendungsvorrangs auch nicht weiter angewendet werden.
(vgl. etwa EuGH, Rs. C-409/06, Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015, Rn. 53-69)
Demnach müssen die nationalen Behörden und Gerichte die Vorschriften, die mit dem Unionsrecht unvereinbar sind, unangewandt lassen.

EuGH Rs. C-176/12  Grundrechtecharta - Rolle des nationalen Gerichts
Rn 50      Die durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigte Partei kann sich jedoch auf die mit dem Urteil vom 19. November 1991, Francovich u. a. (C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357), begründete Rechtsprechung berufen, um gegebenenfalls Ersatz des entstandenen Schadens zu erlangen (vgl. Urteil Dominguez, Rn. 43)


Die Schadenersatzpflicht gebietet, die Wiederherstellung eines früheren realen Zustandes. S. 31 (4.)
Quelle: Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache: Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 29. April 1987 von Prof. Dr. Paul Kirchhof


BVerwG, 27.06.2012 - 9 C 2.12
Rn 15) Eine auslegungsfähige Norm ist verfassungskonform auszulegen, wenn sie nach den üblichen Interpretationsregeln mehrere Auslegungen zulässt, von denen wenigstens eine mit der Verfassung übereinstimmt.
Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzes in Widerspruch treten würde; im Wege der Auslegung darf einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt, verfälscht oder gar in sein Gegenteil verkehrt werden
(BVerfG, Beschlüsse vom 1. März 1978 - 1 BvL 20/77 - BVerfGE 48, 40 <45 ff.="">, vom 11. Juni 1980 - 1 PBvU 1/79 - BVerfGE 54, 277 <299 f.=""> und vom 22. Oktober 1985 - 1 BvL 44/83 - BVerfGE 71, 81 <105>).

BGH  Mitteilung der Pressestelle
Nr. 4/2007

Schadensersatzansprüche gegen den Staat wegen unzumutbarer Verzögerung von Eintragungen im Grundbuch

Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte heute über die Frage zu entscheiden, inwieweit einem Grundstückseigentümer Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche wegen einer unzumutbaren Verzögerung der beantragten Eintragungen im Grundbuch zustehen. In dem zugrunde liegenden Fall hatte ein Bauträger auf seinem Grundstück Eigentumswohnungen gebildet und diese an Interessenten verkauft. Die Kaufpreiszahlungen sollten erfolgen, wenn zugunsten der Käufer Vormerkungen im Grundbuch zur Sicherung ihrer Ansprüche auf Eigentumsübertragung eingetragen waren. Der hierfür zuständige Rechtspfleger des Amtsgerichts war jedoch überlastet und trug die Vormerkungen deswegen erst nach einem Jahr und acht Monaten ein. Wegen des dem insolvent gewordenen Bauträger entstandenen Zinsschadens verlangt nunmehr die finanzierende Sparkasse, der die Ersatzansprüche abgetreten worden sind, von dem Bundesland Schadensersatz in Höhe von zunächst etwa 450.000 €. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Oberlandesgericht hat ihr stattgegeben.

Der Bundesgerichtshof hat das Berufungsurteil aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Prüfung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Er hat hierbei allerdings die geltend gemachten Ersatzansprüche im Ansatz bejaht. Jede Behörde hat die Amtspflicht, Anträge mit der gebotenen Beschleunigung zu bearbeiten. Ist dies wegen Überlastung des zuständigen Beamten nicht gewährleistet, so haben nicht nur die zuständige Behörde (Amtsgericht), sondern auch die übergeordneten Stellen (Landgericht, Oberlandesgericht, Justizministerien) im Rahmen ihrer Möglichkeiten Abhilfe zu schaffen. Inwieweit sie hierzu in der Lage gewesen wären, war in dem vorliegenden Rechtsstreit bislang nicht hinreichend geklärt, so dass weitere Sachverhaltsfeststellungen und eine Zurückverweisung an das Berufungsgericht nötig wurden. Soweit es dagegen um die Zuweisung von Haushaltsmitteln und Stellen an die Gerichte durch den Haushaltsgesetzgeber geht, hat der Bundesgerichtshof an seiner ständigen Rechtsprechung festgehalten, dass auf eine etwaige Pflichtverletzung des Gesetzgebers ein Schadensersatzanspruch des Bürgers nicht gestützt werden kann.

Bei der hier in Rede stehenden unzumutbaren Verzögerung von Eintragungsanträgen kommt außer dem Amtshaftungsanspruch noch ein Anspruch des Grundstückseigentümers auf angemessene Entschädigung für die entgangene Nutzung seines Eigentums aus dem Gesichtspunkt des so genannten "enteignungsgleichen Eingriffs" in Betracht.

Die Voraussetzungen eines solchen Anspruchs, der allerdings nicht auf vollen Schadensausgleich gerichtet ist, hat der Bundesgerichtshof hier für gegeben erachtet. In dieser Beziehung waren aber noch weitere tatsächliche Feststellungen zur Höhe der Entschädigung durch das Berufungsgericht erforderlich.

Urteil vom 11. Januar 2007 - III ZR 302/05


OLG Schleswig - Urteil vom 10. November 2005 - 11 U 145/04 ./. LG Lübeck - Urteil vom 27. August 2004 - 9 O 159/02

Karlsruhe, den 11. Januar 2007
Pressestelle des Bundesgerichtshof
76125 Karlsruhe
Telefon (0721) 159-5013
Telefax (0721) 159-5501

Quelle