Samstag, 14. September 2024

EuGH (Rs. C-741/22 und Rs. C-73/23) bestätigt grundsätzliche Mehrwertsteuerbefreiung für Umsätze aus Glücksspielen mit Geldeinsatz


Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union in den Vorabentscheidungsersuchen Casino de Spa u.a. (C-741/22) und Chaudfontaine Loisirs (C-73/23)

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EuGH bestätigt grundsätzliche Mehrwertsteuerbefreiung für Umsätze aus Glücksspielen mit Geldeinsatz

Rechtsanwalt Bernd Hansen
Anwaltskanzlei Hansen
Lüllauer Str. 1
D - 21266 Jesteburg

In zwei am 12.09.2024 verkündeten Urteilen (Rs. C-741/22 und Rs. C-73/23) hat sich der Europäische Gerichtshof mit zahlreichen Fragen hinsichtlich der Mehrwertsteuerbefreiung auf Glücksspielumsätze befasst.

Belgische Gerichte hatten den Gerichtshof angerufen, da diese Zweifel an der Europarechtskonformität von steuerrechtlichen Regelungen in Belgien hatten.

Während terrestrische Glücksspiele, darunter auch Automatenspiele, in Belgien von der Mehrwertsteuer befreit waren, unterlagen online angebotene Glücksspiele nicht dieser Steuerbefreiung.

Zu beantworten hatte der EuGH also unter anderem die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen im Hinblick auf die unionsrechtliche Steuerbefreiungsvorschrift des Art. 135 Abs. 1 Buchstabe i der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie mit Blick auf den steuerlichen Neutralitätsgrundsatz eine unterschiedliche mehrwertsteuerliche Behandlung verschiedener Glücksspielkategorien zulässig ist.

Die deutsche Generalanwältin Juliane Kokott hatte in ihren Schlussanträgen vom 25.04.2024 die von der bisherigen Rechtsprechung des EuGH krass abweichende Auffassung vertreten, dass gerade die Tatsache, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten erlaube, auch nur „bestimmte“ Glücksspiele zu befreien, gegen die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Mehrwertsteuerrichtlinie spreche und sich Glücksspielanbieter daher nicht unmittelbar auf die Steuerbefreiungsvorschrift des Art. 135 Abs. 1 Buchstabe i berufen könnten.

Diese Auffassung der Generalanwältin Kokott war in Fachkreisen auf erhebliche Kritik gestoßen, da sich Frau Kokott damit nicht nur gegen die ständige Rechtsprechung des EuGH stellte, sondern sie sich damit sogar in Widerspruch zu ihrer eigenen bis dahin vertretenen Auffassung setzte.

Die Generalanwältin hielt es in ihren Schlussanträgen auch für unbedenklich, dass online angebotene Glücksspiele hinsichtlich der Mehrwertsteuer von den Mitgliedstaaten anders behandelt würden als terrestrische Glücksspielangebote. Ihrer Ansicht nach sei es nicht ausreichend, dass unterschiedliche Arten eines Glücksspiels ein vergleichbares Spielbedürfnis befriedigen, um bereits einen Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz anzunehmen. Es sei, so die Generalanwältin, auch nicht ausreichend, dass der ein oder andere Verbraucher von der einen Glücksspielart zur anderen wechsele, so dass ein gewisser Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Anbietern nicht ausgeschlossen werden könne. Entscheidend sei, so Kokott, ob nach Ansicht des Gesetzgebers beide Dienstleistungen (offensichtlich) für einen durchschnittlichen Verbraucher austauschbar sind.

Damit wollte die deutsche Generalanwältin offensichtlich erreichen, dass den Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, vom Gerichtshof ein weitestgehend freier Beurteilungsspielraum bei der Besteuerung bzw. Steuerbefreiung der verschiedenen Glücksspielkategorien eingeräumt wird. Es sollte nach dem Willen von Kokott bei der Beurteilung der Austauschbarkeit allein auf die „Ansicht des Gesetzgebers“ ankommen. Im Hinterkopf hatte Kokott bei diesen rechtlich doch sehr fragwürdigen Äußerungen offenbar auch das Ziel, damit die deutsche Steuerregelung durch den EuGH absegnen zu lassen, welche für online angebotene Automatenspiele eine Mehrwertsteuerbefreiung vorsieht, während diese Steuerbefreiung für terrestrische Automatenspiele nicht gilt. Diese Regelung ist rechtlich sehr umstritten, weil sie nach Ansicht vieler Fachjuristen gegen den steuerlichen Neutralitätsgrundsatz verstößt.

1. Steuerbefreiung gilt für Glücksspielanbieter

Der Gerichtshof hat sich in seinen beiden Entscheidungen vom 12.09.2024 nicht der Auffassung der Generalanwältin angeschlossen und stattdessen erstens nochmals darauf hingewiesen, dass sich Anbieter von Glücksspielen mit Geldeinsatz grundsätzlich unmittelbar auf die Steuerbefreiungsvorschrift berufen können und zweitens hat der EuGH ein klares Statement dahingehend abgegeben, dass die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Besteuerung von Glücksspielen mit Geldeinsatz den steuerlichen Neutralitätsgrundsatz zu beachten haben.

In seinem Urteil in der Rechtssache C-73/23 hat der EuGH bestätigt, dass eine unterschiedliche Behandlung verschiedener Glücksspielkategorien in Bezug auf die Mehrwertsteuer durch die Mitgliedstaaten nur zulässig ist,

> „sofern die objektiven Unterschiede zwischen diesen beiden Kategorien von Glücksspielen mit Geldeinsatz geeignet sind, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen.“

Diese Wertung des Gerichtshofs dürfte Auswirkungen auf die Frage haben, ob die in Deutschland bestehende Rechtslage, welche spätestens seit dem 01.07.2021 eine unterschiedliche steuerliche Behandlung von virtuellen im Internet angebotenen Automatenspielen gegenüber terrestrischen Automatenspielen vorsieht – erstere sind von der Mehrwertsteuer befreit, während letztere nicht in den Genuss dieser Steuerbefreiung kommen – im Hinblick auf den steuerlichen Neutralitätsgrundsatz mit dem Unionsrecht zu vereinbaren sind oder eben nicht.

Die Frage, ob objektive Unterschiede zwischen den beiden Glücksspielkategorien geeignet sind, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen, ist eine Tatfrage.

Die mit dieser Frage befassten deutschen Finanzgerichte werden daher im Rahmen der Sachverhaltsermittlung zu prüfen haben, ob die vom Gerichtshof vorgegebenen Voraussetzungen für die unterschiedliche mehrwertsteuerrechtliche Behandlung von online und offline-Automatenspielen gegeben sind.

Gegen die Annahme, dass die objektiven Unterschiede zwischen diesen beiden Kategorien von Glücksspielen mit Geldeinsatz geeignet sind, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen, spricht allerdings bereits der Umstand, dass die ganz überwiegende Mehrheit von Teilnehmern an online-Automatenspielen auch an terrestrischen Automatenspielen in Spielhallen und in Gaststätten teilnimmt.

Die bislang vom Bundesfinanzhof in einem Eilverfahren vertretene Auffassung, wonach in der unterschiedlichen Behandlung von online- und Offline-Automatenspielen kein Verstoß gegen den steuerlichen Neutralitätsgrundsatz liege, lässt sich jedenfalls aufgrund des aktuellen Urteils des EuGH nicht mehr ohne weiteres aufrechterhalten.

Anträge auf Aussetzung der Vollziehung von Umsatzsteuerfestsetzungen durch die Betreiber terrestrischer Geldspielautomaten dürften nun nicht mehr ohne Aussicht sein, denn besteht eine Unklarheit hinsichtlich des entscheidungserheblichen Sachverhalts (und das dürfte hier nun der Fall sein), können dadurch ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Umsatzsteuerfestsetzung begründet werden.

Betroffene Automatenaufsteller sollten sich daher rechtlich beraten lassen, ob für sie Anträge auf Aussetzung der Vollziehung der Umsatzsteuerfestsetzungen in Betracht kommen.

2. Schadensersatz wegen unzulässiger staatlicher Beihilfen

Bemerkenswert ist, dass und wie der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache C-741/22 auch auf beihilferechtliche Aspekte eingegangen ist. Dort für der Gerichtshof unter anderem aus:

> „Somit können die nationalen Gerichte in Erfüllung ihrer Aufgabe dazu gehalten sein, Klagen auf Ersatz von Schäden stattzugeben, die den Wettbewerbern des Begünstigten durch eine rechtswidrige staatliche Beihilfe entstanden sind.“

Dieser Satz dürfte besonders deshalb viel Sprengkraft haben, weil die Europäische Kommission mit Beschluss vom 20.06.2024 festgestellt hat, dass den Betreibern öffentlicher Spielbanken in Deutschland seit Jahren unzulässige staatliche Beihilfen in Gestalt von Steuervergünstigungen gewährt wurden, welche zu einer Wettbewerbsverzerrung geführt haben.

Betreiber von gewerblichen Geldspielautomaten könnten sich aufgrund des aktuellen EuGH-Urteils nun berufen fühlen, Schadensersatzklagen gegen die verantwortlichen Beihilfegeber anzustreben, um damit ihren Schaden kompensiert zu erhalten, den sie durch die jahrelange unzulässige Steuerbevorzugung der öffentlichen Spielbanken und die damit einhergehenden massiven Wettbewerbsverzerrungen erlitten haben.


OGH 8 Ob 21/24g – Spieler(Innen) verlieren? - Gewinne mssen zurückbezahlt werden

 OGH 8 Ob 21/24g – Spieler(Innen) verlieren?

Ein Artikel von Dr. Fabian Maschke

Wie diese Entscheidung aufgenommen wird, liest man ua in den Medien. Hier ein Beispiel:

https://www.heute.at/s/frau-muss-onlinekasino-7000-euro-gewinn-zurueckzahlen-120052739

Die richtige Interpretation dieser Entscheidung ist, entgegen der medialen Stellungnahmen eigentlich sehr einfach:

Der Oberste Gerichtshof hat zu 8 Ob 21/24g ausgesprochen, dass auch dem (in Österreich) nicht konzessionierten Anbieter gemäß § 877 ABGB ein bereicherungsrechtlicher Rückforderungsanspruch auf (an den Spieler) geleistete Gewinne zusteht. Auf die Kenntnis oder die fahrlässige Unkenntnis der Unzulässigkeit des Angebots kommt es angesichts des ordnungspolitischen Zwecks des GSpG nicht an (Seite 13 der erwähnten Entscheidung).

In 10 Ob 56/22s hält der Oberste Gerichtshof fest, dass Leistungsort Malta ist (der Anbieter ist in Malta ansässig). In 8 Ob 172/22k hält der Oberste Gerichtshof fest, dass erst ein die Gewinne übersteigender Verlust aus dem verbotenen Glückspiel das Vermögen des Spielers schädigt. Davor, so der Oberste Gerichtshof, schädigt die Einzahlung des Spielers sein Vermögen nicht, weil ihm in gleicher Höhe eine Forderung gegen den Anbieter zusteht, auf Verlangen sich sein Guthaben wieder auszahlen zu lassen.

Somit steht fest, dass jeder dem Spielerkonto zugeschrieben Gewinn als geleisteter Gewinn im Sinne von 8 Ob 21/24g zu sehen ist. Wenn ein Spieler zB bei einem Einsatz von EUR 100 im Laufe seiner Transaktionen zu irgendeinem Zeitpunkt einen Kontostand auf seinem Spielerkonto von zB EUR 1800 hatte, dann ist genau das der Betrag, der als geleisteter Gewinn im Sinne der Entscheidung zu 8 Ob 21/24g zu sehen ist.

Aufgrund der Tatsache, dass die Verjährungsfrist (jetzt gerichtlich bestätigt auch für den Anbieter) 30 Jahre beträgt, könnte die besprochene Entscheidung durchaus Verwirrung auslösen.

Fraglich ist natürlich, welcher Anbieter aus wirtschaftlicher Sicht diesen Weg wählen will und/oder wählen kann.

Kontakt:
Dr. Fabian Maschk
Dr. Fabian maschke consulting GmbH
Dominikanerbastei 17/11, 1010 Wien


Vergnügungssteuer – Finanzgericht Bremen lässt Revision zum Bundesfinanzhof zu

 


Vergnügungssteuer – Finanzgericht Bremen lässt Revision zum Bundesfinanzhof zu

Rechtsanwalt Bernd Hansen
Anwaltskanzlei Hansen
Lüllauer Str. 1
D - 21266 Jesteburg

In zwei Verfahren gegen die Vergnügungssteuer für die Jahre 2015 bis 2018 hat das Finanzgericht Bremen auf die mündlichen Verhandlungen vom 4. September 2024 zwar die Klagen abgewiesen, aber gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO zur Fortbildung des Rechts die Revision zum Bundesfinanzhof zugelassen.

Geklagt hatten zwei Betreiber von Spielhallen. Die Vergnügungssteuer auf Geldgewinnspielgeräte beträgt in Bremen 20 v.H. des Einspielergebnisses.

Die beiden von Rechtsanwalt Bernd Hansen aus Jesteburg vertretenen Kläger hatten insbesondere gerügt, dass sie gegenüber dem Betreiber der öffentlichen Spielbank in Bremen sowohl in Bezug auf die Vergnügungssteuerbelastung als insbesondere auch hinsichtlich der Gesamtsteuerbelastung benachteiligt werden. Der Betreiber der öffentlichen Spielbank zahlt keine Vergnügungssteuer. Außerdem unterliegt die öffentliche Spielbank in Bremen einer deutlich geringeren Gesamtsteuerbelastung als die Kläger. Der Betreiber der öffentlichen Spielbank muss lediglich eine Spielbankabgabe zahlen, auf die die von ihm gezahlte Umsatzsteuer noch angerechnet werden kann. Die Kläger als Spielhallenbetreiber werden hingegen zur Vergnügungssteuer, zur Umsatzsteuer sowie zu den üblichen Ertragssteuern wie Gewerbesteuer und Körperschaftssteuer bzw. Einkommensteuer veranlagt, woraus sich die deutlich höhere Streuer- und Abgabenbelastung im Verhältnis zu dem mit ihnen im Wettbewerb stehenden Betreiber der öffentlichen Spielbank ergibt.

Außerdem rügen die Kläger, dass die Aufstellung illegaler Geldspielgeräte in Bremen nur pauschal mit 100 € bzw. 400 € je Gerät und Monat Vergnügungssteuer veranlagt wird, je nachdem ob diese außerhalb oder innerhalb von Spielhallen aufgestellt sind, während die Kläger als Betreiber legaler Geldspielgeräte aufgrund des Steuersatzes von 20 v.H. des Einspielergebnisses durchschnittlich wesentlich höhere Vergnügungssteuern an das Finanzamt zu entrichten haben. Daraus ergebe sich, so der die Kläger vertretende Rechtsanwalt Bernd Hansen, sowohl eine den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz verletzende Ungleichbehandlung als auch ein Verstoß gegen den Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, weil durch die niedrigere Besteuerung des illegalen Spiels dieses noch staatlich gefördert wird. Das Finanzgericht Bremen ist der Auffassung der Kläger nicht gefolgt. Auch aus dem Beschluss der Europäischen Kommission vom 20. Juni 2024, aus dem hervorgeht, dass die öffentlichen Spielbanken in Deutschland seit Jahren zu niedrig besteuert werden, was wiederum als unzulässige staatliche Beihilfe einzuordnen ist, lasse sich so das Finanzgericht, keine den Gleichheitssatz verletzende Ungleichbehandlung entnehmen. Die öffentlichen Spielbanken müssten die ihnen durch unzulässige Steuervorteile gewährten Beihilfen zurückzahlen. Die Kläger könnten daher für sich nicht in Anspruch nehmen, genauso niedrig besteuert zu werden wie die öffentlichen Spielbanken. Es handele sich bei dem Betrieb von Spielhallen einerseits und dem von öffentlichen Spielbanken andererseits um nicht vergleichbare Sachverhalte, welche eine unterschiedliche Besteuerung zuließen.

Fazit:

Die Entscheidung des Finanzgerichts ist insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Europäische Kommission das Wettbewerbsverhältnis zwischen Spielhallen und öffentlichen Spielbanken sowie den offensichtlichen Einfluss einer unterschiedlichen Besteuerung auf das Wettbewerbsverhältnis bejaht hat, kam nachzuvollziehen. Der Betreiber der öffentlichen Spielbank in Bremen wird zudem nicht in der Lage sein, jemals die ihm gewährten Beihilfen in Gestalt der unzulässigen Steuervorteile an das Finanzamt zurückzuzahlen. Die Ungleichbehandlung lässt sich daher gerade nicht durch eine Rückgängigmachung der unzulässigen Beihilfen nachträglich aufheben. Um dem Beschluss der Kommission nicht jede Wirkung zu nehmen, bedarf es daher einer auch rückwirkend gleichheitsgerechten Ausgestaltung der Besteuerung. Auch der Umstand, dass legale Geldspielgeräte in Bremen höher besteuert werden als illegale Geräte, ist mit dem Grundrecht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG nicht in Einklang zu bringen. Dies führt außerdem dazu, dass immer mehr illegale Geldspielgeräte aufgestellt werden, ein Problem, welches man nicht nur aus Bremen kennt, sondern bundesweit immer größere Ausmaße annimmt.

Zulassung der Revision lässt hoffen:

Bemerkenswert ist aber, dass das Finanzgericht Bremen zur Fortbildung des Rechts die Revision zu gelassen hat. Damit ist nun der Weg zum Bundesfinanzhof als höchster Instanz der Finanzgerichtsbarkeit eröffnet. Dieser muss eine Klärung der maßgeblichen Fragen herbeiführen. Solange das Revisionsverfahren dort anhängig ist, ruhen alle Rechtsbehelfsverfahren gegen die Vergnügungssteuer. Dies gilt ausdrücklich zunächst nur für die Fälle aus Bremen, kann aber auch für Widerspruchs- und Klageverfahren betreffend die Vergnügungssteuer in anderen Bundesländern von Bedeutung sein.

Betroffene Automatenaufsteller sollten sich über die rechtlichen Möglichkeiten der Anfechtung von Vergnügungssteuerfestsetzungen erkundigen und entsprechende Schritte erwägen. Nähere Informationen zu den Verfahren beim Finanzgericht Bremen sowie den anstehenden Revisionsverfahren beim Bundesfinanzhof können in Kürze auf der Internetseite der Kanzlei Rechtsanwalt Bernd Hansen unter www.rechtsanwalt-hansen.de abgerufen werden.


Donnerstag, 12. September 2024

Plenumsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. September 2024 zu möglichen Änderungen der gesetzlichen Vorschriften über das Bundesverfassungsgericht

Plenumsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. September 2024 zu möglichen Änderungen der gesetzlichen Vorschriften über das Bundesverfassungsgericht

Pressemitteilung Nr. 75/2024 vom 12. September 2024

Der Bundesminister der Justiz hat dem Bundesverfassungsgericht mit Schreiben vom 26. Juli 2024 zwei Gesetzentwürfe unter Hinweis darauf übersandt, dass diese als Grundlage eines Gesetzgebungsverfahrens zur Stärkung der Resilienz des Bundesverfassungsgerichts dienen könnten. Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts hat hierzu am 11. September 2024 die folgende Stellungnahme beschlossen:

„Das Bundesverfassungsgericht dankt für die Übermittlung der Gesetzentwürfe durch Schreiben des Bundesministers der Justiz vom 26. Juli 2024 und für die Gelegenheit zur Stellungnahme.

Das Bundesverfassungsgericht begrüßt das Bestreben des Gesetzgebers, sowohl die Dichte der das Verfassungsorgan Bundesverfassungsgericht betreffenden grundgesetzlichen Regelungen entsprechend derjenigen anderer Verfassungsorgane zu gestalten als auch die Funktionsbedingungen der Verfassungsgerichtsbarkeit zu sichern. Die Verfasserinnen und Verfasser des Grundgesetzes haben Stellung und Struktur des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1949 maßgeblich in Ermangelung unmittelbarer institutioneller Vorläufer in der deutschen Verfassungsrechtstradition nur in Ansätzen ausgeformt und einer späteren Konkretisierung durch einfaches Bundesgesetz überlassen. 75 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ist eine nähere verfassungsrechtliche Konturierung des Bundesverfassungsgerichts möglich und überzeugend. Eine solche liegt auch deshalb nahe, weil ein Blick über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus zeigt, dass sich autokratische Bestrebungen auch und gerade gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit als Garantin einer freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung richten können.

Die übermittelten Gesetzentwürfe sehen vor, eine Vielzahl der inzwischen statusprägenden und in jahrzehntelanger Verfassungspraxis bewährten einfachgesetzlichen Regelungen über das Bundesverfassungsgericht wie die Zahl der Senate, die Zahl der Senatsmitglieder oder die Dauer ihrer Amtszeit in das Grundgesetz zu überführen, so dass sie künftig nur noch mit der für eine Verfassungsänderung notwendigen qualifizierten Mehrheit geändert werden können. Gegen diese sowie die sonstigen beabsichtigten Änderungen erhebt das Bundesverfassungsgericht keine Einwendungen.

Für die Wahl der Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts hat sich ein parteiübergreifender Konsens bewährt. Soweit in der politischen Debatte auch eine verfassungsrechtliche Verankerung der einfachgesetzlich in § 6 Abs. 1 Satz 2, § 7, § 9 Abs. 3 BVerfGG vorgesehenen Zwei-Drittel-Mehrheit diskutiert worden ist, sind für die gegenläufigen Positionen jeweils gut nachvollziehbare Argumente vorgebracht worden. Sie fußen nicht zuletzt auf unterschiedlichen prognostischen Einschätzungen über künftige politische Mehrheitsbildungen, zu denen auch dem Bundesverfassungsgericht keine weitergehenden Erkenntnismöglichkeiten zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund sieht das Bundesverfassungsgericht insoweit von einer Stellungnahme ab.“

Quelle: 

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/bvg24-075.html



EuGH Urteil vom 12. 09.2024 Chaudfontaine Loisirs SA Rs. C‑73/23 Steuerbefreiungen – Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

12. September 2024(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 135 Abs. 1 Buchst. i – Steuerbefreiungen – Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz – Bedingungen und Beschränkungen – Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Aufrechterhaltung der Wirkungen einer nationalen Regelung – Erstattungsanspruch – Ungerechtfertigte Bereicherung “

In der Rechtssache C‑73/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de première instance de Liège (Gericht Erster Instanz Lüttich, Belgien) mit Entscheidung vom 30. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Februar 2023, in dem Verfahren

Chaudfontaine Loisirs SA

gegen

État belge (SPF Finances),

Beteiligter:

État belge (SPF Justice),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter T. von Danwitz und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Chaudfontaine Loisirs SA, vertreten durch Y. Spiegl und E. van Nuffel d’Heynsbroeck, Avocats,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, P. Cottin und C. Pochet als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch L. Halajová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa und A. Silva Coelho als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und M. Herold als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. April 2024

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 267 Abs. 3 AEUV, des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität sowie von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Chaudfontaine Loisirs SA und dem belgischen Staat (FÖD Finanzen) (Föderaler Öffentlicher Dienst Finanzen, Belgien, im Folgenden: belgische Steuerverwaltung), über eine Entscheidung betreffend die für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 geschuldete Mehrwertsteuer sowie hiermit in Zusammenhang stehende Geldbußen und Verzugszinsen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

i)      Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden“.

 Belgisches Recht

4        Art. 1 § 14 des Code de la taxe sur la valeur ajoutée (Moniteur belge, 17. Juli 1969, S. 7046) in der durch das Programmgesetz vom 1. Juli 2016 geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetzbuch) sah vor:

„Für die Anwendung des vorliegenden Gesetzbuches gelten als:

1.      ‚Glücksspiele mit Geldeinsatz‘:

a)      Spiele unter gleich welcher Bezeichnung, die Gelegenheit bieten, Geld- oder Sachpreise beziehungsweise ‑prämien zu gewinnen, wobei die Spieler weder zu Beginn noch im Verlauf noch am Ende des Spiels eingreifen können und die Gewinner ausschließlich durch das Los oder sonst wie zufallsbedingt bestimmt werden;

b)      Spiele unter gleich welcher Bezeichnung, die Teilnehmern an einem Wettbewerb gleich welcher Art Gelegenheit bieten, Geld- oder Sachpreise beziehungsweise ‑prämien zu gewinnen, es sei denn, der Wettbewerb führt zum Abschluss eines Vertrags zwischen den Gewinnern und dem Veranstalter dieses Wettbewerbs;

2.      ‚Lotterien‘: Gelegenheiten, infolge eines Kaufs von Lotterielosen Geld- oder Sachpreise beziehungsweise ‑prämien zu gewinnen, wobei die Gewinner durch das Los oder sonst wie zufallsbedingt bestimmt werden, ohne Einfluss darauf haben zu können.“

5        Art. 44 § 3 des Mehrwertsteuergesetzbuchs in der durch das Programmgesetz vom 1. Juli 2016 geänderten Fassung bestimmte:

„Steuerfrei sind ebenfalls:

13.

a)      Lotterien,

b)      sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz, ausgenommen Glücksspiele mit Geldeinsatz, die wie in Artikel 18 § 1 Absatz 2 Nr. 16 erwähnt auf elektronischem Wege bereitgestellt werden“.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6        Chaudfontaine Loisirs bietet Online-Glücksspiele mit Geldeinsatz an.

7        Diese Tätigkeit war in Belgien von der Mehrwertsteuer befreit, bis zum 1. Juli 2016 Bestimmungen erlassen wurden, mit denen die Befreiung von der Mehrwertsteuer für Online-Glücksspiele mit Geldeinsatz, die keine Lotterien sind, aufgehoben wurde.

8        Diese Bestimmungen wurden von der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheid vom 22. März 2018 wegen Verletzung der im belgischen Recht vorgesehenen Vorschriften über die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem belgischen Föderalstaat und den belgischen Regionen für nichtig erklärt. In diesem Entscheid prüfte der Verfassungsgerichtshof nicht die weiteren vor ihm geltend gemachten Klagegründe, insbesondere nicht diejenigen, die auf Verstöße gegen die Richtlinie 2006/112, gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität und gegen die Art. 107 und 108 AEUV gestützt wurden, und vertrat hierzu die Auffassung, dass diese Klagegründe nicht zu einer umfassenderen Nichtigerklärung der Bestimmungen führen könnten. Mit dem Entscheid erhielt der Verfassungsgerichtshof außerdem die Wirkungen der für nichtig erklärten Bestimmungen aufrecht und verwies dazu auf die budgetären und administrativen Schwierigkeiten, die die Erstattung der bereits entrichteten Steuern verursachen würden.

9        Mit Entscheid vom 8. November 2018 stellte der Verfassungsgerichtshof klar, dass die Wirkungen derjenigen Bestimmungen, mit denen die Befreiung von der Mehrwertsteuer für Online-Glücksspiele mit Geldeinsatz, die keine Lotterien seien, aufgehoben würden und die er mit seinem Entscheid vom 22. März 2018 für nichtig erklärt habe, für diejenigen Steuern aufrechterhalten würden, die für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 gezahlt worden seien.

10      Im Anschluss an diese Entscheide wies Chaudfontaine Loisirs in demjenigen Teil ihrer Mehrwertsteuererklärung für den Monat November 2019, der Mehrwertsteuerberichtigungen zu ihren Gunsten betraf, einen Betrag von 640 478,82 Euro aus, was dem Betrag der für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 gezahlten Mehrwertsteuer entspricht, und beantragte die Erstattung eines Mehrwertsteuersaldos von 630 240,56 Euro.

11      Diesen Antrag wiederholte sie in einem Schreiben vom 16. Dezember 2019, in dem sie geltend machte, der Gerichtshof habe in seinem Urteil vom 27. Juni 2019, Belgisch Syndicaat van Chiropraxie u. a. (C‑597/17, EU:C:2019:544), entschieden, dass ein nationales Gericht auf eine nationale Vorschrift, die es dazu ermächtige, bestimmte Wirkungen eines für nichtig erklärten Rechtsakts aufrechtzuerhalten, nicht zurückgreifen dürfe.

12      Mit Entscheidung vom 1. Dezember 2020 wies die belgische Steuerverwaltung diesen Antrag zurück und stellte klar, dass dieses Urteil eine Situation betreffe, in der die für nichtig erklärten nationalen Bestimmungen als der Richtlinie 2006/112 entgegenstehend befunden worden seien, wohingegen der Verfassungsgerichtshof in seinem Entscheid vom 22. März 2018 die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmungen wegen einer Verletzung der im belgischen Recht vorgesehenen Zuständigkeitsverteilungsvorschriften für nichtig erklärt habe.

13      Am 7. Dezember 2020 nahm die belgische Steuerverwaltung eine Steuerberichtigung vor, wonach Chaudfontaine Loisirs einen Betrag von 640 478,82 Euro an Mehrwertsteuer, einen Betrag von 64 047,88 Euro an Geldbußen und Verzugszinsen nach einem monatlichen Satz von 0,8 % auf den Mehrwertsteuerbetrag ab dem 21. Dezember 2019 schulde.

14      Am 13. April 2021 erhob Chaudfontaine Loisirs beim Tribunal de première instance de Liège (Gericht erster Instanz Lüttich, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen diese Entscheidung und die Steuerberichtigung. Die genannte Mehrwertsteuereinheit beruft sich, hilfsweise, auf die Haftung des belgischen Staats für einen Fehler des Verfassungsgerichtshofs, da dieser entschieden habe, die Wirkungen der von ihm für nichtig erklärten Bestimmungen aufrechtzuerhalten, und, äußerst hilfsweise, auf die Haftung des belgischen Staats infolge eines Fehlers des Gesetzgebers.

15      Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal de première instance de Liège (Gericht erster Instanz Lüttich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Erlauben Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 und der Grundsatz der steuerlichen Neutralität es einem Mitgliedstaat, von der Inanspruchnahme der in dieser Vorschrift vorgesehenen Steuerbefreiung nur elektronisch erbrachte Glücksspiele mit Geldeinsatz auszuschließen, während nicht elektronisch erbrachte Glücksspiele mit Geldeinsatz von der Mehrwertsteuer befreit bleiben?

2.      Erlauben Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 und der Grundsatz der steuerlichen Neutralität es einem Mitgliedstaat, von der Inanspruchnahme der in dieser Bestimmung vorgesehenen Steuerbefreiung nur elektronisch erbrachte Glücksspiele mit Geldeinsatz auszunehmen, nicht aber Lotterien, die unabhängig davon, ob sie elektronisch erbracht werden oder nicht, von der Mehrwertsteuer befreit bleiben?

3.      Ist es nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zulässig, dass ein höheres Gericht die Aufrechterhaltung der Wirkungen einer Vorschrift des innerstaatlichen Rechts beschließt, die es wegen eines Verstoßes gegen das innerstaatliche Recht für nichtig erklärt, ohne sich zu dem Verstoß gegen das Unionsrecht zu äußern, der ebenfalls vor ihm geltend gemacht wurde, und somit weder die Frage nach der Vereinbarkeit dieser Vorschrift des innerstaatlichen Rechts mit dem Recht der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorzulegen noch den Gerichtshof nach den Bedingungen zu fragen, unter denen das Gericht die Aufrechterhaltung der Wirkungen dieser Bestimmung trotz ihrer Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht beschließen könnte?

4.      Durfte – falls eine der vorstehenden Fragen verneint wird – der Verfassungsgerichtshof zur Vermeidung von haushalts- und verwaltungstechnischen Schwierigkeiten, die die Rückerstattung bereits gezahlter Steuern verursachen würde, die früheren Wirkungen der Bestimmungen, die er aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit nationalen Regelungen über die Kompetenzverteilung für nichtig erklärt hat, aufrechterhalten, obwohl diese Bestimmungen auch mit der Richtlinie 2006/112 unvereinbar waren?

5.      Falls die vorstehende Frage verneint wird: Kann dem Steuerpflichtigen die Mehrwertsteuer erstattet werden, die er auf die tatsächliche Bruttogewinnspanne der von ihm veranstalteten Spiele und Wetten gezahlt hat, und zwar auf der Grundlage von Bestimmungen, die mit der Richtlinie 2006/112 und dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar sind?

 Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

16      Im Anschluss an die Verlesung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. April 2024 hat Chaudfontaine Loisirs mit Schreiben, das am 5. Juni 2024 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt.

17      Zur Stützung dieses Antrags macht Chaudfontaine Loisirs geltend, in den Schlussanträgen werde auf eine Rechtsfrage eingegangen, die die Anerkennung einer unmittelbaren Wirkung von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 betreffe. Diese Rechtsfrage habe das vorlegende Gericht dem Gerichtshof nicht unterbreitet, und sie habe daher insoweit nicht Stellung nehmen können. Chaudfontaine Loisirs bringt auch zum Ausdruck, dass sie den Schlussanträgen der Generalanwältin in diesem Punkt nicht zustimme.

18      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder wenn ein nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

19      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die Parteien vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20      Außerdem stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21      Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof nach Anhörung der Generalanwältin der Auffassung, dass er über alle entscheidungserheblichen Angaben verfügt.

22      Insbesondere ist in Anbetracht der in Rn. 20 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung festzustellen, dass das vorlegende Gericht notwendigerweise – entgegen dem, was Chaudfontaine Loisirs zur Stützung ihres Antrags auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens vorgebracht hat – den Gerichtshof insofern zur Anerkennung einer unmittelbaren Wirkung dieser Bestimmung befragt hat, als sich die fünfte Vorlagefrage auf die Wirkungen bezieht, die Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 vor einem nationalen Gericht zuzuerkennen sind. Daraus folgt, dass Chaudfontaine Loisirs die Gelegenheit hatte, ihren Standpunkt hierzu geltend zu machen.

23      Folglich ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten und zur zweiten Frage

24      Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Kauf von Lotterielosen und die Teilnahme an sonstigen offline angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz einerseits und die Teilnahme an online angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz, die keine Lotterien sind, andererseits unterschiedlich behandelt, indem sie Letztere von der für Erstere geltenden Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt.

25      Nach Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 sind Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden, von der Mehrwertsteuer befreit.

26      Schon aus der Formulierung dieser Bestimmung ergibt sich, dass sie den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Befreiung oder Besteuerung der betreffenden Umsätze einen weiten Gestaltungsspielraum eingeräumt hat, da sie ihnen gestattet, die Bedingungen und Beschränkungen festzulegen, von denen die Gewährung der Befreiung abhängig gemacht werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass es den Mitgliedstaaten in Ausübung ihrer Befugnis, Bedingungen und Beschränkungen für die in dieser Bestimmung vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung festzulegen, gestattet ist, nur bestimmte Glücksspiele mit Geldeinsatz von dieser Steuer zu befreien (Urteil vom 24. Oktober 2013, Metropol Spielstätten, C‑440/12, EU:C:2013:687, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Machen die Mitgliedstaaten jedoch von der Befugnis, die Bedingungen und Grenzen der Befreiung festzulegen und damit Umsätze der Mehrwertsteuer zu unterwerfen oder nicht, nach dieser Bestimmung Gebrauch, müssen sie den dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegenden Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten (Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Nach ständiger Rechtsprechung lässt es der Grundsatz der steuerlichen Neutralität insbesondere nicht zu, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Bei der Beantwortung der Frage, ob zwei Dienstleistungen gleichartig sind, ist in erster Linie auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen, wobei auf unbedeutenden Unterschieden beruhende künstliche Unterscheidungen vermieden werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Zwei Dienstleistungen sind daher gleichartig, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen und wenn die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere dieser Dienstleistungen zu wählen, nicht erheblich beeinflussen (Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Mit anderen Worten ist zu prüfen, ob die fraglichen Leistungen aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers austauschbar sind. In diesem Fall könnte nämlich eine im Hinblick auf die Mehrwertsteuer unterschiedliche Behandlung die Wahl des Verbrauchers beeinflussen, was somit auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität hindeuten würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Februar 2022, Finanzamt A, C‑515/20, EU:C:2022:73, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Insoweit sind nicht nur die Unterschiede zu berücksichtigen, die die Eigenschaften der fraglichen Leistungen sowie deren Verwendung betreffen und die daher naturgemäß mit diesen Leistungen verbunden sind, sondern auch die Unterschiede des Kontexts, in dem die Leistungen erbracht werden, soweit diese kontextuellen Unterschiede in den Augen des Durchschnittsverbrauchers zu einer Unterscheidbarkeit im Hinblick auf die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse führen können und daher geeignet sind, seine Wahl zu beeinflussen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Phantasialand, C‑406/20, EU:C:2021:720, Rn. 41 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

34      So hat der Gerichtshof entschieden, dass kulturelle Faktoren wie Gebräuche oder Traditionen im Rahmen einer solchen Prüfung relevant sein können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Phantasialand, C‑406/20, EU:C:2021:720, Rn. 44).

35      Außerdem hat der Gerichtshof in Bezug auf Glücksspiele klargestellt, dass Unterschiede bei den Mindest- und Höchsteinsätzen und ‑gewinnen, den Gewinnchancen, den verfügbaren Formaten und der Möglichkeit von Interaktionen zwischen dem Spieler und dem Spiel erheblichen Einfluss auf die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers haben können, da die Anziehungskraft von Glücksspielen mit Geldeinsatz in erster Linie auf der Möglichkeit eines Gewinns beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 57).

36      Indessen ist darauf hinzuweisen, dass es für die Beurteilung der Vergleichbarkeit dieser Spielkategorien auf die Identität der Anbieter, auf die Rechtsform, in der diese ihren Tätigkeiten nachgehen, auf die Lizenzkategorien, zu denen die betreffenden Spiele gehören, und auf die hinsichtlich Aufsicht und Regulierung anwendbare rechtliche Regelung grundsätzlich nicht ankommt (vgl. entsprechend Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 46 und 51).

37      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die in Rede stehende Regelung eine in doppelter Hinsicht unterschiedliche Behandlung schafft. Zum einen unterscheidet diese Regelung zwischen Lotterien und sonstigen Glücksspielen mit Geldeinsatz, indem jeder Kauf von Lotterielosen, sowohl online als auch offline, von der Mehrwertsteuer befreit wird. Zum anderen schafft die Regelung eine unterschiedliche Behandlung von Online- und Offline-Glücksspielen mit Geldeinsatz, die keine Lotterien sind, indem Online-Spiele von der Steuerbefreiung für Offline-Spiele ausgeschlossen werden.

38      Zwar ist es allein Sache des vorlegenden Gerichts, im Hinblick auf die in den Rn. 29 bis 37 des vorliegenden Urteils angestellten Erwägungen die Gleichartigkeit dieser Dienstleistungen zu beurteilen, doch ist es Aufgabe des Gerichtshofs, ihm insoweit zweckdienliche Hinweise zu geben, damit das vorlegende Gericht über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Juni 2024, GEMA, C‑135/23, EU:C:2024:526, Rn. 32).

39      Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass kulturelle Faktoren sowie Unterschiede bei den Mindest- und Höchsteinsätzen und ‑gewinnen sowie bei den Gewinnchancen in den Augen des Durchschnittsverbrauchers zu einer Unterscheidbarkeit sowohl von Lotterien und sonstigen Glücksspielen mit Geldeinsatz als auch von online und offline angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz, die keine Lotterien sind, führen können.

40      Was im Einzelnen als Erstes die Prüfung der Gleichartigkeit von Lotterien und sonstigen Glücksspielen mit Geldeinsatz betrifft, geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung zum einen die Gewinner bei Lotterien im Sinne dieser Regelung im Unterschied zu sonstigen Glücksspielen mit Geldeinsatz – bei denen Fähigkeiten des Spielers wie Geschick oder Kenntnisse einen Einfluss auf die Gewinnwahrscheinlichkeit haben können – allein durch Zufall bestimmt werden, ohne dass ihre Fähigkeiten insoweit irgendeinen Einfluss haben könnten. Zum anderen kann in diesem Rahmen, da der Gewinner an einem bestimmten Tag ermittelt wird, die Zeitspanne zwischen dem Kauf des Lotterieloses und dem Ergebnis erheblich sein.

41      Lotterien, wie sie von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung definiert werden, sind somit dadurch gekennzeichnet, dass die Bestimmung der Gewinner nach einer Wartezeit erfolgt und dass zugleich die Fähigkeiten der Spieler keinerlei Einfluss auf den Ausgang des Spiels ausüben.

42      Solche objektiven Unterschiede gegenüber sonstigen Glücksspielen mit Geldeinsatz scheinen geeignet zu sein, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen; dies zu prüfen, ist allerdings Sache des vorlegenden Gerichts.

43      Was als Zweites die Prüfung der Gleichartigkeit der Teilnahme an online und offline angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz, die keine Lotterien sind, anbelangt, sind insbesondere die kulturellen Faktoren zu berücksichtigen, innerhalb deren diese Spiele angesiedelt sind.

44      Denn Unterschiede hinsichtlich der örtlichen und zeitlichen Zugänglichkeit der Spiele, der Möglichkeiten der Wahrung der Anonymität sowie des körperlichen oder virtuellen Gepräges der Interaktionen zwischen den Spielern oder zwischen diesen und den Veranstaltern der Spiele erscheinen geeignet, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen; dies zu prüfen, ist allerdings Sache des vorlegenden Gerichts.

45      In Anbetracht der in den Rn. 29 bis 44 des vorliegenden Urteils dargelegten Erwägungen scheinen die in Rn. 37 des vorliegenden Urteils genannten Leistungen auf den ersten Blick nicht gleichartig zu sein, was bedeuten würde, dass Ungleichbehandlungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität vereinbar wären. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, konkret im Hinblick auf alle relevanten Aspekte zu prüfen, ob die Regelung gegen diesen Grundsatz verstößt.

46      Folglich ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, die den Kauf von Lotterielosen und die Teilnahme an sonstigen offline angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz einerseits und die Teilnahme an online angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz, die keine Lotterien sind, andererseits unterschiedlich behandelt, indem sie Letztere von der für Erstere geltenden Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt, nicht entgegensteht, sofern die objektiven Unterschiede zwischen diesen Kategorien von Glücksspielen mit Geldeinsatz geeignet sind, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen.

 Zur dritten und zur vierten Frage

47      Mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 267 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, dessen Entscheidungen nicht mit einem Rechtsmittel angefochten werden können, auf eine nationale Vorschrift zurückgreifen darf, die es dazu ermächtigt, die Wirkungen nationaler Bestimmungen, die es für mit höherrangigen Normen seines nationalen Rechts unvereinbar befunden hat, aufrechtzuerhalten, ohne eine Rüge zu prüfen, wonach diese Bestimmungen auch mit der genannten Richtlinie unvereinbar seien, und ohne dem Gerichtshof diese Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorzulegen.

48      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 16. Mai 2024, Toplofikatsia Sofia [Begriff des Wohnsitzes des Beklagten], C‑222/23, EU:C:2024:405, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Zu diesem Zweck kann der Gerichtshof aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Normen und Grundsätze des Unionsrechts herausarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 21. März 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy [Berichtigungsmöglichkeit bei unrichtigem Steuersatz], C‑606/22, EU:C:2024:255, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Im vorliegenden Fall betreffen die dritte und die vierte Frage die Verpflichtungen, die das Unionsrecht einem nationalen Gericht auferlegt, dessen Entscheidungen nicht mit einem Rechtsmittel angefochten werden können. Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass diese Frage von einem erstinstanzlichen nationalen Gericht gestellt wird, das wissen möchte, welche Folgerungen sich ergeben, wenn eine nationale Bestimmung, die vom Verfassungsgerichtshof seines Mitgliedstaats aufgrund eines Verstoßes gegen höherrangige Normen seines nationalen Rechts für nichtig erklärt wurde und deren Wirkungen vom Verfassungsgerichtshof aufrechterhalten wurden, möglicherweise mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar ist.

51      Es zeigt sich mithin in diesem Zusammenhang, dass das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren nicht unmittelbar über das Vorgehen des Verfassungsgerichtshofs seines Mitgliedstaats zu befinden hat, sondern in einem Rechtsstreit, der zwischen einem Steuerpflichtigen und einer Steuerverwaltung über den Betrag der von diesem Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuer geführt wird, gegebenenfalls die Folgerungen daraus ziehen muss, dass die genannte nationale Bestimmung mit dem Unionsrecht unvereinbar ist.

52      Unter diesen Umständen sind die dritte und die vierte Vorlagefrage dahin umzuformulieren, dass das vorlegende Gericht mit diesen Fragen im Wesentlichen wissen möchte, ob der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts es dem nationalen Gericht gebieten, nationale Bestimmungen, die für mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar befunden wurden, unangewendet zu lassen, ohne dass hierbei das Vorliegen eines Urteils des nationalen Verfassungsgerichtshofs, mit dem die Wirkungen dieser nationalen Bestimmungen aufrechterhalten wurden, von Belang wäre.

53      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben; diese Verpflichtung obliegt im Rahmen seiner Zuständigkeiten jedem Organ des betreffenden Mitgliedstaats (Urteil vom 5. Oktober 2023, Osteopathie Van Hauwermeiren, C‑355/22, EU:C:2023:737, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54      Stellen die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats fest, dass eine nationale Regelung mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, müssen sie folglich, auch wenn ihnen die Wahl der zu ergreifenden Maßnahmen verbleibt, dafür sorgen, dass das nationale Recht so schnell wie möglich mit dem Unionsrecht in Einklang gebracht und den Rechten, die dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsen, die volle Wirksamkeit verschafft wird (Urteil vom 5. Oktober 2023, Osteopathie Van Hauwermeiren, C‑355/22, EU:C:2023:737, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Außerdem ist ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56      Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 hat unmittelbare Wirkung (vgl. entsprechend Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57      Zwar lässt diese Bestimmung, wie in Rn. 26 des vorliegenden Urteils ausgeführt, den Mitgliedstaaten einen gewissen Gestaltungsspielraum beim Erlass einer Regelung, die die Bedingungen und Beschränkungen der in dieser Bestimmung vorgesehenen Mehrwertsteuerbefreiung festlegt.

58      Allerdings schließt der Umstand, dass die Mitgliedstaaten nach einer Richtlinienbestimmung über einen Gestaltungsspielraum verfügen, nicht aus, dass gerichtlich überprüft werden kann, ob die nationalen Behörden diesen Gestaltungspielraum überschritten haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Oktober 2014, Traum, C‑492/13, EU:C:2014:2267, Rn. 47, vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 30, und vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 98).

59      Grenzen dieses Gestaltungsspielraums ergeben sich u. a. aus dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität. So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass sich ein Mitgliedstaat dann, wenn die Bedingungen oder Beschränkungen, von denen er die Mehrwertsteuerbefreiung für Glücksspiele mit Geldeinsatz abhängig macht, gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen, nicht auf diese Bedingungen oder Beschränkungen berufen kann, um dem Veranstalter solcher Glücksspiele die Steuerbefreiung, auf die dieser nach der Richtlinie 2006/112 einen Rechtsanspruch hat, zu verweigern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 68).

60      Zudem kann allein der Gerichtshof in Ausnahmefällen und aus zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit eine vorübergehende Aussetzung der Verdrängungswirkung herbeiführen, die eine unionsrechtliche Vorschrift gegenüber mit ihr unvereinbarem nationalem Recht ausübt. Eine solche zeitliche Beschränkung der Wirkungen einer Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof kann nur in demjenigen Urteil selbst vorgenommen werden, in dem über die begehrte Auslegung entschieden wird (Urteil vom 5. Oktober 2023, Osteopathie Van Hauwermeiren, C‑355/22, EU:C:2023:737, Rn. 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Der Vorrang und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts würden beeinträchtigt, wenn nationale Gerichte befugt wären, nationalen Bestimmungen, sei es auch nur vorübergehend, Vorrang vor dem Unionsrecht einzuräumen, gegen das sie verstoßen (Urteil vom 5. Oktober 2023, Osteopathie Van Hauwermeiren, C‑355/22, EU:C:2023:737, Rn. 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

62      Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet somit das nationale Gericht, nationale Bestimmungen unangewendet zu lassen, für die entschieden wurde, dass sie unmittelbar wirkendem Unionsrecht entgegenstehen, auch wenn der nationale Verfassungsgerichthof zuvor entschieden hat, den Zeitpunkt, zu dem diese für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen ihre Verbindlichkeit verlieren, zu verschieben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2009, Filipiak, C‑314/08, EU:C:2009:719, Rn. 85).

63      Der Gerichtshof hat auch klargestellt, dass das nationale Gericht, das von der ihm nach Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, durch die Auslegung der fraglichen Vorschriften durch den Gerichtshof für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens gebunden ist und gegebenenfalls von der Beurteilung des höheren Gerichts abweichen muss, wenn es angesichts dieser Auslegung der Auffassung ist, dass sie nicht dem Unionsrecht entspricht (Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 30).

64      Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts es dem nationalen Gericht gebieten, nationale Bestimmungen, die für mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar befunden wurden, unangewendet zu lassen, ohne dass hierbei das Vorliegen eines Urteils des nationalen Verfassungsgerichtshofs, mit dem die Wirkungen dieser nationalen Bestimmungen aufrechterhalten wurden, von Belang wäre.

 Zur fünften Frage

65      Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob einem Steuerpflichtigen die Mehrwertsteuer erstattet werden kann, die er unter Verstoß gegen die Richtlinie 2006/112 und den Grundsatz der steuerlichen Neutralität auf die tatsächliche Bruttogewinnspanne der von ihm angebotenen Spiele und Wetten gezahlt hat.

66      Im vorliegenden Fall bezieht sich das vorlegende Gericht in seiner fünften Frage zwar auf die Berechnungsmethode für die Erstattung der unter Verstoß gegen das Unionsrecht entrichteten Mehrwertsteuer, allerdings liefert es hierzu in seiner Vorlageentscheidung keinerlei Erklärung.

67      Vielmehr geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das vorlegende Gericht mit seiner fünften Frage wissen möchte, ob die Klägerin des Ausgangsverfahrens – wenn das Gericht feststellen sollte, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung entgegensteht – einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der auf der Grundlage dieser Regelung entrichteten Mehrwertsteuer hätte.

68      Diese Frage ist daher so zu verstehen, dass sie die Auslegung der Regeln des Unionsrechts über die Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge betrifft (vgl. entsprechend Urteil vom 6. September 2011, Lady & Kid u. a., C‑398/09, EU:C:2011:540).

69      Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung der in den Rn. 48 und 49 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist die fünfte Vorlagefrage dahin umzuformulieren, dass das vorlegende Gericht mit ihr im Wesentlichen wissen möchte, ob die Regeln des Unionsrechts über die Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge dahin auszulegen sind, dass sie dem Steuerpflichtigen einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 erhobenen Mehrwertsteuer verleihen.

70      Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unionsrechtswidrig erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die dem Einzelnen aus den diesen Abgaben entgegenstehenden Bestimmungen des Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Die Mitgliedstaaten sind also grundsätzlich verpflichtet, unionsrechtswidrig erhobene Abgaben zu erstatten (Urteil vom 28. September 2023, Administrația Județeană a Finanțelor Publice Brașov [Übergang des Erstattungsanspruchs], C‑508/22, EU:C:2023:715, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

71      Der Anspruch auf Rückzahlung der rechtsgrundlos entrichteten Beträge soll also die Folgen der Unvereinbarkeit der Abgabe mit dem Unionsrecht dadurch beheben, dass die mit ihr zu Unrecht auferlegte wirtschaftliche Belastung des Wirtschaftsteilnehmers, der sie letztlich tatsächlich getragen hat, neutralisiert wird (Urteil vom 16. Mai 2013, Alakor Gabonatermelő és Forgalmazó, C‑191/12, EU:C:2013:315, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

72      Ausnahmsweise kann jedoch eine solche Rückzahlung abgelehnt werden, wenn sie zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Berechtigten führt. Der Schutz der in diesem Bereich durch die Unionsrechtsordnung garantierten Rechte verlangt daher nicht die Erstattung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern, Gebühren oder Abgaben, wenn die zu ihrer Zahlung herangezogene Person sie nachweislich tatsächlich auf andere abgewälzt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Mai 2013, Alakor Gabonatermelő és Forgalmazó, C‑191/12, EU:C:2013:315, Rn. 25, und vom 21. März 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy [Berichtigungsmöglichkeit bei unrichtigem Steuersatz], C‑606/22, EU:C:2024:255, Rn. 34 und 35).

73      Diese Ausnahme ist jedoch eng auszulegen, wobei namentlich zu berücksichtigen ist, dass die Abwälzung einer Abgabe auf den Verbraucher nicht unbedingt die wirtschaftlichen Auswirkungen der Besteuerung beim Abgabepflichtigen aufhebt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Oktober 2003, Weber’s Wine World u. a., C‑147/01, EU:C:2003:533, Rn. 95).

74      So muss die Erstattung der ohne Rechtsgrund entrichteten Abgabe selbst dann, wenn sie nachweislich auf Dritte abgewälzt wurde, nicht zwangsläufig zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Abgabepflichtigen führen, da ihm ein Schaden aus einem Absatzrückgang entstehen kann, wenn er diese Abgabe in die Preise einfließen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. September 2011, Lady & Kid u. a., C‑398/09, EU:C:2011:540, Rn. 21, und vom 21. März 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy [Berichtigungsmöglichkeit bei unrichtigem Steuersatz], C‑606/22, EU:C:2024:255, Rn. 28).

75      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass sich Vorliegen und Umfang der ungerechtfertigten Bereicherung, zu der die Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Abgabe bei einem Abgabepflichtigen führt, erst nach einer wirtschaftlichen Untersuchung feststellen lassen, bei der alle maßgeblichen Umstände berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. April 2008, Marks & Spencer, C‑309/06, EU:C:2008:211, Rn. 43, und vom 21. März 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy [Berichtigungsmöglichkeit bei unrichtigem Steuersatz], C‑606/22, EU:C:2024:255, Rn. 38).

76      Folglich ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass die Regeln des Unionsrechts über die Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge dahin auszulegen sind, dass sie dem Steuerpflichtigen einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 erhobenen Mehrwertsteuer verleihen, sofern diese Erstattung nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Steuerpflichtigen führt.

 Kosten

77      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung, die den Kauf von Lotterielosen und die Teilnahme an sonstigen offline angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz einerseits und die Teilnahme an online angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz, die keine Lotterien sind, andererseits unterschiedlich behandelt, indem sie Letztere von der für Erstere geltenden Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt, nicht entgegensteht, sofern die objektiven Unterschiede zwischen diesen beiden Kategorien von Glücksspielen mit Geldeinsatz geeignet sind, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen.

2.      Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts gebieten es dem nationalen Gericht, nationale Bestimmungen, die für mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar befunden wurden, unangewendet zu lassen, ohne dass hierbei das Vorliegen eines Urteils des nationalen Verfassungsgerichtshofs, mit dem die Wirkungen dieser nationalen Bestimmungen aufrechterhalten wurden, von Belang wäre.

3.      Die Regeln des Unionsrechts über die Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge sind dahin auszulegen, dass sie dem Steuerpflichtigen einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 erhobenen Mehrwertsteuer verleihen, sofern diese Erstattung nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Steuerpflichtigen führt.

Unterschriften

*      Verfahrenssprache: Französisch.

EuGH Urteil vom 12.09.2024 Rs. Casino de Spa SA, Az. C‑741/22 - Steuerbefreiungen – Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

12. September 2024(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 135 Abs. 1 Buchst. i – Steuerbefreiungen – Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz – Bedingungen und Beschränkungen – Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Aufrechterhaltung der Wirkungen einer nationalen Regelung – Erstattungsanspruch – Ungerechtfertigte Bereicherung – Staatliche Beihilfen – Art. 107 Abs. 1 AEUV – Antrag auf Steuererstattung in Form von Schadensersatz “

In der Rechtssache C‑741/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de première instance de Liège (Gericht Erster Instanz Lüttich, Belgien) mit Entscheidung vom 18. November 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Dezember 2022, in dem Verfahren

Casino de Spa SA,

Ardent Betting SA,

Ardent Finance SA,

Artekk SRL (verschmolzen auf die Circus Belgium SA),

Circus Belgium SA,

Circus Services SA,

Gambling Management SA,

Games Services SA,

Gaming1 SRL,

Guillemins Real Estate SA,

Immo Circus Wallonie SA,

Mr Joker SRL,

Pres Carats Sports SA,

Pro Securite SRL,

Royal Namur SA,

Euro 78 SRL,

Lucky Bet SRL,

Reflex SA,

Slots SRL,

Winvest SRL,

Parction SA,

Ardent Casino Belgium SA,

Ardent Casino International SA,

Ardent Namur Immo SA,

Odds Sportbar SRL,

HQ1 SRL,

Tour de Baschamps SRL

gegen

État belge (SPF Finances)

Beteiligte:

État belge (SPF Justice),

La Chambre des Représentants

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter T. von Danwitz und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Casino de Spa SA, der Ardent Betting SA, der Ardent Finance SA, der Artekk SRL (verschmolzen auf die Circus Belgium SA), der Circus Belgium SA, der Circus Services SA, der Gambling Management SA, der Games Services SA, der Gaming1 SRL, der Guillemins Real Estate SA, der Immo Circus Wallonie SA, der Mr Joker SRL, der Pres Carats Sports SA, der Pro Securite SRL, der Royal Namur SA, der Euro 78 SRL, der Lucky Bet SRL, der Reflex SA, der Slots SRL, der Winvest SRL, der Parction SA, der Ardent Casino Belgium SA, der Ardent Casino International SA, der Ardent Namur Immo SA, der Odds Sportbar SRL, der HQ1 SRL und der Tour de Baschamps SRL, vertreten durch M. Levaux und V. Lamberts, Avocats,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, P. Cottin und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von P. Vlaemminck, Advocaat, und de V. Ramognino, Avocat,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch L. Halajová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch P.‑L. Krüger und J. Möller als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Carpi Badía, M. Herold und A. Armenia als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. April 2024

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV, von Art. 107 und 267 AEUV, der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Effektivität sowie von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Casino de Spa SA sowie anderen Klägerinnen und dem belgischen Staat, SPF Finances (Föderaler Öffentlicher Dienst Finanzen, Belgien), über eine Entscheidung betreffend die für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 geschuldete Mehrwertsteuer sowie Geldbußen und Verzugszinsen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

i)      Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden“.

 Belgisches Recht

4        Art. 1 § 14 des Code de la taxe sur la valeur ajoutée (Moniteur belge, 17. Juli 1969, S. 7046) in der durch das Programmgesetz vom 1. Juli 2016 geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetzbuch) sah vor:

„Für die Anwendung des vorliegenden Gesetzbuches gelten als:

1.       ‚Glücksspiele mit Geldeinsatz‘:

a)      Spiele unter gleich welcher Bezeichnung, die Gelegenheit bieten, Geld- oder Sachpreise beziehungsweise ‑prämien zu gewinnen, wobei die Spieler weder zu Beginn noch im Verlauf noch am Ende des Spiels eingreifen können und die Gewinner ausschließlich durch das Los oder sonst wie zufallsbedingt bestimmt werden;

b)      Spiele unter gleich welcher Bezeichnung, die Teilnehmern an einem Wettbewerb gleich welcher Art Gelegenheit bieten, Geld- oder Sachpreise beziehungsweise ‑prämien zu gewinnen, es sei denn, der Wettbewerb führt zum Abschluss eines Vertrags zwischen den Gewinnern und dem Veranstalter dieses Wettbewerbs;

2.       ‚Lotterien‘: Gelegenheiten, infolge eines Kaufs von Lotterielosen Geld- oder Sachpreise beziehungsweise ‑prämien zu gewinnen, wobei die Gewinner durch das Los oder sonst wie zufallsbedingt bestimmt werden, ohne Einfluss darauf haben zu können.“

5        Art. 44 § 3 des Mehrwertsteuergesetzbuchs bestimmte:

„Steuerfrei sind ebenfalls:

13.

a)      Lotterien;

b)      sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz, ausgenommen Glücksspiele mit Geldeinsatz, die wie in Artikel 18 § 1 Absatz 2 Nr. 16 erwähnt auf elektronischem Wege bereitgestellt werden“.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6        Casino de Spa und die anderen im Ausgangsverfahren klagenden Gesellschaften bilden die Mehrwertsteuereinheit Gaming Ardent und bieten Online-Spiele an.

7        Diese Tätigkeit war in Belgien von der Mehrwertsteuer befreit, bis zum 1. Juli 2016 Bestimmungen erlassen wurden, mit denen die Befreiung von der Mehrwertsteuer für Online-Glücksspiele mit Geldeinsatz, die keine Lotterien sind, aufgehoben wurde.

8        Diese Bestimmungen wurden von der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheid vom 22. März 2018 wegen Verletzung der im belgischen Recht vorgesehenen Vorschriften über die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Föderalstaat und den Regionen für nichtig erklärt. In diesem Entscheid prüfte der Verfassungsgerichtshof nicht die weiteren vor ihm geltend gemachten Klagegründe, insbesondere nicht diejenigen, die auf Verstöße gegen die Richtlinie 2006/112, gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität und gegen die Art. 107 und 108 AEUV gestützt wurden, und vertrat hierzu die Auffassung, dass diese Klagegründe nicht zu einer umfassenderen Nichtigerklärung der Bestimmungen führen könnten. Mit dem Entscheid erhielt der Verfassungsgerichtshof außerdem die Wirkungen der für nichtig erklärten Bestimmungen aufrecht und verwies dazu auf die budgetären und administrativen Schwierigkeiten, die die Erstattung der bereits entrichteten Steuern verursachen würden.

9        Mit Entscheid vom 8. November 2018 stellte der Verfassungsgerichtshof klar, dass die Wirkungen derjenigen Bestimmungen, mit denen die Befreiung von der Mehrwertsteuer für Online-Glücksspiele mit Geldeinsatz, die keine Lotterien seien, aufgehoben würden und die er mit seinem Entscheid vom 22. März 2018 für nichtig erklärt habe, für diejenigen Steuern aufrechterhalten würden, die für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 gezahlt worden seien.

10      Im Anschluss an diese Entscheide wies die Mehrwertsteuereinheit Gaming Ardent in ihrer Mehrwertsteuererklärung für den Monat September 2019 im Teil über Mehrwertsteuerberichtigungen zu ihren Gunsten einen Betrag von 29 328 371,20 Euro aus, was dem Betrag der für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 gezahlten Mehrwertsteuer entspricht, und beantragte die Erstattung eines Saldos von 15 581 402,06 Euro.

11      Am 5. Dezember 2019 erstellte die belgische Steuerverwaltung ein Protokoll, in dem sie darauf hinwies, dass dieser Antrag den Entscheiden des Verfassungsgerichtshofs vom 22. März 2018 und vom 8. November 2018 zuwiderlaufe und dass die Mehrwertsteuereinheit Gaming Ardent daher einen Betrag von 29 328 370,36 Euro an Mehrwertsteuer, Geldbußen und Zinsen schulde.

12      Auf eine von der Mehrwertsteuereinheit Gaming Ardent gegen dieses Protokoll eingelegte Beschwerde hin wurden die gegen sie verhängten Geldbußen herabgesetzt.

13      Am 12. Oktober 2020 erhob die Mehrwertsteuereinheit Gaming Ardent beim Tribunal de première instance de Liège (Gericht erster Instanz Lüttich, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen eine Entscheidung vom 14. August 2020: Diese betraf die für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 geschuldete Mehrwertsteuer sowie Geldbußen und Verzugszinsen. Die genannte Mehrwertsteuereinheit beruft sich hilfsweise auf die Haftung des belgischen Staats für einen Fehler des Verfassungsgerichtshofs, da dieser entschieden habe, die Wirkungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen aufrechtzuerhalten, und äußerst hilfsweise auf die Haftung des belgischen Staats infolge eines Fehlers des Gesetzgebers.

14      Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal de première instance de Liège beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 und der Grundsatz der Neutralität dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehren, von der Nationallotterie, einer öffentlichen Einrichtung, angebotene Online-Lotterien, die von der Mehrwertsteuer befreit sind, und sonstige, von privaten Wirtschaftsteilnehmern angebotene Online-Glücksspiele, die der Mehrwertsteuer unterliegen, ungleich zu behandeln, sofern es sich um gleichartige Dienstleistungen handelt?

2.      Hat das nationale Gericht im Rahmen der Beantwortung der vorstehenden Frage bei der Beurteilung, ob es sich um zwei gleichartige Kategorien handelt, die miteinander im Wettbewerb stehen und die hinsichtlich der Mehrwertsteuer die gleiche Behandlung erfordern, oder ob es sich um gesonderte Kategorien handelt, die eine differenzierte Behandlung zulassen, nur darauf zu achten, ob die beiden Arten von Spielen aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers miteinander im Wettbewerb stehen, in dem Sinne, dass Dienstleistungen gleichartig sind, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen und wenn die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers zwischen diesen Dienstleistungen nicht erheblich beeinflussen (Substitutionskriterium), oder hat es andere Kriterien zu berücksichtigen, wie z. B. das Ermessen des Mitgliedstaats, bestimmte Kategorien von Spielen von der Steuer zu befreien und andere der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, die Zugehörigkeit der Lotterien zu einer gesonderten Kategorie von Spielen, die in Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 genannt wird, die unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen, die für die Nationallotterie und sonstige Glücksspiele gelten, die unterschiedlichen Aufsichtsbehörden oder gesellschaftliche und dem Schutz der Spieler dienende Ziele, die mit den auf die Nationallotterie anwendbaren Rechtsvorschriften verfolgt werden?

3.      Ist der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 des EUV in Verbindung mit Art. 267 AEUV, den Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 und gegebenenfalls dem Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen, dass er es dem Verfassungsgerichtshof eines Mitgliedstaats erlaubt, von sich aus und ohne Vorlage zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV auf der Grundlage einer Bestimmung des innerstaatlichen Rechts – im vorliegenden Fall Art. 8 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof – die Wirkung von nationalen Bestimmungen im Bereich der Mehrwertsteuer, die als gegen die nationale Verfassung verstoßend angesehen und aus diesem Grund für nichtig erklärt wurden und deren Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht auch zur Begründung der Nichtigkeitsklage vor dem nationalen Gericht geltend gemacht wurde, ohne dass diese Rüge jedoch von diesem geprüft wurde, für die Vergangenheit aufrechtzuerhalten, indem er sich allgemein auf die mit der „[Erstattung bereits gezahlter Steuern verbundenen] budgetären und administrativen [Schwierigkeiten]“ stützt und damit den Mehrwertsteuerpflichtigen den Anspruch auf Erstattung der unter Verstoß gegen das Unionsrecht abgeführten Mehrwertsteuer vollständig vorenthält?

4.      Falls die vorstehende Frage verneint wird: Verpflichten diese Bestimmungen und Grundsätze, insbesondere bei einer Auslegung im Licht des Urteils vom 10. April 2008, Marks & Spencer (C‑309/211, EU:C:2008:211), wonach die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, inklusive des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität, dem Wirtschaftsteilnehmer, der Leistungen erbracht hat, einen Anspruch auf Rückerstattung der Beträge verleihen, die irrtümlicherweise bezüglich der Leistungen verlangt wurden (Urteil vom 10. April 2008, Marks & Spencer, C‑309/211, EU:C:2008:211), den betreffenden Mitgliedstaat, den Steuerpflichtigen die unter Verstoß gegen das Unionsrecht abgeführte Mehrwertsteuer zu erstatten, wenn sich dieser Verstoß, wie im vorliegenden Fall, später aus einem Urteil des Gerichtshofs ergibt, in dem dieser in Beantwortung von Vorlagefragen zum einen die Unvereinbarkeit der für nichtig erklärten nationalen Bestimmungen mit der Richtlinie 2006/112 und zum anderen die Unvereinbarkeit der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, die Wirkung der von ihm für nichtig erklärten Bestimmungen für die Vergangenheit aufrechtzuerhalten, mit dem Unionsrecht bejaht?

5.      Wird mit der durch die Art. 29, 30, 31, 32, 33 und 34 des Programmgesetzes vom 1. Juli 2016, die mit dem Entscheid des Verfassungsgerichtshofs Nr. 34/2018 vom 22. März 2018 für nichtig erklärt wurden, deren Wirkungen aber nach diesem Zeitpunkt auf bereits gezahlte Steuern für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 aufrechterhalten wurden, eingeführten unterschiedlichen Behandlung von Lotterien, ob offline oder online, und sonstigen Online-Spielen und ‑Wetten ein selektiver Vorteil geschaffen, der die Betreiber dieser Lotterien begünstigt, und somit eine vom belgischen Staat oder aus Mitteln des belgischen Staats gewährte Beihilfe, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht und mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist im Sinne von Art. 107 des AEUV?

6.      Für den Fall, dass die vorstehende Frage bejaht wird: Ermöglichen die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, für den Schutz der Rechte des von der rechtswidrigen Durchführung der betreffenden Beihilfe betroffenen Einzelnen zu sorgen, wie sie sich insbesondere aus dem Urteil vom 5. Oktober 2006, Transalpine Ölleitung in Österreich (C‑368/04, EU:C:2006:644), ergibt, der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, inklusive des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität, die dem Wirtschaftsteilnehmer, der Leistungen erbracht hat, einen Anspruch auf Rückerstattung der Beträge verleihen, die irrtümlicherweise bezüglich der Leistungen verlangt wurden (Urteil vom 10. April 2008, Marks & Spencer, C‑309/06, EU:C:2008:211), es den Steuerpflichtigen, die auf der Grundlage der rechtswidrigen staatlichen Beihilfe Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt haben, das Äquivalent der gezahlten Steuer in Form von Ersatz des erlittenen Schadens zurückzufordern?

 Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

15      Im Anschluss an die Verlesung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. April 2024 haben die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens mit Schreiben, das am 30. Mai 2024 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt.

16      Zur Stützung dieses Antrags machen die genannten Klägerinnen geltend, in den Schlussanträgen werde auf eine Rechtsfrage eingegangen, die die Anerkennung einer unmittelbaren Wirkung von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 betreffe. Diese Rechtsfrage habe das vorlegende Gericht dem Gerichtshof nicht unterbreitet, und die Klägerinnen hätten daher insoweit nicht Stellung nehmen können. Sie bringen auch zum Ausdruck, dass sie den Schlussanträgen der Generalanwältin in diesem Punkt nicht zustimmten.

17      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder wenn ein nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

18      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die Parteien vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19      Außerdem stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20      Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof nach Anhörung der Generalanwältin der Auffassung, dass er über alle entscheidungserheblichen Angaben verfügt.

21      Insbesondere ist in Anbetracht der in Rn. 19 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung festzustellen, dass das vorlegende Gericht notwendigerweise – entgegen dem, was die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens zur Stützung ihres Antrags auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens vorgebracht haben – den Gerichtshof insofern zur Anerkennung einer unmittelbaren Wirkung dieser Bestimmung befragt hat, als sich die vierte Vorlagefrage auf die Wirkungen bezieht, die Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 vor einem nationalen Gericht zuzuerkennen sind. Daraus folgt, dass die Klägerinnen die Gelegenheit hatten, ihren Standpunkt hierzu geltend zu machen.

22      Folglich ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten und zur zweiten Frage

23      Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Online-Kauf von Lotterielosen einerseits und die Teilnahme an sonstigen online angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz andererseits unterschiedlich behandelt, indem sie Letztere von der für Erstere geltenden Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt.

24      Nach Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 sind Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden, von der Mehrwertsteuer befreit.

25      Schon aus der Formulierung dieser Bestimmung ergibt sich, dass sie den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Befreiung oder Besteuerung der betreffenden Umsätze einen weiten Gestaltungsspielraum eingeräumt hat, da sie ihnen gestattet, die Bedingungen und Beschränkungen festzulegen, von denen die Gewährung der Befreiung abhängig gemacht werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass es den Mitgliedstaaten in Ausübung ihrer Befugnis, Bedingungen und Beschränkungen für die in dieser Bestimmung vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung festzulegen, gestattet ist, nur bestimmte Glücksspiele mit Geldeinsatz von dieser Steuer zu befreien (Urteil vom 24. Oktober 2013, Metropol Spielstätten, C‑440/12, EU:C:2013:687, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Machen die Mitgliedstaaten jedoch von der Befugnis, die Bedingungen und Grenzen der Befreiung festzulegen und damit Umsätze der Mehrwertsteuer zu unterwerfen oder nicht, nach dieser Bestimmung Gebrauch, müssen sie den dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegenden Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten (Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Nach ständiger Rechtsprechung lässt es der Grundsatz der steuerlichen Neutralität insbesondere nicht zu, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Bei der Beantwortung der Frage, ob zwei Dienstleistungen gleichartig sind, ist in erster Linie auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen, wobei auf unbedeutenden Unterschieden beruhende künstliche Unterscheidungen vermieden werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Zwei Dienstleistungen sind daher gleichartig, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen und wenn die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere dieser Dienstleistungen zu wählen, nicht erheblich beeinflussen (Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Mit anderen Worten ist zu prüfen, ob die fraglichen Leistungen aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers austauschbar sind. In diesem Fall könnte nämlich eine im Hinblick auf die Mehrwertsteuer unterschiedliche Behandlung die Wahl des Verbrauchers beeinflussen, was somit auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität hindeuten würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Februar 2022, Finanzamt A, C‑515/20, EU:C:2022:73, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Insoweit sind nicht nur die Unterschiede zu berücksichtigen, die die Eigenschaften der fraglichen Leistungen sowie deren Verwendung betreffen und die daher naturgemäß mit diesen Leistungen verbunden sind, sondern auch die Unterschiede des Kontexts, in dem die Leistungen erbracht werden, soweit diese kontextuellen Unterschiede in den Augen des Durchschnittsverbrauchers zu einer Unterscheidbarkeit im Hinblick auf die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse führen können und daher geeignet sind, seine Wahl zu beeinflussen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Phantasialand, C‑406/20, EU:C:2021:720, Rn. 41 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

33      So hat der Gerichtshof entscheiden, dass kulturelle Faktoren wie Gebräuche oder Traditionen im Rahmen einer solchen Prüfung relevant sein können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Phantasialand, C‑406/20, EU:C:2021:720, Rn. 44).

34      Außerdem hat der Gerichtshof in Bezug auf Glücksspiele klargestellt, dass Unterschiede bei den Mindest- und Höchsteinsätzen und ‑gewinnen, den Gewinnchancen, den verfügbaren Formaten und der Möglichkeit von Interaktionen zwischen dem Spieler und dem Spiel erheblichen Einfluss auf die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers haben können, da die Anziehungskraft von Glücksspielen mit Geldeinsatz in erster Linie auf der Möglichkeit eines Gewinns beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 57).

35      Solche Aspekte können daher relevant sein, wenn es darum geht, zu bestimmen, ob der Online-Kauf von Lotterielosen und die Teilnahme an sonstigen online angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz ihrer Art nach gleich sind.

36      Zwar ist es allein Sache des vorlegenden Gerichts, im Hinblick auf die in den Rn. 28 bis 35 des vorliegenden Urteils angestellten Erwägungen die Gleichartigkeit dieser Dienstleistungen zu beurteilen, doch ist es Aufgabe des Gerichtshofs, ihm insoweit zweckdienliche Hinweise zu geben, damit das vorlegende Gericht über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Juni 2024, GEMA, C‑135/23, EU:C:2024:526, Rn. 32).

37      Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass kulturelle Faktoren sowie Unterschiede bei den Mindest- und Höchsteinsätzen und ‑gewinnen sowie bei den Gewinnchancen in den Augen des Durchschnittsverbrauchers zu einer Unterscheidbarkeit von Lotterien und sonstigen Glücksspielen mit Geldeinsatz führen können.

38      Außerdem geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung zum einen die Gewinner bei Lotterien im Sinne dieser Regelung im Unterschied zu sonstigen Glücksspielen mit Geldeinsatz – bei denen Fähigkeiten des Spielers wie Geschick oder Kenntnisse einen Einfluss auf die Gewinnwahrscheinlichkeit haben können – allein durch Zufall bestimmt werden, ohne dass ihre Fähigkeiten insoweit irgendeinen Einfluss haben könnten. Zum anderen kann in diesem Rahmen, da der Gewinner an einem bestimmten Tag ermittelt wird, die Zeitspanne zwischen dem Kauf des Lotterieloses und dem Ergebnis erheblich sein.

39      Lotterien, wie sie von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung definiert werden, sind somit dadurch gekennzeichnet, dass die Bestimmung der Gewinner nach einer Wartezeit erfolgt und dass zugleich die Fähigkeiten der Spieler keinerlei Einfluss auf den Ausgang des Spiels ausüben.

40      Solche objektiven Unterschiede scheinen geeignet zu sein, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen; dies zu prüfen ist allerdings Sache des vorlegenden Gerichts.

41      Indessen ist darauf hinzuweisen, dass es für die Beurteilung der Vergleichbarkeit dieser Spielkategorien auf die Identität der Anbieter, auf die Rechtsform, in der diese ihren Tätigkeiten nachgehen, auf die Lizenzkategorien, zu denen die betreffenden Spiele gehören, und auf die hinsichtlich Aufsicht und Regulierung anwendbare rechtliche Regelung grundsätzlich nicht ankommt (vgl. entsprechend Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 46 und 51).

42      Auch der Umstand, dass Lotterien ausdrücklich von dieser Bestimmung erfasst werden, und die Ziele, die mit der betreffenden nationalen Regelung verfolgt werden, sind im Rahmen einer solchen Prüfung grundsätzlich unerheblich, da diese Aspekte nicht geeignet erscheinen, in den Augen des Durchschnittsverbrauchers zu einer Unterscheidbarkeit im Hinblick auf die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse zu führen.

43      In Anbetracht der in den Rn. 28 bis 42 des vorliegenden Urteils dargelegten Erwägungen scheinen die in diesen Randnummern berücksichtigten Leistungen auf den ersten Blick nicht gleichartig zu sein, was bedeuten würde, dass eine Ungleichbehandlung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität vereinbar wäre. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, konkret im Hinblick auf alle relevanten Aspekte zu prüfen, ob die Regelung gegen diesen Grundsatz verstößt.

44      Folglich ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, die den Online-Kauf von Lotterielosen einerseits und die Teilnahme an sonstigen online angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz andererseits unterschiedlich behandelt, indem sie Letztere von der für Erstere geltenden Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt, nicht entgegensteht, sofern die objektiven Unterschiede zwischen diesen beiden Kategorien von Glücksspielen mit Geldeinsatz geeignet sind, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen.

 Zur dritten Frage

45      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, in Verbindung mit Art. 267 AEUV, der Richtlinie 2006/112 und dem Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, dessen Entscheidungen nicht mit einem Rechtsmittel angefochten werden können, auf eine nationale Vorschrift zurückgreifen darf, die es dazu ermächtigt, die Wirkungen nationaler Bestimmungen, die es für mit höherrangigen Normen seines nationalen Rechts unvereinbar befunden hat, aufrechtzuerhalten, ohne das Vorbringen zu prüfen, diese Bestimmungen seien auch mit der genannten Richtlinie unvereinbar.

46      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 16. Mai 2024, Toplofikatsia Sofia [Begriff des Wohnsitzes des Beklagten], C‑222/23, EU:C:2024:405, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Zu diesem Zweck kann der Gerichtshof aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Normen und Grundsätze des Unionsrechts herausarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 21. März 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy [Berichtigungsmöglichkeit bei unrichtigem Steuersatz], C‑606/22, EU:C:2024:255, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Im vorliegenden Fall betrifft die dritte Frage zwar die Verpflichtungen, die das Unionsrecht einem nationalen Gericht auferlegt, dessen Entscheidungen nicht mit einem Rechtsmittel angefochten werden können. Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass diese Frage von einem erstinstanzlichen nationalen Gericht gestellt wird, das sich fragt, welche Folgerungen sich ergeben, wenn eine nationale Bestimmung, die vom Verfassungsgerichtshofs seines Mitgliedstaats aufgrund eines Verstoßes gegen höherrangige Normen seines nationalen Rechts für nichtig erklärt wurde und deren Wirkungen vom Verfassungsgerichtshofs aufrechterhalten wurden, möglicherweise mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar ist.

49      Es zeigt sich mithin in diesem Zusammenhang, dass das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren nicht unmittelbar über das Vorgehen des Verfassungsgerichtshofs seines Mitgliedstaats zu befinden hat, sondern in einem Rechtsstreit, der zwischen einem Steuerpflichtigen und einer Steuerverwaltung über den Betrag der von diesem Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuer geführt wird, gegebenenfalls die Folgerungen daraus ziehen muss, dass die genannte nationale Bestimmung mit dem Unionsrecht unvereinbar ist.

50      Unter diesen Umständen ist die dritte Vorlagefrage dahin umzuformulieren, dass das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts es dem nationalen Gericht gebieten, nationale Bestimmungen, die für mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar befunden wurden, unangewendet zu lassen, ohne dass hierbei das Vorliegen eines Urteils des nationalen Verfassungsgerichtshofs, mit dem die Wirkungen dieser nationalen Bestimmungen aufrechterhalten wurden, von Belang wäre.

51      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben; diese Verpflichtung obliegt im Rahmen seiner Zuständigkeiten jedem Organ des betreffenden Mitgliedstaats (Urteil vom 5. Oktober 2023, Osteopathie Van Hauwermeiren, C‑355/22, EU:C:2023:737, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52      Stellen die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats fest, dass eine nationale Regelung mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, müssen sie folglich, auch wenn ihnen die Wahl der zu ergreifenden Maßnahmen verbleibt, dafür sorgen, dass das nationale Recht so schnell wie möglich mit dem Unionsrecht in Einklang gebracht und den Rechten, die dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsen, die volle Wirksamkeit verschafft wird (Urteil vom 5. Oktober 2023, Osteopathie Van Hauwermeiren, C‑355/22, EU:C:2023:737, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53      Außerdem ist ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54      Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 hat unmittelbare Wirkung (vgl. entsprechend Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Zwar lässt diese Bestimmung, wie in Rn. 25 des vorliegenden Urteils ausgeführt, den Mitgliedstaaten einen gewissen Gestaltungsspielraum beim Erlass einer Regelung, die die Bedingungen und Beschränkungen der in dieser Bestimmung vorgesehenen Mehrwertsteuerbefreiung festlegt.

56      Allerdings schließt der Umstand, dass die Mitgliedstaaten nach einer Richtlinienbestimmung über einen Gestaltungsspielraum verfügen, nicht aus, dass gerichtlich überprüft werden kann, ob die nationalen Behörden diesen Gestaltungspielraum überschritten haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Oktober 2014, Traum, C‑492/13, EU:C:2014:2267, Rn. 47, vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 30, und vom 27. April 2023, M.D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 98).

57      Grenzen dieses Gestaltungsspielraums ergeben sich u. a. aus dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität. So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass sich ein Mitgliedstaat dann, wenn die Bedingungen oder Beschränkungen, von denen er die Mehrwertsteuerbefreiung für Glücksspiele mit Geldeinsatz abhängig macht, gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen, nicht auf diese Bedingungen oder Beschränkungen berufen kann, um dem Veranstalter solcher Glücksspiele die Steuerbefreiung, auf die dieser nach der Richtlinie 2006/112 einen Rechtsanspruch hat, zu verweigern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 68).

58      Zudem kann allein der Gerichtshof in Ausnahmefällen und aus zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit eine vorübergehende Aussetzung der Verdrängungswirkung herbeiführen, die eine unionsrechtliche Vorschrift gegenüber mit ihr unvereinbarem nationalem Recht ausübt. Eine solche zeitliche Beschränkung der Wirkungen einer Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof kann nur in demjenigen Urteil selbst vorgenommen werden, in dem über die begehrte Auslegung entschieden wird (Urteil vom 5. Oktober 2023, Osteopathie Van Hauwermeiren, C‑355/22, EU:C:2023:737, Rn. 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

59      Der Vorrang und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts würden beeinträchtigt, wenn nationale Gerichte befugt wären, nationalen Bestimmungen, sei es auch nur vorübergehend, Vorrang vor dem Unionsrecht einzuräumen, gegen das sie verstoßen (Urteil vom 5. Oktober 2023, Osteopathie Van Hauwermeiren, C‑355/22, EU:C:2023:737, Rn. 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet somit das nationale Gericht, nationale Bestimmungen unangewendet zu lassen, für die entschieden wurde, dass sie unmittelbar wirkendem Unionsrecht entgegenstehen, auch wenn der nationale Verfassungsgerichtshof zuvor entschieden hat, den Zeitpunkt, zu dem diese für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen ihre Verbindlichkeit verlieren, zu verschieben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2009, Filipiak, C‑314/08, EU:C:2009:719, Rn. 85).

61      Der Gerichtshof hat auch klargestellt, dass das nationale Gericht, das von der ihm nach Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, durch die Auslegung der fraglichen Vorschriften durch den Gerichtshof für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens gebunden ist und gegebenenfalls von der Beurteilung des höheren Gerichts abweichen muss, wenn es angesichts dieser Auslegung der Auffassung ist, dass sie nicht dem Unionsrecht entspricht (Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 30).

62      Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts es dem nationalen Gericht gebieten, nationale Bestimmungen, die für mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar befunden wurden, unangewendet zu lassen, ohne dass hierbei das Vorliegen eines Urteils des nationalen Verfassungsgerichtshofs, mit dem die Wirkungen dieser nationalen Bestimmungen aufrechterhalten wurden, von Belang wäre.

 Zur vierten Frage

63      Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, in Verbindung mit Art. 267 AEUV, der Richtlinie 2006/112, dem Effektivitätsgrundsatz und den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, insbesondere dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dahin auszulegen ist, dass er dem Steuerpflichtigen einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Art. 135 Abs. 1 Buchst. i dieser Richtlinie erhobenen Mehrwertsteuer verleiht.

64      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das vorlegende Gericht mit seiner vierten Frage wissen möchte, ob die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens – wenn das Gericht feststellen sollte, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung entgegensteht – einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der auf der Grundlage dieser Regelung entrichteten Mehrwertsteuer hätten.

65      Diese Frage ist daher so zu verstehen, dass sie die Auslegung der Regeln des Unionsrechts über die Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge betrifft (vgl. entsprechend Urteil vom 6. September 2011, Lady & Kid u. a., C‑398/09, EU:C:2011:540).

66      Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung der in den Rn. 46 und 47 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist die vierte Vorlagefrage dahin umzuformulieren, dass das vorlegende Gericht mit ihr im Wesentlichen wissen möchte, ob die Regeln des Unionsrechts über die Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge dahin auszulegen sind, dass sie dem Steuerpflichtigen einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 erhobenen Mehrwertsteuer verleihen.

67      Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unionsrechtswidrig erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die dem Einzelnen aus den diesen Abgaben entgegenstehenden Bestimmungen des Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Die Mitgliedstaaten sind also grundsätzlich verpflichtet, unionsrechtswidrig erhobene Abgaben zu erstatten (Urteil vom 28. September 2023, Administrația Județeană a Finanțelor Publice Brașov [Übergang des Erstattungsanspruchs], C‑508/22, EU:C:2023:715, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68      Der Anspruch auf Rückzahlung der rechtsgrundlos entrichteten Beträge soll also die Folgen der Unvereinbarkeit der Abgabe mit dem Unionsrecht dadurch beheben, dass die mit ihr zu Unrecht auferlegte wirtschaftliche Belastung des Wirtschaftsteilnehmers, der sie letztlich tatsächlich getragen hat, neutralisiert wird (Urteil vom 16. Mai 2013, Alakor Gabonatermelő és Forgalmazó, C‑191/12, EU:C:2013:315, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69      Ausnahmsweise kann jedoch eine solche Rückzahlung abgelehnt werden, wenn sie zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Berechtigten führt. Der Schutz der in diesem Bereich durch die Unionsrechtsordnung garantierten Rechte verlangt daher nicht die Erstattung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern, Gebühren oder Abgaben, wenn die zur ihrer Zahlung herangezogene Person sie nachweislich tatsächlich auf andere abgewälzt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Mai 2013, Alakor Gabonatermelő és Forgalmazó, C‑191/12, EU:C:2013:315, Rn. 25, und vom 21. März 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy [Berichtigkeitsmöglichkeit bei unrichtigem Steuersatz], C‑606/22, EU:C:2024:255, Rn. 34 und 35).

70      Diese Ausnahme ist jedoch eng auszulegen, wobei namentlich zu berücksichtigen ist, dass die Abwälzung einer Abgabe auf den Verbraucher nicht unbedingt die wirtschaftlichen Auswirkungen der Besteuerung beim Abgabepflichtigen aufhebt (vgl. diesem Sinne Urteile vom 2. Oktober 2003, Weber's Wine World u. a., C‑147/01, EU:C:2003:533, Rn. 95).

71      Zudem muss die Erstattung der ohne Rechtsgrund entrichteten Abgabe selbst dann, wenn sie nachweislich auf Dritte abgewälzt wurde, nicht zwangsläufig zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Abgabepflichtigen führen, da ihm ein Schaden aus einem Absatzrückgang entstehen kann, wenn er diese Abgabe in die Preise einfließen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. September 2011, Lady & Kid u. a., C‑398/09, EU:C:2011:540, Rn. 21, und vom 21. März 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy [Berichtigkeitsmöglichkeit bei unrichtigem Steuersatz], C‑606/22, EU:C:2024:255, Rn. 28).

72      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass sich Vorliegen und Umfang der ungerechtfertigten Bereicherung, zu der die Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Abgabe bei einem Abgabepflichtigen führt, erst nach einer wirtschaftlichen Untersuchung feststellen lassen, bei der alle maßgeblichen Umstände berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. April 2008, Marks & Spencer, C‑309/06, EU:C:2008:211, Rn. 43, und vom 21. März 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy [Berichtigkeitsmöglichkeit bei unrichtigem Steuersatz], C‑606/22, EU:C:2024:255, Rn. 38).

73      Folglich ist auf die vierte Frage zu antworten, dass die Regeln des Unionsrechts über die Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge dahin auszulegen sind, dass sie dem Steuerpflichtigen einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 erhobenen Mehrwertsteuer verleihen, sofern diese Erstattung nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Steuerpflichtigen führt.

 Zur sechsten Frage

74      Mit seiner sechsten Frage, die vor der fünften Frage zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, für den Schutz der Rechte des von der rechtswidrigen Durchführung einer staatlichen Beihilfe betroffenen Einzelnen zu sorgen, der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, insbesondere der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dahin auszulegen sind, dass ein Steuerpflichtiger einen der entrichteten Mehrwertsteuer entsprechenden Betrag in Form von Schadensersatz zurückfordern kann, wenn die Befreiung anderer Wirtschaftsteilnehmer von dieser Steuer eine rechtswidrige staatliche Beihilfe darstellt.

75      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass sich die sechste Frage auf die Regelung staatlicher Beihilfen bezieht, genauer gesagt auf die Verpflichtungen, die nationalen Gerichten zukommen, wenn sie feststellen, dass die Befreiung bestimmter Wirtschaftsteilnehmer von der Mehrwertsteuer eine staatliche Beihilfe darstellt, die ohne die nach Art. 108 Abs. 3 AEUV erforderliche vorherige Anmeldung gezahlt wurde.

76      Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung der in den Rn. 46 und 47 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist die sechste Vorlagefrage dahin umzuformulieren, dass das vorlegende Gericht mit ihr im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 108 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass, wenn die Befreiung bestimmter Wirtschaftsteilnehmer von der Mehrwertsteuer eine rechtswidrige Beihilfe darstellt, ein Steuerpflichtiger, der nicht in den Genuss einer solchen Befreiung gekommen ist, einen der entrichteten Mehrwertsteuer entsprechenden Betrag in Form von Schadensersatz erhalten kann.

77      Hierzu ist festzustellen, dass die nationalen Gerichte zwar nach ihrem nationalen Recht sicherstellen müssen, dass sämtliche Konsequenzen aus einer Verletzung von Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV insbesondere sowohl hinsichtlich der Gültigkeit der Durchführungsakte als auch hinsichtlich der Wiedereinziehung der unter Verletzung dieser Bestimmung gewährten finanziellen Unterstützungen gezogen werden und dass Gegenstand ihrer Aufgabe somit die Anordnung von Maßnahmen ist, die geeignet sind, der Rechtswidrigkeit der Durchführung der Beihilfen abzuhelfen, damit der Empfänger in der bis zur Entscheidung der Kommission noch verbleibenden Zeit nicht weiterhin frei über sie verfügen kann (Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).

78      Außerdem kann ein nationales Gericht gehalten sein, über einen Antrag auf Ersatz des durch die Rechtswidrigkeit der Beihilfemaßnahme verursachten Schadens zu entscheiden (Urteil vom 5. Oktober 2006, Transalpine Ölleitung in Österreich, C‑368/04, EU:C:2006:644, Rn. 56).

79      Somit können die nationalen Gerichte in Erfüllung ihrer Aufgabe dazu gehalten sein, Klagen auf Ersatz von Schäden stattzugeben, die den Wettbewerbern des Begünstigten durch eine rechtswidrige staatliche Beihilfe entstanden sind (Urteil vom 23. Januar 2019, Fallimento Traghetti del Mediterraneo, C‑387/17, EU:C:2019:51, Rn. 56).

80      Indesesen kann aber die etwaige Rechtswidrigkeit der Befreiung von einer Abgabe im Hinblick auf das Beihilfenrecht der Union nicht die Rechtmäßigkeit dieser Abgabe selbst berühren, so dass ihr Schuldner sich nicht darauf berufen kann, dass die Befreiung anderer Personen eine staatliche Beihilfe darstelle, um sich ihrer Zahlung zu entziehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 2006, Transalpine Ölleitung in Österreich, C‑368/04, EU:C:2006:644, Rn. 51, und vom 3. März 2020, Vodafone Magyarország, C‑75/18, EU:C:2020:139, Rn. 24).

81      Sollte ein nationales Gericht zu der Auffassung gelangen, dass die Befreiung bestimmter Wirtschaftsteilnehmer von der Mehrwertsteuer eine staatliche Beihilfe darstellt, hätte, wenn einem Steuerpflichtigen, der dieser Steuer entrichtet hat, ein der entrichteten Mehrwertsteuer entsprechender Betrag in Form von Schadensersatz gewährt würde, dies aber gerade zur Folge, dass sich dieser Steuerpflichtige der Zahlung der Steuer entziehen könnte.

82      Folglich ist auf die sechste Frage zu antworten, dass Art. 108 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass, wenn die Befreiung bestimmter Wirtschaftsteilnehmer von der Mehrwertsteuer eine rechtswidrige staatliche Beihilfe darstellt, ein Steuerpflichtiger, der nicht in den Genuss einer solchen Befreiung gekommen ist, nicht einen der entrichteten Mehrwertsteuer entsprechenden Betrag in Form von Schadensersatz erhalten kann.

 Zur fünften Frage

83      Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 107 AEUV dahin auszulegen ist, dass die Mehrwertsteuerbefreiung des Kaufs von Lotterielosen und der Ausschluss sonstiger online angebotener Glücksspiele mit Geldeinsatz von dieser Befreiung eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstellt.

84      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass diese Frage im Rahmen der Klage eines Steuerpflichtigen gestellt wird, die auf Erstattung des Äquivalents der von ihm entrichteten Mehrwertsteuer in Form von Schadensersatz gerichtet ist. Außerdem ist aus der Vorlageentscheidung nicht ersichtlich, dass diese Frage einen weiteren Gegenstand hätte.

85      Aus der Antwort auf die sechste Frage ergibt sich jedoch, dass, wenn die Befreiung bestimmter Wirtschaftsteilnehmer von der Mehrwertsteuer eine staatliche Beihilfe darstellt, ein Steuerpflichtiger, der nicht in den Genuss einer solchen Befreiung gekommen ist, nicht einen der entrichteten Mehrwertsteuer entsprechenden Betrag in Form von Schadensersatz zurückfordern kann.

86      In Anbetracht der Antwort auf die sechste Frage erübrigt sich somit eine Beantwortung der fünften Frage.

 Kosten

87      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung, die den Online-Kauf von Lotterielosen einerseits und die Teilnahme an sonstigen online angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz andererseits unterschiedlich behandelt, indem sie Letztere von der für Erstere geltenden Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt, nicht entgegensteht, sofern die objektiven Unterschiede zwischen diesen beiden Kategorien von Glücksspielen mit Geldeinsatz geeignet sind, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen.

2.      Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts gebieten es dem nationalen Gericht, nationale Bestimmungen, die für mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar befunden wurden, unangewendet zu lassen, ohne dass hierbei das Vorliegen eines Urteils des nationalen Verfassungsgerichtshofs, mit dem die Wirkungen dieser nationalen Bestimmungen aufrechterhalten wurden, von Belang wäre.

3.      Die Regeln des Unionsrechts über die Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge sind dahin auszulegen, dass sie dem Steuerpflichtigen einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 erhobenen Mehrwertsteuer verleihen, sofern diese Erstattung nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Steuerpflichtigen führt.

4.      Art. 108 Abs. 3 AEUV ist dahin auszulegen, dass, wenn die Befreiung bestimmter Wirtschaftsteilnehmer von der Mehrwertsteuer eine rechtswidrige staatliche Beihilfe darstellt, ein Steuerpflichtiger, der nicht in den Genuss einer solchen Befreiung gekommen ist, nicht einen der entrichteten Mehrwertsteuer entsprechenden Betrag in Form von Schadensersatz erhalten kann.


Unterschriften