Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle
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Nr. 139/2017 vom 11.09.2017
Schmerzensgeld auch für Verletzungen bei rechtmäßigen Behördenmaßnahmen möglich
Urteil vom 7. September 2017 - III ZR 71/17
Der für das Recht der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen zuständige III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass der Anspruch auf Entschädigung für hoheitliche Eingriffe in Leben, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit (sog. Aufopferung) auch einen Schmerzensgeldanspruch umfasst.
Sachverhalt:
Der Kläger verlangt Schadensersatz wegen einer Verletzung, die er bei einem Polizeieinsatz erlitt.
Am 23. Oktober 2010 wurde aus einem fahrenden PKW ein Schuss auf ein Döner-Restaurant in einem hessischen Ort abgegeben. Im Zuge der darauf eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen entdeckte eine Polizeistreife auf einem Tankstellengelände das mutmaßliche Tatfahrzeug. Der Kläger befand sich zusammen mit einem Mitarbeiter im Verkaufsraum der Tankstelle. Weil auch die grobe Personenbeschreibung der Täter auf den Kläger und seinen Begleiter passte, gingen die Polizeibeamten davon aus, dass es sich bei ihnen um die Tatverdächtigen handele. Nachdem eine weitere Streifenwagenbesatzung zur Verstärkung eingetroffen war, liefen die Polizeibeamten in den Tankstellenverkaufsraum. Da sie vermuteten, der Kläger und dessen Mitarbeiter führten eine Schusswaffe mit sich, forderten sie zur Eigensicherung beide auf, die Hände hoch zu nehmen, brachten sie zu Boden und legten ihnen Handschellen an. Dabei erlitt der Kläger eine Schulterverletzung. Es stellte sich alsbald heraus, dass er und sein Mitarbeiter mit der Schussabgabe nichts zu tun hatten. Darauf wurden ihnen die Handfesseln abgenommen. Der Kläger verlangt Ersatz des aufgrund der Verletzung erlittenen Vermögensschadens und ein Schmerzensgeld.
Prozessverlauf:
Die Vorinstanzen haben angenommen, die Polizeibeamten hätten angesichts der Sachlage, die sich ihnen dargeboten habe, zwar rechtmäßig unmittelbaren Zwang zur Durchsetzung einer Identitätsfeststellung gemäß § 163b Abs. 1 StPO* angewendet. Jedoch habe der Kläger einen Entschädigungsanspruch aus Aufopferung. Auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs haben das Land- und das Oberlandesgericht allerdings nur einen Ausgleich für den erlittenen materiellen Schaden zuerkannt. Die Schmerzensforderung haben sie für unbegründet gehalten.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der III. Zivilsenat hat unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung darauf erkannt, dass der Entschädigungsanspruch aus Aufopferung auch den Ausgleich immaterieller Schäden, mithin auch ein Schmerzensgeld, umfasst.
Der Senat hat in seiner früheren "Grundentscheidung" vom 13. Februar 1956 (III ZR 175/54, BGHZ 20, 61, 68 ff) ausgeführt, aus der Gesamtbetrachtung der Rechtsordnung ergebe sich, dass Ersatz für immaterielle Schäden grundsätzlich nicht geschuldet werde. Nur in jeweils ausnahmsweise ausdrücklich gesetzlich normierten Fällen gebe es einen Ersatzanspruch auch für Nichtvermögensschäden. Eine entsprechende Bestimmung fehle für den allgemeinen Aufopferungsanspruch, der sich gewohnheitsrechtlich aus §§ 74**, 75*** der Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten vom 1. Juni 1794 entwickelt habe.
Der Senat hat in seinem jetzigen Urteil ausgeführt, von einem Willen des Gesetzgebers, die Ersatzpflicht bei Eingriffen in immaterielle Rechtsgüter grundsätzlich auf daraus folgende Vermögensschäden zu beschränken, könne nicht mehr ausgegangen werden. Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl. I S. 2674) und der hierdurch bewirkten Ausweitung des Schmerzensgeldanspruchs infolge der Änderung des § 253 BGB habe der Gesetzgeber den Grundsatz, auf den der Senat sein Urteil vom 13. Februar 1956 gestützt habe, verlassen. Dies ergebe sich auch aus der Änderung der Vorschriften über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen im Jahr 1971, nach denen für zu Unrecht erlittene Haft eine Entschädigung auch für Nichtvermögensschäden gewährt werde. Zudem habe mittlerweile eine Vielzahl von Bundesländern Bestimmungen eingeführt, nach denen Ersatz auch des immateriellen Schadens bei Verletzung des Körpers oder der Gesundheit infolge präventiv-polizeilicher Maßnahmen geschuldet werde.
* § 163b Abs. 1 StPO
Ist jemand einer Straftat verdächtig, so können die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes die zur Feststellung seiner Identität erforderlichen Maßnahmen treffen; § 163a Abs. 4 Satz 1 gilt entsprechend. Der Verdächtige darf festgehalten werden, wenn die Identität sonst nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Unter den Voraussetzungen von Satz 2 sind auch die Durchsuchung der Person des Verdächtigen und der von ihm mitgeführten Sachen sowie die Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen zulässig.
** § 74 EinlALR
Einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staats müssen den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beyden ein wirklicher Widerspruch (Collision) eintritt, nachstehen.
*** § 75 EinlALR
Dagegen ist der Staat denjenigen, welche seine besonderen Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen gehalten.
Vorinstanzen:
LG Wiesbaden - Urteil vom 26. November 2014 – 5 O 109/13
OLG Frankfurt am Main - Urteil vom 26. Januar 2017 – 1 U 31/15
Karlsruhe, den 11. September 2017
Pressestelle des Bundesgerichtshofs
76125 Karlsruhe
Telefon (0721) 159-5013
Telefax (0721) 159-5501
Quelle: Pressemitteilungen aus dem Jahr 2017
Bücher zum Allgemeinen Landrecht für die Preussischen Staaten 1794
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Rechtsprechung zu EinlALR
(Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten vom 1. Juni 1794)
s. a. BGH, 10.03.1976 - III ZR 130/73
wird zitiert von ...
LG Bonn, 16.01.2004 - 1 O 278/03
Denn ein aus den §§ 74, 75 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 ("Einl. ALR") abgeleiteter und heute gewohnheitsrechtlich anerkannter Anspruch bildet in seinem heutigen Anwendungsbereich nach herrschender höchstrichterlicher Rechtsprechung die Entschädigungsgrundlage für hoheitliche Eingriffe in immaterielle Rechtsgüter, wie insbesondere Leben, Gesundheit und Bewegungsfreiheit, nicht aber in den durch Art. 12 GG gewährleisteten Erwerbsschutz und das durch Art. 14 GG geschützte Eigentumsrecht (vgl. BGHZ 66, 118; BGH NJW 1994, 1468 und 2229 sowie BGH NJW 1996, 2422).
BayObLG, 01.12.1987 - AR 1 Z 92/87
Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung in entsprechender Anwendung von …
Alle außer den Ansprüchen aus Amtshaftung genannten Ansprüche setzen eine hoheitliche Betätigung voraus (für den Anspruch aus Enteignung: Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG , aus enteignendem Eingriff: BGH NJW 1980, 770, aus enteignungsgleichem Eingriff: BGHZ 90, 17 , aus Aufopferung: BGHZ 66, 118/119, aus öffentlich-rechtlicher Verwahrung: BGHZ 4, 192/193, nach dem StrEG : Schätzler StrEG 2. Aufl. Einl. RdNr. 23).
Quelle
Rechtsprechung des Gerichtshofs
zur Haftung der Mitgliedstaaten wegen Verstoßes gegen das EU-Recht
In seinen Schlussanträgen in d Rs. Global Starnet Ltd – C-322/16 – vom 8. Juni 2017 verweist der Generalanwalt
NILS WAHL
unter den Rn. 20ff auf die Einhaltung der Verträge (Art. 267 AEUV*) und auf div. EuGH Urteile zum Schadenersatz (Staatshaftungsklage) sowie auf den Beitritt der Europäischen Union (14) zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)
20. Die in den vorliegenden Schlussanträgen vertretene Auslegung von Art. 267 AEUV wird auch nicht durch den – in der Vorlageentscheidung angeführten – Umstand in Frage gestellt, dass Privatpersonen gemäß der auf die Urteile Francovich(12) und Köbler(13)zurückgehenden Rechtsprechung Schadensersatz für Verstöße gegen das Unionsrecht durch nationale Gerichte verlangen können. Wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat, ist die Möglichkeit, sich unter bestimmten Umständen bei Fehlurteilen mit Erfolg auf die Staatshaftung der Mitgliedstaaten zu berufen, nur das letzte Mittel. Eine Staatshaftungsklage zielt lediglich darauf ab, dass der durch einen Unionsrechtsverstoß entstandene Schaden ersetzt wird, dient jedoch nicht dem mit Art. 267 AEUV verfolgten Ziel, die einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen.
21. Wie der Gerichtshof im Gutachten 2/13 betont hat, besteht das Schlüsselelement des von den Verträgen gestalteten Gerichtssystems in dem in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren, das durch die Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht – gerade zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten – die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll(14). Daher würde eine von der hier vertretenen abweichende Auslegung die Wirksamkeit von Art. 267 AEUV schwächen.
(12) Urteil vom 19. November 1991, Francovich u. a. (C-6/90 und C-9/90, EU:C:1991:428). Vgl. auch Urteil vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame (C-46/93 und C-48/93, EU:C:1996:79).
(13) Urteil vom 30. September 2003, Köbler (C-224/01, EU:C:2003:513). Vgl. auch Urteile vom 28. Juli 2016, Tomášová (C-168/15, EU:C:2016:602), und vom 9. September 2015, Ferreira da Silva e Brito u. a. (C-160/14, EU:C:2015:565).
(14) Gutachten 2/13 (Beitritt der Europäischen Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 176).
* Der Art. 267 AEUV (ehemals Art. 234 III des EG-Vertrags) soll verhindern, dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des Gemeinschaftsrechts nicht im Einklang steht.
(vgl. C-495/03, Rn. 29 vom 15.09.2005; BVerfG, 1 BvR 230/09 vom 25.2.2010, Rn 20)
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