Mittwoch, 12. April 2017

Kritik am Beschluss des BVerfG vom 07.03.2017


Grundrechte sind keine Grundfreiheiten

Ein Beitrag von Rechtsanwalt R. Karpenstein zu BVerfG 1 BvR 1314/12 u.a.

Mein Kollege kennt einen, der einen kennt, der von jemandem gehört hat, der einen Anwalt kennt, der mit seiner Verfassungsbeschwerde Erfolg hatte.

Verschwörungstheorie?

Nein, es gibt sie, die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde. Wunder und Recht in Poesie vereint: 2 BvR 470/08; Beschl. v. 19. Juli 2016. Das AG Laufen (2007) und das OLG München (2008) werden aufgehoben. Verfahrensdauer in Karlsruhe: acht Jahre. Art. 3 GG und die Vorlagepflicht (Art. 267 III AEUV) sind verletzt. Das ist effektiver Schutz der Grundrechte.

Worum ging es? Ein Österreicher wurde gegenüber Einheimischen benachteiligt. Der Össi zahlte 8,50 € fürs Schwimmbad, der Einheimische nur 6 €. Krasser Fall. Jetzt die zweite Chance. Zurück zum AG Laufen laufen und dann zum OLG München. Die Chance auf 2,50 € bleibt bestehen. Das ist effektiver Schutz durch Grundrechte. Danke BVerfG.

Zurück in die Realität. Bei Streitwerten über 2,50 € gibt es keine Wunder, keine Poesie und kein Recht.

Ernüchternd schon die Homepage des BVerfG. Die „Top Ten“ am 11.4.2017:

  •     „Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Abschiebungsanordnung
  •     Wahlprüfungsbeschwerde verworfen
  •     erfolgloser Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffend Asylantrag
  •     erfolglose Erinnerung gegen die Auferlegung einer Missbrauchsgebühr
  •     erfolgloser Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen eine Umgangsregelung
  •     Ablehnungsgesuch und Wahlprüfungsbeschwerde erfolglos
  •     erfolgloser Antrag auf Anordnung der Erstattung der notwendigen Auslagen
  •     erfolglose VB gegen die Versagung von Vollstreckungsschutz bei einer Wohnungsräumung
  •     Entscheidung über die Auslagenerstattung und Festsetzung des Gegenstandswertes
  •     Ablehnungsgesuch und Verfassungsbeschwerde erfolglos

BVerfG: 9 – Grundrechte 0 (bei einem Unentschieden). Klingt ganz nach: Bayern ./. HSV.

Früher war besser! Wir schreiben das Jahr 2000. Die 90 Minuten sind vorbei. HSV führt gegen Bayern – und Schalke ist Meister.

Das Jahr 2000: Spielbankenbeschluss, BVerfG, 1 BvR 539/96. Die Grundrechte siegen. Wesentliche Entscheidungen muss der Gesetzgeber regeln. Und die Verteilung knapper Erlaubnisse ist wesentlich. Es geht nicht um eine natürliche Knappheit, sondern um künstliche Verknappung. Zitat aus 1 BvR 539/96:

„90. Im Spielbankengesetz ebenfalls nicht geregelt ist, welche Grundsätze gelten, wenn sich mehrere Unternehmen in privater Trägerschaft gleichzeitig um eine Erlaubnis für den Spielbankenbetrieb in Baden-Baden und Konstanz bewerben. Offen bleibt damit insbesondere, nach welchen Kriterien die Auswahl unter solchen Bewerbern zu treffen ist, die gleichermaßen den Anforderungen des § 1 Abs. 4 SpBG genügen. Auch dies bedarf im Hinblick auf den Grundrechtsschutz aus Art. 12 Abs. 1 GG gemäß S. 2 dieser Vorschrift näherer gesetzlicher Regelung.“

„Näherer gesetzlicher Regelung“ bedarf die Auswahl unter mehreren Interessenten für den Betrieb von Automatenspielen. Das klingt logisch! Wer ausgewählt wird lacht, wer rausgewählt wird weint. „Wesentlichkeitstheorie“ und „Gesetzesvorbehalt“ nannte sich das seinerzeit. Aber damals führte der HSV auch gegen Bayern und Schalke war – kurz – Meister.

Im Urteil aus 1972 zum Numerus Clausus als Zugangsbeschränkung zu Hochschulen formulierte der Erste Senat in Rn. 92:

„Formellrechtlich ist es wegen der einschneidenden Bedeutung der Auswahlregelung Sache des verantwortlichen Gesetzgebers, auch im Falle einer Delegation seiner Regelungsbefugnis zumindest die Art der anzuwendenden Auswahlkriterien und deren Rangverhältnis untereinander selbst festzulegen. Die grundgesetzliche Ordnung erlaubt es zwar dem Gesetzgeber, seine Normgebungsbefugnis durch ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung auf andere zu delegieren. Wenn aber die Regelung in den Grundrechtsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG eingreift und sich hier als Zuteilung von Lebenschancen auswirken kann, dann kann in einer rechtsstaatlich-parlamentarischen Demokratie der Vorbehalt, dass in den Grundrechtsbereich lediglich durch ein Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden darf, nur den Sinn haben, dass der Gesetzgeber die grundlegenden Entscheidungen selbst verantworten soll (vergleiche Beschluss vom 9. Mai 1972 – 1 BvR 518/62 und 308/64).“

Das ist Vergangenheit. Der Gesetzesvorbehalt für grundlegende Entscheidungen der Exekutive läuft leer. Das Grundlegende ist gar nicht grundlegend, leert uns jetzt das BVerfG in Rn. 185 seiner am 11.4.2017 veröffentlichten Entscheidung vom 7.3.2017.

„Der Gesetzgeber kann die Bewältigung der vielgestaltigen Auswahlkonstellationen anhand sachgerechter Kriterien den zuständigen Behörden überlassen“.

Gesetzesvorbehalt, Wesentlichkeitstheorie raus aus den Lehrbüchern, raus aus den Skripten der Repetitoren und raus aus den Grundrechten.

„Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung schafft, soweit ersichtlich, nur ein geringes Mehr an Bestimmtheit und Rechtsklarheit“ belehrt uns der Erste Senat. Es bliebe ja noch der Härtefall. Die fünfjährige „Übergangsfrist“ sei schon Geschenk genug. Auch sei „weder vorgetragen noch ersichtlich“, dass eine gesetzgeberische Festlegung der Auswahlkriterien den komplexen Auswahlentscheidungen besser gerecht würde, klärt Karlsruhe uns auf (Rn. 186).

1500 Kommunen in Deutschland dürften dies anders sehen, wissen sie doch nicht, wie sie eine rechtssichere transparente Genehmigungsvergabe durchführen sollen. Ohne vom Gesetzgeber zumindest rudimentär festgelegte Auswahlkriterien, die sich an der Zielsetzung des Staatsvertrages und nicht an individuellen Härtefällen orientieren, wird – wie im Bereich der Sportwetten – eine dem Gleichheitssatz entsprechende Genehmigungsvergabe zwingend scheitern. Der Härtefall in der Person eines Interessenten kann niemals ein dem Gleichheitssatz entsprechendes Auswahlkriterium sein.

Die Lösung aus Karlsruhe: Gerichte als Reparaturbetrieb der Verwaltung und des Gesetzgebers. Zitat:

„Soweit das behördliche Auswahlverfahren im Einzelfall den genannten Rahmen nicht beachtet oder sonst individuellen Rechtspositionen der Spielhallenbetreiber nicht zureichend Rechnung trägt, steht ihnen verwaltungsgerichtlicher und – gegebenenfalls nach Rechtswegerschöpfung – auch verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz offen.“

Klasse Tipp, wird so gemacht!

Alles letztlich halb so wild. Zwar ist die Ehre des Menschen unantastbar. Die brauchbaren Rechte folgen aber aus dem AEUV und werden vom unabhängigen EuGH bewahrt. Sie genießen Anwendungsvorrang und sind unmittelbar anwendbar. Und sie werden sich auch hier durchsetzen. Der Gerichtshof hat jüngst die Begründungsvoraussetzungen für Beschränkungen der Grundfreiheiten – und um solche handelt es sich der Binnenmarktrelevanz auch im Verhältnis zu rein inländischen Spielhallenbetreibern – unmissverständlich klargestellt. In der Entscheidung Deutsche Parkinson Vereinigung/ZBUW hat der Gerichtshof ausgeführt, dass es den „nationalen Behörden obliegt, die für einen Eingriff erforderlichen Beweise in jedem Einzelfall beizubringen. Die Rechtfertigungsgründe, auf die sich ein Mitgliedstaat berufen kann, müssen daher von einer Untersuchung zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von diesem Mitgliedstaat erlassenen Maßnahmen sowie von genauen Angaben zur Stützung seines Vorbringens begleitet sein. Ein nationales Gericht muss somit, wenn es eine nationale Regelung darauf prüft ob sie zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen nach Art. 36 AEUV gerechtfertigt ist, mithilfe statistischer Daten, auf einzelne Punkte beschränkter Daten oder andere Mittel objektiv prüfen, ob die von dem betreffenden Mitgliedstaat vorgelegten Beweise bei verständiger Würdigung die Einschätzung erlauben, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung der verfolgten Ziele geeignet sind, und ob es möglich ist, diese Ziele durch Maßnahmen zu erreichen, die den freien Warenverkehr weniger einschränken.“ Auf die Behörden und Gerichte kommt mithin viel Arbeit zu.

Kontakt:
Blume Ritscher Nguyen Rega Rechtsanwälte


Rechtsanwalt Rolf Karpenstein
Gerhofstraße 38
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Tel.: 040/3550300
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Online: www.raeblume.de  


Bundesverfassungsgericht
zur Grundrechtsbindung öff. Unternehmen

Beschluss vom 19. Juli 2016 - 2 BvR 470/08 (Auszug)
aa) In privatrechtlichen Organisationsformen geführte Unternehmen, die vollständig im Eigentum des Staates stehen (öffentliche Unternehmen), sind unmittelbar an die Grundrechte gebunden. r eine bloß mittelbare Berücksichtigung der Grundrechte im Verhältnis öffentlicher Unternehmen zu Grundrechtsberechtigten im Privatrechtsverkehr ist daher kein Raum. 25
(1) Art. 1 Abs. 3 GG ordnet die umfassende Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt an. Die Grundrechte gelten nicht nur für bestimmte Bereiche, Funktionen oder Handlungsformen staatlicher Aufgabenwahrnehmung, sondern binden die staatliche Gewalt umfassend und insgesamt (BVerfGE 128, 226 <244>). Der Staat und andere Träger öffentlicher Gewalt können im Rahmen ihrer Zuständigkeiten zwar auch am Privatrechtsverkehr teilnehmen. Sie handeln dabei jedoch stets in Wahrnehmung ihres dem Gemeinwohl verpflichteten Auftrags (vgl. BVerfGE 128, 226 <244 f.="">). Ihre unmittelbare Bindung an die Grundrechte hängt daher weder von der Organisationsform ab, in der sie dem Bürger gegenübertreten, noch von der Handlungsform. 26
(a) Die Wahl der Organisationsform hat keine Auswirkungen auf die Grundrechtsbindung des Staates oder anderer Träger öffentlicher Gewalt. Das gilt nicht nur dann, wenn sie ihre Aufgaben unmittelbar selbst oder mittelbar durch juristische Personen des öffentlichen Rechts erfüllen, sondern auch dann, wenn sie auf privatrechtliche Organisationsformen zurückgreifen. Das gilt auch für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen des Privatrechts, solange sie diese beherrschen (vgl. BVerfGE 128, 226 <246 f.="">). In diesen Fällen trifft die Grundrechtsbindung nicht nur die dahinterstehende Körperschaft des öffentlichen Rechts, sondern auch unmittelbar die juristische Person des Privatrechts selbst (vgl. BVerfGE 128, 226 <245>). 27
Vor diesem Hintergrund können sich der Staat und andere Träger öffentlicher Gewalt grundsätzlich selbst nicht auf die Grundrechte berufen (vgl. BVerfGE 21, 362 <370>; 61, 82 <100 ff.="">; 68, 193 <205 ff.="">; 75, 192 <200>). Auch juristische Personen des Privatrechts, die im Alleineigentum des Staates stehen oder von diesem beherrscht werden, sind grundsätzlich nicht grundrechtsberechtigt (vgl. BVerfGE 56, 54 <79 f.="">; 128, 226 <245 ff.="">; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. Mai 1989 - 1 BvR 705/88 -, juris, Rn. 2 ff.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Mai 2009 - 1 BvR 1731/05 -, juris, Rn. 16 f.). 28
(b) Die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt gilt auch unabhängig von den gewählten Handlungsformen und den Zwecken, zu denen sie tätig wird. Sobald der Staat oder andere Träger öffentlicher Gewalt eine Aufgabe an sich ziehen, sind sie bei deren Wahrnehmung an die Grundrechte gebunden. Dies gilt auch, wenn sie insoweit auf das Zivilrecht zurückgreifen. Eine Flucht aus der Grundrechtsbindung in das Privatrecht mit der Folge, dass der Staat unter Freistellung von Art. 1 Abs. 3 GG als Privatrechtssubjekt zu begreifen wäre, ist ihm verstellt (BVerfGE 128, 226 <245>). 29