Donnerstag, 26. Oktober 2017

BVerfG: zu Unrecht angenommene Eilzuständigkeit verstößt gegen das grundgesetzlich geschützte Recht auf den gesetzlichen Richter

Aktenzeichen:   1 BvR 1510/17
Normen:           § 155 SGG, Art 101 GG

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde wegen zu Unrecht angenommener Eilzuständigkeit des Senatsvorsitzenden

Das BVerfG hat entschieden, dass Gerichte gegen das grundgesetzlich geschützte Recht auf den gesetzlichen Richter verstoßen, wenn sie eine Entscheidung in einer nur für dringende Fälle ausnahmsweise gesetzlich vorgesehenen Besetzung treffen, ohne dass die Dringlichkeit offensichtlich ist oder zumindest im Beschluss dargelegt wird.

Das LSG Berlin-Potsdam hatte einen Eilantrag des Beschwerdeführers, ihm Berufsausbildungsbeihilfe vorläufig zu gewähren, unter Aufhebung der zunächst stattgebenden Entscheidung des Sozialgerichts durch den Vorsitzenden des Senats allein statt in regulärer Besetzung abgelehnt. Ein bei der Bundesagentur für Arbeit vom Beschwerdeführer gestellter Antrag auf Gewährung von Berufsausbildungsbeihilfe wurde abgelehnt, ein hiergegen gerichteter Widerspruch zurückgewiesen, da der Beschwerdeführer nicht förderungsfähig sei. Hiergegen klagte der Beschwerdeführer und beantragte auch vorläufigen Rechtsschutz.
Das Sozialgericht hatte die Bundesagentur daraufhin verpflichtet, dem Beschwerdeführer bis zur Entscheidung in der Hauptsache vorläufig Berufsausbildungsbeihilfe dem Grunde nach zu gewähren. Auf die Beschwerde der Bundesagentur hatte das LSG Berlin-Potsdam durch den mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Beschluss den Beschluss des Sozialgerichts aufgehoben und den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt. Die Entscheidung wurde durch den Vorsitzenden des Senats "in entsprechender Anwendung von § 155 Abs. 2 Satz 2 SGG", der in dringenden Fällen eine Entscheidung des Vorsitzenden allein ermöglicht, getroffen. Eine Begründung für die entsprechende Anwendung der Norm erfolgte nicht. Vielmehr wurde lediglich inhaltlich darauf eingegangen, weshalb dem Antragsteller kein Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe zustehe.

Die Verfassungsbeschwerde hatte vor dem BVerfG Erfolg.

Wesentliche Erwägungen des BVerfG:

1. Das Recht auf den gesetzlichen Richter enthält auch objektives Verfassungsrecht; der Grundsatz dient der Sicherung der Rechtsstaatlichkeit im gerichtlichen Verfahren. Es muss festgelegt werden, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welche Richter zur Entscheidung jedes Streitfalles berufen sind. An diese Regelungen sind die Gerichte gebunden. Sie dürfen sich nicht über sie hinwegsetzen, sondern haben von sich aus über deren Einhaltung zu wachen. Darüber hinaus haben die Rechtssuchenden einen Anspruch darauf, dass der Rechtsstreit von ihrem gesetzlichen Richter entschieden wird, und können daher die Beachtung der Zuständigkeitsordnung fordern und deren Missachtung als Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 101 GG im Wege der Verfassungsbeschwerde rügen.

2. Unter Anlegung dieser bereits durch das BVerfG in früheren Entscheidungen vorgegebenen Maßstäbe wurde der Beschwerdeführer durch den Beschluss des Landessozialgerichts seinem gesetzlichen Richter entzogen. Eine Dringlichkeit, die entgegen der regulären Besetzung des Senats für das Beschlussverfahren mit einem Vorsitzenden und zwei weiteren Berufsrichtern eine Entscheidung allein durch den Vorsitzenden zulässt, ist weder offenkundig noch wird sie in dem angefochtenen Beschluss dargelegt.

Im Zeitpunkt der Fassung des angefochtenen Beschlusses war die Sache nach Eingang aller wesentlichen Schriftsätze und der Akten sowie Ablauf einer Wiedervorlagefrist jedenfalls seit zwei Wochen entscheidungsreif, so dass kein Grund dafür ersichtlich ist, dass in diesem Zeitraum die weiteren Senatsmitglieder oder deren Vertreter nicht beteiligt werden konnten. Sollte tatsächlich ein atypischer Fall der Verhinderung vorgelegen haben, hätte es einer entsprechenden Begründung bedurft. § 155 Abs. 2 Satz 2 SGG, der eine Entscheidung allein durch den Vorsitzenden eines Senats ermöglicht, ist eine Ausnahmevorschrift, die eine sorgsame, einzelfallbezogene und zurückhaltende Anwendung erforderlich macht.

Gegen eine Dringlichkeit, die eine Entscheidung unter Abweichung von der regulären Besetzung des Senats erlauben würde, spricht zudem, dass es dem Vorsitzenden möglich gewesen wäre, auf den entsprechend gestellten Antrag der Antragsgegnerin hin die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts durch einstweilige Anordnung auszusetzen. Dies wäre ohne Beteiligung der weiteren Senatsmitglieder möglich gewesen, hätte einer eventuellen Dringlichkeit abgeholfen und die Entscheidung über die Beschwerde durch den Senat in der regulären Besetzung offen gehalten, zumal auch eine ungeklärte sozialrechtliche Rechtslage gegen eine Alleinentscheidung durch den Vorsitzenden sprach und mit der angenommenen Dringlichkeit zumindest abzuwägen war.

Quelle: Pressemitteilung des BVerfG Nr. 93/2017 v. 26.10.2017