Donnerstag, 29. September 2011

Zu den Urteilen des Wettbewerbssenats beim BGH vom 28.9.2011

Ein Artikel von Rechtsanwalt Rolf Karpenstein

Der Bundesgerichtshof hat in mehreren Urteilen vom 28.9.2011 Unterlassungsklagen von Lottogesellschaften der Bundesländer gegen Sportwettanbieter, die sich auf die Dienstleistungsfreiheit und auf eine sog. DDR-Genehmigung berufen, unter Hinweis auf § 4 Abs. 4 Glücksspielstaatsvertrag (Internetverbot) für begründet erklärt. Die Klagen rügen Sportwettangebote aus der Zeit vor der Fussball-Weltmeisterschaft 2006.

I.

Die Heranziehung des § 4 Abs. 4 GlüStV an Stelle des monopolistischen Ausschlusses (§ 10 Abs. 2 und 5 iVm § 4 Abs. 1 GlüStV) verwundert schon im Ansatz. Der Staatsvertrag regelt nicht den Vertrieb privater Wettanbieter, sondern schließt sie vom deutschen Markt vollständig aus. Kein Gesetzgeber regelt den Vertriebsweg einer ohnehin verbotenen und nicht genehmigungsfähigen Dienstleistung. Das Internetvertriebsverbot wurde nicht als Eingriffsnorm für staatliche Übergriffe in private – nach deutschem Recht von vornherein illegale (§ 4 Abs. 1 GlüStV iVm § 10 Abs. 2 und 5) – Sportwettangebote in den Staatsvertrag aufgenommen. Es sollte im Anschluss an das Sportwettenurteil des BVerfG den durch den Staatsvorbehalt bewirkten Eingriff in Grundrechte und Grundfreiheiten privater Anbieter rechtfertigen, indem das staatliche Monopolangebot entkommerzialisiert und systematisch und kohärent auf die Bekämpfung von Suchtgefahren ausgerichtet wird.

Diese grundrechtsschützende Funktion des § 4 Abs. 4 GlüStV hatte das BVerwG in seinen drei Urteilen vom 24.11.2010 (dort Rn. 26 bzw. 30 ff) zutreffend gesehen und wörtlich ausgeführt, dass die Vermarktungsbeschränkungen des GlüStV "nicht die dem Parlamentsvorbehalt unterworfene Regelung der Grundrechtsausübung privater Sportwettenanbieter oder -Vermittler betreffen. Sie regeln nur das Angebot der nicht grundrechtsfähigen staatlichen oder staatlich beherrschten Monopolträger." Zwar lavierte sich der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in seinen Urteilen vom 1. Juni 2011 unter neuem Vorsitz an dieser richtigen Auslegung des GlüStV vorbei, indem er auf seine gesetzliche Bindung (§ 137 II VwGO) an das Verständnis des GlüStV durch die Vorinstanz verwies (BVerwG, 8 C 5.10 Rn. 10 ff). Beim BGH besteht diese Bindung indessen nicht. Vielmehr ist es ihm sogar untersagt, in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen obersten (deutschen) Gerichtshofs abzuweichen, ohne den Gemeinsamen Senat anzurufen (Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung). Die Pressemitteilung des BGH ist vor diesem Hintergrund missverständlich. Seine rechtliche Beurteilung deckt sich nur mit dem scharf kritisierten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 1.6.2011 in der Sache 8 C 5.10 (dazu Reichert, Isa-Guide Law, Nachricht v. 11.8.2011, T. Wächter, WRP 2011, 1278) nicht aber mit der Beurteilung des GlüStV durch das Bundesverwaltungsgericht in den Rechtssachen 8 C 13, 14 und 15.09.

Mit Spannung wird daher allseits den Urteilsgründen des BGH entgegengesehen, die unter Verstoß gegen § 310 Abs. 2 ZPO am Verkündungstermin leider nicht vorlagen. Noch ist nicht ersichtlich, wie der BGH nachvollziehbar erklären wird, dass er von den drei Urteilen des 8. Senats beim Bundesverwaltungsgericht vom 24.11.2010 ohne Anrufung des Gemeinsamen Senats abweicht. Bislang wurde weder von Seiten der Gerichte noch von Seiten der Bundesländer plausibel erklärt, wie ohne ein Tätigwerden des Gesetzgebers eine an die Monopolträger gerichtete Vermarktungsbeschränkung, die den durch das Monopol bewirkten Eingriff in die Grundrechte privater Anbieter verhältnismäßig gestalten soll, in eine "Ersatzeingriffsgrundlage" umgewandelt werden kann, wenn sich der monopolistische Ausschluss als ungerechtfertigt erweist. Dem Gesetzgeber zu unterstellen, er habe eine "Ersatzeingriffsnorm" für den Fall vorgesehen, dass der Anwendung des Monopols das Unionsrecht entgegensteht, liegt ersichtlich fern.

Auf das Bundesverfassungsgericht kann sich der BGH für die These, das Internetvertriebsverbot habe je nach Belieben der Gerichte und Behörden zwei Funktionen gleichzeitig – grundrechtsschützend zur Rechtfertigung des Monopols und grundrechtsnegierend für den Fall der Unanwendbarkeit des Monopols – jedenfalls nicht stützen. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Sportwettenurteil nicht verlangt, die Rechte privater Anbieter durch ein Internetvertriebsverbots zu beschränken. Es hatte postuliert, dass sich der Staat hinsichtlich seiner Werbung und auch durch den Verzicht auf den Vertriebskanal Internet entkommerzialisieren muss, wenn er ein Monopol mit der Suchtgefahr zu rechtfertigen gedenkt.

II.

Den nur mit Tenor verkündeten Urteilen ist naturgemäß nicht zu entnehmen, wie der BGH damit umgeht, dass die Europäische Kommission die Anwendung des weit verstandenen § 4 Abs. 4 GlüStV auf private Anbieter als nicht gerechtfertigten Verstoß gegen das höherrangige Unionsrecht sieht. Der I Senat beim BGH kennt das anhängige Vertragsverletzungsverfahren. Im Kartellbeschluss vom 14.8.2008 (KVR 54/07) heißt es in Rn. 120 vielsagend: "Die Kommission hält … das Verbot des § 4 Abs. 4 GlüStV für unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht und hat deswegen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet." Wer gedacht hatte, dass die Auffassung der obersten Aufsichtsbehörde der Europäischen Union und die Vorlagepflicht bei den letztinstanzlichen deutschen Gerichten eine Rolle spielt, wird also einmal mehr eines Besseren belehrt. An der unionsrechtlichen Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof sind im Bereich des Glücksspiels nur die aufrechten unteren Instanzen interessiert. Weil es davon mehrere gibt, ist es wahrscheinlich, dass sich – wie z. B. im der Sache Winner-Wetten – irgendwann der EuGH zu den unionsrechtlichen Fragen äußert, die Gegenstand der BGH-Urteile vom 28.9.2011 und des BVerwG-Urteils vom 1.6.2011 gewesen sind. Als sicher erscheint, dass die Rechtsfindung des EuGH dann wieder einmal von derjenigen der oberen deutschen Gerichte abweichen wird. Denn der EuGH geht bei der Auslegung der Dienstleistungsfreiheit im Zusammenhang mit Glücksspiel keineswegs floskelhaft davon aus, dass deren Suchtgefahren durch die Nutzung des Vertriebskanals Internet verstärkt werden (EuGH, Zeturf; Dickinger & Öhmer). Er stellt deshalb auch bei einem Verbot des Vertriebskanals Internet (durch ein Monopol) wie schon in der Zeturf-Entscheidung klar, dass eine besondere Gefahrenverstärkung von dem Mitgliedstaat vor den Tatsacheninstanzen nachgewiesen werden muss. Floskeln können diesen tatsächlichen Nachweis kaum ersetzen.

III.

Ob der BGH in den Urteilen zu den Wettbewerbsverfahren ausreichend würdigen wird, dass nach EuGH (Zeturf, Rn. 59 – 63) die nachvollziehbare tatsächliche Vermutung besteht, dass auch die staatliche Glücksspielanbieter erwerbswirtschaftlich (fiskalisch) tätig sind, was die Rechtfertigung des staatlichen Eingriffs in die Dienstleistungsfreiheit ausschließt (EuGH, Zenatti, Rn. 35 f; BVerwG, 8. C 5.10, Rn. 35 Mitte), bleibt abzuwarten. Vor den Tatsacheninstanzen jedenfalls hatten die Lottogesellschaften diese tatsächliche Vermutung nicht entkräftet. Und die Äußerungen der Landespolitik in den aktuellen Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des GlüStV lassen ebenso wie die Tatsache, dass die Lottogesellschaften ihre Monopolstellung bei Sportwetten über das Wettbewerbsrecht durchsetzen, wenig Zweifel, dass die wettbewerbsrechtliche Inanspruchnahme fiskalischen Zielen dient und nicht der systematischen und kohärenten Bekämpfung der Suchtgefahr. Das wird – dies nur am Rande – natürlich auch durch den Umstand belegt, dass alle Unterlassungsklagen, die der BGH jetzt als unionsrechtlich gerechtfertigt ansieht, aus der Zeit vor dem deutschen Sommermärchen stammen. Damals hatten nicht einmal die Länder selbst eine systematische und kohärente Glücksspielpolitik behauptet, sondern gerade begonnen, am GlüStV zu laborieren.

IV.

Ob die vollständig abgefassten Urteilsgründe eine nachvollziehbare Begründung für die Nichtvorlage und die Rechtfertigung des Eingriffs in die Verbotsnorm des Artikels 56 AEUV liefern, erscheint auch unter einem anderen Aspekt fraglich. Ein Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit im Bereich des Glücksspiels ist nur gerechtfertigt, wenn auch die gesamte Glücksspielpraxis des Staates (in Ergänzung zur rechtlichen Ausgestaltung) systematisch und kohärent allein auf die Bekämpfung von Suchtgefahren ausgerichtet ist. Wie auch das Bundesverwaltungsgericht hervorhebt (8 C 5.10, a.a.O), scheidet die Rechtfertigung eines Internetvertriebsverbots aus, wenn der Staat in Wahrheit Glücksspiele mit erwerbswirtschaftlicher Zielrichtung anbietet oder wenn er – wie gegenüber dem BGH durch Beispiele von Internetwerbung des DLTB nachgewiesen wurde – eine emotionale Werbung für staatliches Glücksspiel betreibt, die daran anknüpft, dass die Einnahmen für Aktivitäten im Allgemeininteresse verwendet werden. Das alles kann der BGH im Zeitpunkt seiner Entscheidung, also im Zeitpunkt seines Verstoßes gegen das Verbot des Artikels 56 AEUV, denklogisch nicht beurteilen. Er ist keine Tatsacheninstanz und darf nicht von Amts wegen diejenigen Tatsachen ermitteln, die eine Rechtfertigung der Verletzung der Verbotsnorm des Artikels 56 AEUV ausnahmsweise rechtfertigen könnten. Der BGH kann nur auf einen Sachverhalt zurückgreifen, den ihm die Vorinstanzen – ersichtlich defizitär – Jahre zuvor geliefert haben. Seine Urteile haben deshalb keine aktuelle wettbewerbsrechtliche Aussagekraft, sondern allenfalls bezogen auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung der jeweiligen Verfahren. Diese liegen Jahre zurück.

Dennoch bleibt ein Beigeschmack. Wenn ohne belastbare tatsächliche Feststellungen zur aktuellen Systematik und Kohärenz der deutschen Glücksspielpolitik mit Wirkung für die Gegenwart und die Zukunft in die Grundfreiheiten eingegriffen wird, wird das der Dienstleistungsfreiheit kaum gerecht. Staatliche Verstöße gegen Artikel 56 AEUV sind nur unter sehr strengen Voraussetzungen und nur ausnahmsweise dann gerechtfertigt, wenn der eingreifende Staat die zwingende Notwendigkeit des Eingriffs sowie nachweist, dass er bundesweit eine systematische und kohärente Glücksspielpolitik ohne jede fiskalische Motivation betreibt. Über diesen tatsächlichen Nachweis verfügte der BGH bezogen auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht. Im Gegenteil lagen dem BGH unzählige wettbewerbsrechtliche Entscheidungen deutscher Gerichte vor, die Verstöße des DLTB gegen die eigenen Vermarktungsbeschränkungen zum Gegenstand haben und damit die Inkonsistenz der Glücksspielpolitik der Länder belegen.

Der Blick auf das aktuelle tatsächliche Werbeverhalten der staatlichen Anbieter, auf ihre aktuelle wahre Motivation für die restriktive deutsche Glückspielpolitik und auf die bevorstehenden und schon begonnenen gesetzlichen Änderungen, die keinerlei Bedarf für ein auf private Anbieter anwendbares Internetvertriebsverbot sehen, hätte dem Bundesgerichtshof also eine tatsächliche Situation offenbart, die eine Rechtfertigung der Anwendung eines Internetvertriebsverbots ausschließt. Das deutsche Revisionsrecht hat dem BGH diesen Blick zwar verwehrt. Steht aber das deutsche Revisionsrecht tatsächlich über dem Unionsrecht?
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BGH auf Konfrontationskurs zum EuGH?

BGH I ZR 93/10 stellte am 28. September 2011 unter der Rn. 30 fest:
Die Vorschrift des § 4 Abs. 4 GlüStV steht mit dem Unionsrecht in Einklang.
(Nach § 4 Abs. 4 GlüStV ist das Veranstalten und Vermitteln von Glücksspielen im Internet verboten)

Die Rechtsprechung des EuGH, Gambelli u.a. Rs C-243/01 vom 06.11.2003 Rn 53, 54) Carmen Media Group (C-46/08, Rn 100) vom 8. September 2010 sowie die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, Zeturf und Dickinger/Ömer – nach denen ein pauschales Internetverbot dem europäisches Unionsrecht entgegen steht, wurde übergangen.

Erst wenn bewiesen wird, dass die Nutzung des Internets die mit dem Glücksspiel verbundenen Gefahren "verstärkt", dürfe, nach der Rechtsprechung des EuGH eine Ausschließlichkeitsregelung erlassen und damit die Veranstaltung und Werbung im Internet unterbunden werden. Die deutsche Rechtsprechung muss sich an die Vorgaben des EuGH halten und den konkreten - empirischen - Beweis antreten, dass die vermeintlichen Gefahren real existieren und nicht nur ins Blaue hinein behauptet werden. (vgl. u.a. EuGH-Urteil vom 30. Juni 2011 - Zeturf C-212/08, Rn 81)

Aus meiner Sicht war es auch dem BGH verwehrt durchzuentscheiden – er war verpflichtet die Frage eines "eigenständigen Internetverbots" entweder dem EuGH vorzulegen oder den Entscheidungen Gambelli, Carmen Media Group, Zeturf
und Dickinger/Ömer zu folgen.

Entsprechend den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, ist der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Es stellt einen Entzug des gesetzlichen Richters dar, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EG nicht nachkommt (vgl. BVerfGE 73, 339 <366>; 82, 159 <192>; stRspr). 1 BvR 230/09 Rn 15. Das BVerfG, (1 BvR 230/09) stellte am 25.2.2010 fest, dass der EuGH als gesetzlicher Richter i. S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entzogen wird, „wenn das nationale Gericht eine eigene Lösung entwickelt, die nicht auf die bestehende Rechtsprechung des EuGH zurückgeführt werden kann und auch nicht einer eindeutigen Rechtslage entspricht“.

S
elbstgestricktes Europarecht durch heimische Gerichte ist damit verfassungswidrig. Entsprechend darf das nationale Gericht nur selbst entscheiden, wenn die Beantwortung der europarechtlichen Frage „offenkundig“ ist. Davon darf es bei einer unvollständigen EuGH-Rechtsprechung nur dann ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass dies auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den EuGH so ist. so Prof. Dr. Gregor Thüsing (NJW Editorial 26/2010)

Das BVerfG stellte den uneingeschränkten Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber deutschem Gesetzesrecht fest: (2 BvR 225/69 vom 09.06.1971, BVerfGE 31, 145; 2 BvR 687/85 vom 08.04.1987, BVerfGE 75, 223; 2 BvR 1210/98; BVerfG 2 BvR 2661/06 vom 6.7.2010,Rn 58 ff, PM)
Zu einer eigenen Entscheidung über die Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht sind nationale Gerichte - gleich welcher Instanz - nicht befugt. EuGH 22.10.1987, Rs 314/85, Foto-Frost, Slg. 1987, 4199. s.u.a. EuGH-Urteil vom 18. Juli 2007 (AZ: C-119/05) Das VG Arnsberg spricht in seinem Urteil sogar von einer Missachtung des europäischen Anwendungsvorranges.

Hinsichtlich der Nichtanwendung nationaler Gesetze wegen Gemeinschaftsrechtswidrigkeit sind die nationalen Gerichte zu deren Nichtanwendung jedoch nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. (s. VG Berlin, Urteile VG 35 A 108.07 und 35 A 15.08, so auch VG Freiburg, Urteil vom 16. April 2008 – 1 K 2683/07 –, zitiert nach juris, Rn. 27; Bay. Verwaltungsgerichtshof vom 03.04.2009). Auf diese Bedeutung hat auch der BGH am 14.2.2008 hingewiesen. Quelle

EuGH-Urteil (C-617/10)
Ein nationales Gericht, das einen Widerspruch von nationalem Recht zur GRC ortet, ist „gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede (. . .) entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste“. (vgl. Rn 45)

Rn 44 Folglich regelt das Unionsrecht nicht das Verhältnis zwischen  der  EMRK  und  den  Rechtsordnungen  der  Mitgliedstaaten  und  bestimmt  auch  nicht, welche  Konsequenzen  ein  nationales  Gericht  aus  einem  Widerspruch  zwischen  den  durch  die EMRK gewährleisteten Rechten und einer nationalen Rechtsvorschrift zu ziehen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. April 2012, Kamberaj, C-571/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 62).

Rn 45 Was sodann die Konsequenzen betrifft, die das nationale Gericht aus einem Widerspruch zwischen Bestimmungen seines innerstaatlichen Rechts und den durch die Charta verbürgten Rechten zu ziehen  hat,  so  ist  dieses  Gericht,  das  im  Rahmen  seiner  Zuständigkeit  die  Bestimmungen  des Unionsrechts anzuwenden hat, nach ständiger Rechtsprechung gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede– auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, Slg. 1978, 629, Randnrn. 21 und 24, vom 19. November 2009, Filipiak, C-314/08, Slg. 2009, I-11049, Randnr. 81, sowie vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C-188/10 und C-189/10, Slg. 2010, I-5667, Randnr. 43).

Rn 46 Mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen ist nämlich jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis unvereinbar, die  dadurch  zu  einer  Schwächung  der  Wirksamkeit  des  Unionsrechts  führt,  dass  dem  für  die Anwendung  dieses  Rechts  zuständigen  Gericht  die  Befugnis  abgesprochen  wird,  bereits  zum Zeitpunkt  dieser  Anwendung  alles  Erforderliche  zu  tun,  um  diejenigen  innerstaatlichen Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernisfür die volle Wirksamkeit der Unionsnormen  bilden  (Urteil  Melki  und  Abdeli,  Randnr.  44  und  die  dort  angeführte Rechtsprechung).


Carmen Media Group Ltd. (C-46/08) v. 08. September 2010
Rn 71
Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 49 EG dahin gehend auszulegen ist, dass, wenn ein regionales staatliches Monopol auf Sportwetten und Lotterien errichtet wurde, mit dem das Ziel verfolgt wird, Anreize zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen zu vermeiden und die Spielsucht zu bekämpfen, und ein nationales Gericht sowohl feststellt,
– dass andere Arten von Glücksspielen von privaten Veranstaltern, die über eine Erlaubnis verfügen, betrieben werden dürfen, als auch,
– dass in Bezug auf andere Arten von Glücksspielen, die nicht unter das Monopol fallen und zudem ein höheres Suchtpotenzial als die dem Monopol unterliegenden Spiele aufweisen, die zuständigen Behörden eine zur Entwicklung und Stimulation der Spieltätigkeiten geeignete Politik der Angebotserweiterung betreiben, um insbesondere die aus diesen Tätigkeiten fließenden Einnahmen zu maximieren,
das nationale Gericht berechtigten Anlass zu der Schlussfolgerung haben kann, dass ein solches Monopol nicht geeignet ist, die Erreichung des mit seiner Errichtung verfolgten Ziels dadurch zu gewährleisten, dass es dazu beiträgt, die Gelegenheiten zum Spiel zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Bereich in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen. Dass die Glücksspiele, die Gegenstand des genannten Monopols sind, in die Zuständigkeit der regionalen Behörden fallen, während für die anderen Arten von Glücksspielen die Bundesbehörden zuständig sind, ist dabei unerheblich.
Rn 100 Im Ausgangsfall betrifft das streitige Verbot nicht die Vermarktung einer bestimmten Art von Glücksspielen, sondern einen bestimmten Vertriebskanal für Glücksspiele, nämlich das Internet.

Kommentar zum EuGH-Urteil vom 30. Juni 2011 - Zeturf C-212/08

EuGH verschärft Anforderungen an staatliche Glücksspielmonopole

- EuGH macht strenge Vorgaben für gerichtliche Kontrollen des Glücksspielrechts
- Internet darf als Vertriebsform nicht ohne weiteres beschränkt werden.

Mit der Dickinger/Ömer - Entscheidung des EuGH (Rs C-347/09 vom 15.09.2011) wurde diese Rechtsprechung bestätigt und weiter konkretisiert. Der EuGH führt aus, dass das Internet wie der stationäre Vertrieb behandelt werden muss. Besondere Auflagen, die nur im Online-Bereich gelten, sind demnach unzulässig! (vgl. Gambelli u.a. Rs C-243/01 vom 06.11.2003 Rn 53, 54)

Das BVerfG führt in seinem Sportwettenurteil (BVerfGE 115, 276 ff = NJW 2006, 161 ff) unter Rn. 144 aus, dass die Anforderungen des Verfassungsrechts parallel zu den vom EuGH formulierten Vorgaben verlaufen. Das Übergehen der Rechtsprechung des EuGH führt somit zur Verfassungswidrigkeit!

"Rn 144:
Insofern laufen die Anforderungen des deutschen Verfassungsrechts parallel zu den vom Europäischen Gerichtshof zum Gemeinschaftsrecht formulierten Vorgaben. Nach dessen Rechtsprechung ist die Unterbindung der Vermittlung in andere Mitgliedstaaten mit dem Gemeinschaftsrecht nur vereinbar, wenn ein Staatsmonopol wirklich dem Ziel dient, die Gelegenheiten zum Spiel zu vermindern, und die Finanzierung sozialer Aktivitäten mit Hilfe einer Abgabe auf die Einnahmen aus genehmigten Spielen nur eine nützliche Nebenfolge, nicht aber der eigentliche Grund der betriebenen restriktiven Politik ist (vgl. EuGH, Urteil vom 6. November 2003 - C-243/01 - Gambelli u.a., Slg. 2003, I-13076, Rn. 62). Die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts entsprechen damit denen des Grundgesetzes."


Europäischer Gerichtshof (EuGH)
Rechtsprechungsorgan der Europäischen Union

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist gemeinsamer Gerichtshof und höchstes Gericht der Europäischen Union. Seine Urteile sind für alle Gerichte und alle Bürger in der EU bindend.

Nationale Gesetze und Gerichtsurteile müssen der Rechtsprechung des EuGH angepasst werden.


Nationale Gerichte letzter Instanz sind sogar verpflichtet, beim EuGH Vorabentscheidungen einzuholen. So wird gewährleistet, dass Europarecht in allen EU-Ländern einheitlich ausgelegt wird. Der Gerichtshof wahrt auch die Grundrechte des Bürgers gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft, schützt ihn also gegen Missbrauch. Quelle

Vorlageverpflichtung nach Art. 267 AEUV (ehemals Art. 234 III des EG-Vertrags)
Artikel 43 des EG-Vertrags (Amsterdam konsolidierte Fassung)
Artikel 49 des EG-Vertrags (Amsterdam konsolidierte Fassung)

mehr:
Europäische Gerichtshof (EuGH)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, gelegentlich auch EuGHMR)
Europa - Das Portal der Europäischen Union - Gerichtshof der Europäischen Union

Der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten weiterlesen

Grundrechte in der Europäischen Union
Charta der Grundrechte und Allgemeine Rechtsgrundsätze
Von Professor Dr. Hans-Werner Rengeling
und Dr. Peter Szczekalla    (pdf-download)

Die EU-Grundrechtecharta: Anwendbarkeit und Auslegung     (pdf-download)

GRC Artikel 47 Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht   
Philipp Voet van Vormizeele     Schwarze, EU-Kommentar

Jürgen Meyer (Hrsg.): Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union.   (pdf-download)


lesen Sie auch folgenden Kommentar Zur BGH Pressemitteilung Nr.: 150/201 vom 28.9.2011

Mit dem Urteil (I ZR 93/10) vom 28.09.2011 hält der BGH auch zufallslastige 50-Cent Gewinnspiele für zulässig und stellt unter der Rn.: 66 fest: "Teilnahmeentgelte von höchstens 0,50 € sind glücksspielrechtlich unerheblich"

update:
Das Landgericht Bremen hat mit Urteil vom 10. Mai 2012 (Az: 9 O 476/12) das in Landesgesetzen fortgeführte Internetverbot des Ende 2011 ausgelaufenen Glücksspielstaatsvertrags (GlüStV) für unionsrechtswidrig und unanwendbar erklärt.