Aktenzeichen: 10 BV 10.2505
Rechtsquellen:
§ 1, § 4, § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3, § 10 Abs. 2 und 5 GlüStV;
Art. 2 AGGlüStV;
§§ 33c ff. GewO;
Art. 49, 56 AEUV (früher: Art. 43, 49 EG)
Hauptpunkte:
Vermittlung von Sportwetten;
Untersagungsverfügung;
maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit;
Dauerverwaltungsakt;
Erledigung des Unterlassungsgebots für vergangene Zeiträume;
staatliches Sportwettenmonopol;
unionsrechtlicher Anwendungsvorrang der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit;
Anforderungen des unionsrechtlichen Kohärenzgebots;
widersprüchliches Schutzkonzept;
Fortgeltung des glücksspielrechtlichen Erlaubnisvorbehalts;
Nachschieben von Ermessenserwägungen;
Wesensveränderung des ursprünglichen Verwaltungsaktes
Leitsätze:
1. Eine von der Behörde auf § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV gestützte Untersagungsverfügung ist rechtswidrig und ermessensfehlerhaft, soweit sie auf die unionsrechtswidrigen Staatsmonopolbestimmungen des § 10 Abs. 2 und 5 GlüStV und die danach generell fehlende Erlaubnisfähigkeit der Vermittlung von Sportwetten privater
Wettveranstalter gestützt ist.
2. Eine solche Untersagungsverfügung kann nicht mit der im Berufungsverfahren nachgeschobenen Begründung aufrechterhalten werden, der Betroffene besitze derzeit die nach § 4 Abs. 1 GlüStV erforderliche Erlaubnis für die Vermittlung von Sportwetten nicht und könne sie wegen bestehender bzw. vermutlicher Verstöße gegen materielle Erlaubnisvoraussetzungen auch gar nicht erhalten.
3. Einer derartigen Ergänzung der Ermessenserwägungen durch die Behörde im verwaltungsgerichtlichen Verfahren steht insbesondere die prozessrechtliche Nachbesserungsgrenze des § 114 Satz 2 VwGO entgegen (Anschluss an BVerwG vom 11.7.2011 Az. 8 C 11.10
Urteil des 10. Senats vom 12. Januar 2012
(VG München, Entscheidung vom 31. Juli 2008, Az.: M 22 K 07.1080)
Urteil:
I. Unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 31. Juli 2008 wird der Bescheid der Beklagten vom 19. Juli 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Oberbayern vom 18. Januar 2005 sowie des Bescheids der Beklagten vom 20. April 2006 und des Widerspruchsbescheids der Regierung von Oberbayern vom 12. März 2008 aufgehoben.
7 Gegen dieses Urteil hat der Kläger die vom Erstgericht zugelassene Berufung mit der Begründung eingelegt, das Verwaltungsgericht habe den anzulegenden Prüfungsmaßstab verkannt und zu Unrecht auf das rein formale Fehlen einer Erlaubnis für die Sportwettenvermittlung abgestellt. Die rechtliche und tatsächliche Ausgestaltung des staatlichen Glücksspiel- und Wettmonopols sei in vollem Umfang zu überprüfen. Den angefochtenen Bescheiden fehle es im Hinblick auf die ab 1. Januar 2008 geltende neue Rechtslage nach dem Glücksspielstaatsvertrag an einer aktuellen ordnungsgemäßen Begründung. Die Verfügung vom 20. April 2006 sei insoweit nicht ausreichend. Die Untersagungsanordnung sei auch nach der neuen Rechtslage rechtswidrig. Die einschlägigen Vorschriften des Glücksspielstaatsvertrags genügten weder den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in dessen Entscheidung vom 28. März 2006 noch den Anforderungen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Mit Blick auf Pferdewetten und die Glücksspiele in Spielbanken sowie in gewerblichen Spielhallen fehle insbesondere eine systematische und kohärente Glücksspielpolitik. Neben einem Verstoß gegen Art. 12 und Art. 2 Abs. 1 GG liege daher auch eine Verletzung der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit vor. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts müssten die entgegenstehenden nationalen Bestimmungen in ihrer Anwendung zurücktreten.
8 Der Kläger beantragt,
9 unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 31. Juli 2008 den Bescheid der Beklagten vom 19. Juli 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Oberbayern vom 18. Januar 2005 sowie des Bescheids der Beklagten vom 20. April 2006 und des Widerspruchsbescheids der Regierung von Oberbayern vom 12. März 2008 aufzuheben.
10 Hilfsweise:
Es wird festgestellt, dass die Untersagungsverfügung gemäß den o.g. Bescheiden bis zum Zeitpunkt des Nachschiebens der Ermessenserwägungen mit Schriftsatz der Beklagten vom 23. Mai 2011 rechtswidrig war.
Weiter hilfsweise:
Es wird festgestellt, dass die Untersagungsverfügung gemäß den o.g. Bescheiden bis 31. Dezember 2007 rechtswidrig war.
24 Dem hat der Kläger durch die zuletzt mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2011 vorgenommene nochmalige Klarstellung seines Klagebegehrens Rechnung getragen und eine Aufhebung des Unterlassungsgebots (Verwaltungsakts) aufgrund einer Beurteilung der gegenwärtigen Sach- und Rechtslage und damit bei sachgerechter Auslegung (§§ 86 Abs. 3, 88 VwGO) allein mit Wirkung für die Zukunft (ex nunc) beantragt. Dass der Kläger darüber hinaus keine Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme für die Vergangenheit begehrt (hat), ergibt sich letztlich auch aus seinen nur hilfsweise, d.h. für den Fall des Misserfolgs des Hauptantrags (eventuale Klagehäufung), in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsanträgen. Im dargelegten Umfang ist seine Anfechtungsklage statthaft sowie auch sonst zulässig und begründet. Denn das angefochtene Unterlassungsgebot ist zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
30 2.2.2. Die Erteilung einer Erlaubnis an den Kläger für die Vermittlung nicht erlaubter privater Wettangebote (d.h. solche außerhalb des staatlichen Sportwettenmonopols) ist zwar gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 10 Abs. 2 und Abs. 5 GlüStV verboten. Dem durch diese Vorschriften in Bayern statuierten Veranstaltungsmonopol für Sportwetten und der dadurch bedingten Einschränkung der Vermittlungstätigkeit des Klägers steht jedoch höherrangiges Recht entgegen.
33 2.2.2.2. Wie schon in seiner das Eilverfahren des Klägers nach § 80 Abs. 7 VwGO betreffenden Entscheidung (vgl. BayVGH vom 21.3.2011 Az. 10 AS 10.2499
36 Gleichwohl müssen die Beschränkungen durch die Mitgliedstaaten den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit genügen, was die nationalen Gerichte zu prüfen haben (EuGH vom 15.9.2011 Rs. C-347/09 RdNr. 50). In diesem Zusammenhang obliegt es dem Mitgliedstaat, der sich auf ein Ziel berufen möchte, mit dem sich eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen lässt, dem Gericht, das über diese Frage zu entscheiden hat, alle Umstände darzulegen, anhand derer dieses Gericht sich vergewissern kann, dass die Maßnahme tatsächlich den sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebenden Anforderungen genügt (vgl. EuGH vom 15.9.2011 Rs. C-347/09 RdNr. 54 unter Hinweis auf seine Entscheidung vom 8.9.2010 Rs. C-316/07 u.a. - Markus Stoß u.a.). Weiter ist dabei insbesondere zu beachten, dass eine nationale Regelung nur dann geeignet ist, die Verwirklichung des geltend gemachten Ziels zu gewährleisten, wenn sie dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, sich im Lichte insbesondere der konkreten Anwendungsmodalitäten der betreffenden restriktiven Regelung zu vergewissern, dass sie tatsächlich dem Anliegen entspricht, die Gelegenheiten zum Spiel zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Bereich in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen (EuGH vom 15.9.2011 Rs. C- 347/09 RdNr. 56 m.w.N. seiner Rspr.).
37 Damit hat der Gerichtshof aber verbindlich klargestellt, dass eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit nicht schon dann als verhältnismäßig und damit gerechtfertigt angesehen werden kann, wenn sie (irgend-)einen Beitrag zur Begrenzung der Wetttätigkeiten leistet. Vielmehr muss dieser Beitrag zur Erreichung des angestrebten (Schutz-)Ziels (hier: Begrenzung der Wetttätigkeiten) „in kohärenter und systematischer Weise“ erfolgen, also innerhalb eines kohärenten, d.h. konzeptionell und inhaltlich aufeinander bezogenen (vgl. dazu Streinz in Streinz, EUV / AEUV, Kommentar, 2. Aufl. 2012, Art. 7 AEUV RdNr. 4; Schorkopf in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar Bd. I, Art. 7 AEUV RdNr. 11) und systematischen Regelungszusammenhangs. Zwar ist der jeweilige Mitgliedstaat nicht verpflichtet, in sämtlichen Glücksspielsektoren dieselbe Politik zu verfolgen; das Kohärenzgebot ist kein Uniformitätsgebot. Es verlangt auch keine Optimierung der Zielverwirklichung in dem Sinne, dass sie die von ihr angestrebten Ziele vollständig erreicht oder zu erreichen anstrebt (vgl. BVerwG vom 11.7.2011 Az. 8 C 11.10
38 Daraus ergibt sich zum einen, dass das Ziel, die Einnahmen der Staatskasse zu maximieren oder mit den Einnahmen aus Glücksspielen gemeinnützige Tätigkeiten zu finanzieren, nicht das eigentliche Ziel einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs, sondern allenfalls eine nützliche Nebenfolge sein darf (vgl. EuGH zuletzt vom 15.9.2011 Rs. C-347/09 RdNrn. 55 und 61 m.w. Rspr.-nachweisen; BVerwG vom 11.7.2011 Az. 8 C 11.10
39 Zum anderen darf die in Rede stehende Regelung nicht durch die Politik in anderen Glücksspielsektoren in der Weise konterkariert werden, dass dort eher darauf abgezielt wird, zur Teilnahme an diesen anderen Spielen zu ermuntern, als darauf, die Spielgelegenheiten zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Bereich in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen (vgl. EuGH vom 8.9.2010 Rs. C - 46/08 - Carmen media - RdNr. 68; BVerwG vom 11.7.2011 Az. 8 C 11.10
40 Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinen jüngsten glücksspielrechtlichen Entscheidungen vom 1. Juni 2011 (Az. 8 C 2.10, 8 C.4.10 und 8 C 5.10) sowie vom 11. Juli 2011 (Az. 8 C 11.10) die zuletzt genannte Anforderung des unionsrechtlichen Kohärenzgebots hinsichtlich der Zielrichtung des gerichtlichen Prüfprogramms konkretisiert und präzisiert (Deiseroth, jurisPR-BVerwG 18/2011 Anm. 2, II.2. S. 5). Danach dürfen in anderen Glücksspielsektoren - auch wenn für sie andere Hoheitsträger desselben Mitgliedstaats zuständig sind - nicht Umstände durch entsprechende Vorschriften herbeigeführt oder, wenn sie vorschriftswidrig bestehen, strukturell geduldet werden, die - sektorübergreifend - zur Folge haben, dass die in Rede stehende Regelung zur Verwirklichung der mit ihr verfolgten Ziele tatsächlich nicht beitragen kann, so dass ihre Eignung zur Zielerreichung aufgehoben wird (vgl. BVerwG vom 11.7.2011 Az. 8 C 11.10
41 Soweit darin teilweise die Bestätigung des Erfordernisses einer gerichtlichen, sektorübergreifenden „Folgenbetrachtung“ und „Feststellung von Interdependenzen“ zwischen insbesondere gewerblich bewirtschafteten und monopolisierten Glücksspielbereichen mit der Konsequenz gesehen bzw. hergeleitet wird, dass die Eignung und damit Rechtfertigung der Beschränkung einer unionsrechtlichen Grundfreiheit durch die Errichtung eines staatlichen Monopols in einem Glücksspielsektor erst dann entfällt, wenn diese Beschränkung zur Erreichung der in § 1 GlüStV genannten Ziele nicht mehr beitragen kann, wobei die Möglichkeit der Zweckerreichung genügen soll (so Hecker, DVBl 2011, 1130/1132 ff.; in diesem Sinne auch der Vertreter des öffentlichen Interesses im Verfahren in seiner Stellungnahme vom 12.8.2011, S. 7 ff., Bl. 213 ff. d. VGH-Akte), vermag dem der Senat nicht zu folgen. Denn eine mit Blick auf die Geeignetheit einer Maßnahme im verfassungsrechtlichen Sinn (vgl. Hecker, a.a.O., S. 1134) derart verengte Betrachtung wird nach Auffassung des Senats den oben dargelegten Auslegungsgrundsätzen des Gerichtshofs zum unionsrechtlichen Kohärenzgebot nicht (mehr) gerecht und würde im Ergebnis letztlich wieder zu einer (verschleierten) sektoralen Betrachtung, der der Gerichtshof aber gerade eine Absage erteilt hat, zurückkehren.
42 Gemessen an diesen Grundsätzen fehlt es den das staatliche Sportwettenmonopol normierenden Bestimmungen des Glücksspielstaatsvertrags an der erforderlichen unionsrechtlichen Kohärenz.
44 Der Senat geht - wie bereits in seiner Eilentscheidung in dieser Streitsache (vgl. BayVGH vom 21.3.2011 Az. 10 AS 10.2499
45 Für diesen Bereich des in der Spielverordnung geregelten Automatenspiels hat das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der zu beachtenden Kohärenzanforderungen zuletzt (BVerwG vom 11.7.2011 Az. 8 C 11.10
46 „Die Absicht des Gesetzgebers, einen bestimmten Glücksspielbereich zu liberalisieren, zwingt nicht schon für sich genommen zu der Annahme, das mit der Monopolregelung im Sportwettenbereich verfolgte Ziel lasse sich damit nicht mehr erreichen. Wird jedoch eine solche Liberalisierung trotz vergleichbaren oder höheren Suchtpotentials als im Monopolbereich nicht durch ausreichende Maßnahmen zum Spieler- und Jugendschutz ausgeglichen, kann dies zur Folge haben, dass das Ziel des Monopols konterkariert wird. Deshalb hätte der Verwaltungsgerichtshof prüfen müssen, ob das Suchtpotential des Automatenspiels mindestens gleich groß wie das der Sportwetten ist, und bejahendenfalls, ob die zum Spieler- und Jugendschutz getroffenen Maßnahmen ausreichen. Dabei hätte er auch die tatsächlichen Auswirkungen der Liberalisierung und der möglichen Folgewirkungen auf den gesamten Glücksspielbereich, mithin auch die Sportwetten, berücksichtigen und klären müssen, inwieweit dadurch die Geeignetheit der Monopolregelung im Bereich der Sportwetten in Frage gestellt
wird.“
47 Auch unter Berücksichtigung dieser Maßgaben wird durch die Regelungen des Glücksspiels an gewerblichen Geldspielautomaten und vor allem angesichts ihrer konkreten Anwendungsmodalitäten sowie der in diesem Bereich geduldeten Praxis das der Errichtung des staatlichen Sportwettenmonopols zugrunde liegende Ziel, Anreize zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen zu vermeiden und die Spielsucht zu bekämpfen, in einer Weise und einem Umfang konterkariert, dass dieses Ziel mithin nicht mehr wirksam verfolgt und das Monopol im Hinblick auf Art. 49 EG (jetzt: Art. 56 AEUV) auch nicht mehr als gerechtfertigt angesehen werden kann (vgl. EuGH vom 8.9.2010 Rs. C - 46/08 - Carmen Media - RdNr. 68). Diese Beurteilung des Senats beruht auf folgenden Umständen und Feststellungen:
48 Von den Gesamtumsätzen (im Sinne aller Spieleinsätze) auf dem deutschen regulierten Glücksspielmarkt in Höhe von ca. 24 Milliarden Euro im Jahr 2009 entfallen auf das Marktsegment der Geldspielautomaten ca. 35%, auf den deutschen Lotto- und Toto-Block ca. 29% sowie auf die Spielbanken ca. 28,5%. Der auf das Segment der Geldspielautomaten entfallende Umsatzanteil ist dabei von 20,3% im Jahr 2002 über 24,9% im Jahr 2006 kontinuierlich auf 34,9% im Jahr 2009 gestiegen (vgl. dazu Daten/Fakten/Glücksspiel der deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V., http://www.dhs.de - Auszug aus dem dhs Jahrbuch Sucht 2011; von vergleichbaren Zahlen geht im Übrigen auch das OVG NRW in seiner Entscheidung vom 29.9.2011 Az. 4 A 17/08
49 Der danach wirtschaftlich bedeutendste und umsatzstärkste Sektor des deutschen regulierten Glücksspielmarkts (der Geldspielautomaten) weist zudem ein besonders hohes Suchtpotential auf. Für die Suchtentwicklung ist ein Gefüge aus individuellen Faktoren, Umgebungsfaktoren und suchtmittelbezogenen Faktoren wie Ereignisfrequenz, Mindestspieldauer und Einsatz- und Gewinnmöglichkeiten entscheidend. Im Suchthilfesystem stellen Spieler an Geldautomaten die größte Gruppe der Betroffenen dar; ihr Anteil hat sich in der ambulanten Suchthilfe seit 2006 stetig erhöht. Bei mehr als 85% der wegen Spielsucht eine Suchthilfeeinrichtung aufsuchenden Klienten und Klientinnen wurde eine Abhängigkeit von Geldspielautomaten in Spielhallen und Gaststätten gemäß der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) diagnostiziert (Drogen- und Suchtbericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung vom Mai 2011, Nr. 6 - pathologisches Glücksspiel - S. 75; vgl. auch Dhom, a.a.O., S. 398). Bei von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in den Jahren 2007 und 2009 durchgeführten Repräsentativbefragungen zum Glücksspielverhalten der 16- bis 65-jährigen Bevölkerung in Deutschland hat sich ergeben, dass der Anteil der Befragten, die in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung irgendeines der 19 insgesamt erfragten Glücksspiele gespielt hatten, mit 55% (2007) bzw. 53,8% (2009) annähernd konstant geblieben ist, signifikante Zuwächse sich jedoch bei Lotto „6 aus 49“ (35, 5% vs. 40,0%) und bei den Geldspielautomaten (2,2% vs. 2,7%) ergeben haben; bei letzteren ist danach insbesondere der verhältnismäßig starke Anstieg bei den 18- bis 20-jährigen jungen Männern hervorzuheben (5,9% vs. 15,3%; vgl. Drogen- und Suchtbericht der Drogenbeauftragten, Mai 2011, S. 75), einer Personengruppe, die als besonders gefährdet für glücksspielbedingte Fehlanpassungen gilt (vgl. Hayer, SuchtAktuell 2010, 47/51). Nach einer Studie des Instituts für Therapie- und Gesundheitsforschung in München (IFT) im Rahmen der Evaluation der Spielverordnung sind 42% der Langzeitspieler in Spielhallen bzw. 30% der Langzeitspieler in Gaststätten pathologische Spieler, wobei aufgrund der Anlage der Studie der Anteil der Viel- und Langzeitspieler unter den in Spielhallen und Gaststätten angetroffenen Befragten überproportional vertreten war (vgl. Drogen- und Suchtbericht der Drogenbeauftragten, Mai 2011, S. 76; zu weiteren empirischen Befunden zum erhöhten Suchtpotential von Geldspielautomaten vgl. auch Hayer, SuchtAktuell 2010, 47/50 f. sowie Dhom, a.a.O., S. 398). Eine jüngst durchgeführte umfangreiche Studie „Pathologisches Glücksspielen und Epidemiologie (PAGE)“ der Universität Greifswald hat für die Gesamtgruppe der 14- bis 64-jährigen Prävalenzquoten von 0,35% für pathologisches und von 0,31% für problematisches Glücksspielverhalten ergeben; das Risiko der Diagnose des pathologischen Glücksspielens war dabei am höchsten für das Spielen an Geldspielautomaten (vgl. Drogen- und Suchtbericht der Drogenbeauftragten, Mai 2011, S. 76 und 82 unter Bezugnahme auf die Ergebnisse der PAGE-Studie). Knapp eine halbe Million Menschen in Deutschland erfüllt die DSM-IV-Kriterien für die Diagnose pathologisches Glücksspielen, ca. 800.000 Menschen kann man als problematische Spieler bezeichnen (drei bis vier DSM-Kriterien) und etwa drei Millionen erfüllen ein bis zwei Kriterien für problematisches Glücksspielen (Auszug aus Deutsches Ärzteblatt 2011, 108(9) – www.aerzteblatt.de/v4/archiv - „Glücksspiel: Hohes Suchtrisiko durch Spielautomaten“ unter Bezugnahme auf Ergebnisse der PAGE-Studie).
50 Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse steht für den Senat fest, dass mit den gewerblichen Geldspielautomaten ein Glücksspielsegment besteht, das von privaten Veranstaltern, die über eine entsprechende gewerberechtliche Erlaubnis verfügen (vgl. §§ 33c ff. GewO i.V.m. der hierzu erlassenen Verordnung über Spielgeräte und andere Spiele mit Gewinnmöglichkeiten (Spielverordnung) -SpielV- i.d.F. vom 27.1.2006, BGBl I S. 280), betrieben werden darf, und dass dieses Glücksspielsegment ein signifikant höheres Suchtpotential als die dem staatlichen Monopol unterliegenden Sportwetten aufweist (vgl. EuGH vom 8.9.2010 Rs. C-46/08 -Carmen Media- Ls. 2. 1. und 2. Spiegelstrich).
51 Weiter lässt sich nach Auffassung des Senats trotz beabsichtigter künftiger Änderungen der Spielverordnung und geplanter landesgesetzlicher Neuregelungen bezüglich Spielhallen auch derzeit (noch) die Feststellung treffen, dass die zuständigen Behörden hinsichtlich des Segments der gewerblichen Geldspielautomaten eine Politik verfolgen, die eher darauf abzielt, zur Teilnahme an diesen Spielen zu ermuntern, als darauf, die Spielgelegenheiten zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Bereich in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen (vgl. EuGH vom 8.9.2010 Rs. C-46/08 - Carmen Media - RdNr. 68). Der Senat geht dabei weiter davon aus, dass für den Befund einer derartigen Politik der Angebotsausweitung im Sinne der zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht die Feststellung erforderlich ist, dass durch die in diesem Bereich vorhandene gesetzliche Regelungskonzeption bewusst und zielgerichtet eine der Suchtprävention zuwider laufende „Expansionsstrategie“ verfolgt wird (vgl. BayVGH vom 21.3.2011 Az. 10 AS 10.2499
53 Überdies hat die gewerbliche Automatenindustrie die Auslegungsmöglichkeiten und Spielräume der geänderten Spielverordnung ausgenutzt und deren Vorgaben teilweise in systematischer Weise ausgehebelt, indem die neueren Automaten die Möglichkeit bieten, Geldeinsätze oder Geldgewinne in Punktezahlen umzuwandeln (und umgekehrt), um so eine höhere Gewinnchance zu suggerieren und Restriktionen der Spielverordnung zu umgehen (vgl. im Einzelnen Hayer, a.a.O., S. 48; Dhom, a.a.O., S. 398; Dürr, GewArch 2011, 99/101 ff.; Abschlussbericht „Evaluierung der Novelle der SpielV“, S. 150 ff.).
58 Damit ist aber im Ergebnis festzustellen, dass die zuständigen Behörden in Bezug auf Automatenspiele, obwohl diese ein höheres Suchtpotential aufweisen als Sportwetten, eine Politik der Angebotsausweitung betrieben haben und (noch) betreiben, die eher darauf abzielt, zur Teilnahme an diesen anderen Spielen zu ermuntern, als darauf, die Spielgelegenheiten zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Bereich in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen (vgl. EuGH vom 8.9.2010 Rs. C-46/08 - Carmen Media - RdNrn. 67 und 68). Weiter feststellen lässt sich aber auch, dass im Segment der gewerblichen Glücksspielautomaten die mit der Fünften Änderungsverordnung verbundene (teilweise) Liberalisierung nicht durch ausreichende Maßnahmen zum Spieler- und Jugendschutz ausgeglichen worden ist und dass dies zur Folge hat, dass das Ziel des Monopols, Anreize zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen zu vermeiden und die Spielsucht zu bekämpfen, damit konterkariert wird (vgl. BVerwG vom 11.7.2011 Az. 8 C 11.10
59 Die Geeignetheit und damit die Rechtfertigung der Monopolregelung als Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) im Bereich der Sportwetten wird aber, wie oben dargelegt, nicht erst dann in Frage gestellt, wenn diese Beschränkung auch bezogen auf dieses Teilsegment und den dortigen Konsumentenkreis tatsächlich nichts mehr beitragen kann (in diesem Sinne auch OVG NRW vom 29.9.2011 Az. 4 A 17/08
eine objektive Berufszugangsschranke gesetzt wird, während in einem wirtschaftlich sehr viel bedeutenderen Glücksspielsektor mit hohem Suchtpotential die Erteilung gewerberechtlicher Erlaubnisse an private Anbieter vorgesehen ist, ist nicht nur isoliert die Eignung einer Beschränkung in einem Teilsegment (im Sinne eines möglichen Beitrags zur Zielerreichung), sondern die Verhältnismäßigkeit und damit Rechtfertigung der Beschränkung insgesamt in den Blick zu nehmen. Dementsprechend hat der Gerichtshof bei einer Ausgangssituation wie vorstehend dargelegt auch festgestellt, dass dann die Rechtfertigung im Hinblick auf Art. 49 EG (jetzt: Art. 56 AEUV) nicht mehr angenommen werden kann (vgl. EuGH vom 8.9.2010 Rs. C-46/08 - Carmen Media - RdNr. 68).
60 Anderweitige Anhaltspunkte oder Umstände dafür, dass das staatliche Sportwettenmonopol trotz des festgestellten widersprüchlichen Schutzkonzepts gleichwohl geeignet und damit rechtfertigungsfähig im Sinne der betroffenen Grundfreiheit wäre, das verfolgte Schutzziel wirksam und in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen, wurden dem Gericht weder von der Beklagten noch vom Vertreter des öffentlichen Interesses im Verfahren dargelegt.
61 Weitergehende Prüfungen oder Ermittlungen im Rahmen einer „Folgenabschätzung“ zu Interdependenzen zwischen den einzelnen Glücksspielsektoren, wie sie teilweise in der Literatur (vgl. Hecker, a.a.O., S. 1134) propagiert und auch vom Vertreter des öffentlichen Interesses im vorliegenden Verfahren für erforderlich gehalten wurden, sind nach dem unionsrechtlichen Kohärenzgebot in der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs konturierten Form nicht erforderlich. Dies würde letztlich auch eine „verschleierte Rückkehr“ zu einer rein sektoralen Kohärenzprüfung bedeuten (so auch OVG NRW vom 29.9.2011 Az. 4 A 17/08
62 2.2.3. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts führt dazu, dass im Kollisionsfall jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts ohne Weiteres unanwendbar wird. Dass der unionsrechtliche Anwendungsvorrang nur das in § 10 Abs. 2 und Abs. 5 GlüStV normierte staatliche Sportwettenmonopol und nicht gleichzeitig auch die Rechtsgrundlage für die streitbefangene Untersagungsverfügung in § 9 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 Nr. 3 GlüStV sowie den in § 4 Abs. 1 GlüStV geregelten Erlaubnisvorbehalt erfasst, entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. BayVGH vom 21.3.2011 Az. 10 AS 10.2499
63 Die Verfügung der Beklagten kann nach alledem in rechtmäßiger Weise nicht auf § 9 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 Nr. 3 GlüStV in Verbindung mit den unionsrechtswidrigen Staatsmonopolbestimmungen des § 10 Abs. 2 und 5 GlüStV und die danach generell fehlende Erlaubnisfähigkeit der Vermittlung von Sportwetten privater Wettveranstalter gestützt werden.
64 2.2.4. Die streitbefangene Untersagungsverfügung kann aber auch nicht unabhängig von der Anwendbarkeit des Sportwettenmonopols mit der Begründung aufrechterhalten werden, der Kläger besitze auch derzeit die (nunmehr gemäß § 4 Abs. 1 GlüStV) erforderliche Erlaubnis für die Vermittlung von Sportwetten nicht und könne sie wegen bestehender bzw. vermutlicher Verstöße gegen die materiellen Erlaubnisvoraussetzungen auch gar nicht erhalten.
65 Die Frage, ob die nach § 4 Abs. 1 Satz 1 GlüStV erforderliche Erlaubnis voraussichtlich erteilt werden müsste, hat der Senat (auch) in seiner den Kläger betreffenden Entscheidung nach § 80 Abs. 7 VwGO (BayVGH vom 21.3.2011 Az. 10 AS 10.2499
66 2.2.4.1. Dass eine (umfassende) glücksspielrechtliche Untersagungsverfügung bei Unanwendbarkeit der Bestimmungen des staatlichen Sportwettenmonopols nicht mit Blick auf das rein formale Fehlen der nach § 4 Abs. 1 Satz 1 GlüStV weiter erforderlichen Erlaubnis zur Vermittlung von Sportwetten an einen privaten Veranstalter aufrechterhalten werden kann, hat der Senat in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts bereits entschieden (vgl. BayVGH vom 21.3.2011 Az. 10 AS 10.2499
70 2.2.4.2.2. Unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte und des gesetzgeberischen Willens bei der Klarstellung des § 114 Satz 2 VwGO, aber auch zur Wahrung der Rechtseinheitlichkeit folgt der Senat nunmehr jedoch der Rechtsprechung des für das Glücksspielrecht zuständigen 8. Senats. Dieser sieht dann, wenn eine Untersagungsverfügung nicht mehr auf die fehlende Erlaubnisfähigkeit aufgrund des staatlichen Sportwettenmonopols, sondern auf nunmehr geltend gemachte Verstöße gegen formelle und materielle Erlaubnisvorschriften des GlüStV gestützt wird, offensichtlich die Identität des Verwaltungsaktes oder dessen Wesensgehalt nicht mehr als gewahrt (vgl. BVerwG vom 11.7.2011 Az. 8 C 11.10
71 Der Gesetzgeber wollte nach dem Sechsten VwGO-Änderungsgesetz mit § 114 Satz 2 VwGO lediglich entsprechend und im Umfang der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts klarstellen, dass die Verwaltung auch noch während des gerichtlichen Verfahrens materiell-rechtlich relevante Ermessenserwägungen in den Prozess einführen kann. Dies ergibt sich schon aus der Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung. Im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung sollte § 114 VwGO folgender Satz 2 angefügt werden: „Die Verwaltungsbehörde kann die Begründung des angefochtenen Verwaltungsakts noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen.“ (vgl. BT-Drs. 13/3993 S. 5). Der Rechtsausschuss des Bundestags hat dann jedoch die Empfehlung des Bundesrates aufgegriffen, in dieser Ergänzung des § 114 VwGO klarer zum Ausdruck zu bringen, dass es nicht um die Heilung formeller Begründungsmängel, sondern statt dessen um die Ergänzung materiellrechtlich relevanter Ermessenserwägungen geht. Dementsprechend wurde vom Rechtsausschuss die (neue) Formulierung vorgeschlagen, der der Gesetzgeber schließlich mit der aktuellen Fassung des § 114 Satz 2 VwGO gefolgt ist (vgl. BT- Drs. 30/3993 S. 21 und 13/5098 S. 8). Zur Begründung seines Vorschlags hat der Rechtsausschuss des Bundestags u.a. ausgeführt: Entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird klargestellt, dass die Verwaltung auch noch während des gerichtlichen Verfahrens materiell-rechtlich relevante Ermessenserwägungen in den Prozess einführen kann (vgl. BT-Drs.13/5098 S. 24). Etwaige Befürchtungen, eine solche Fassung der Vorschrift gestatte die Änderung des Verwaltungsaktes in seinem Wesensgehalt, hatte bereits der Bundesrat bei seinem Formulierungsvorschlag für unberechtigt erklärt (vgl. BT-Drs. 30/3993 S. 21).
72 Das Nachschieben von Gründen war auch bereits vor Inkrafttreten des § 114 Satz 2 VwGO nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in weitem Umfang, jedoch nur bis zur Grenze der „Wesensveränderung“ des Verwaltungsaktes zulässig (vgl. BVerwG vom 5.5.1998 Az. 1 C 17.97
73 Das Bundesverwaltungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung die Grenzen der Zulässigkeit eines Nachschiebens von Gründen dahingehend beschrieben, dass dies nur dann zulässig sei, wenn die nachträglich vorgebrachten Gründe schon bei Erlass des streitigen Verwaltungsakts vorlagen, dieser durch sie nicht in seinem Wesen geändert und der Kläger nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG vom 14.10.1965 BVerwGE 22, 215/218; vom 27.1.1982 BVerwGE 64, 356/358; vom 5.5.1998 BVerwGE 106, 351/363). Dem zeitlichen Moment kann dabei vorliegend jedoch schon deshalb keine entscheidende Bedeutung zukommen, weil die in der früheren Rechtsprechung aufgestellte Regel, es komme bei Anfechtungsklagen stets auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung an (vgl. dazu Schmidt in Eyermann, VwGO, Kommentar, 13. Aufl. 2010, § 113 RdNr. 45 m.w.N.), unabhängig davon, dass sie heute in dieser Allgemeinheit auch nicht mehr aufrecht erhalten wird, jedenfalls bei einem Dauerverwaltungsakt nicht greift; nachträgliche Veränderungen der Sach- oder Rechtslage nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens sind hier gerade zu berücksichtigen. Auch die Grenze einer unzulässigen Beeinträchtigung in der Rechtsverteidigung des Betroffenen sieht der Senat hier nicht als auschlaggebend an, weil der Betroffene jedenfalls Gelegenheit hat, auf derartige veränderte Umstände durch eine Erledigungserklärung oder auch eine Feststellungsklage angemessen prozessual zu reagieren (vgl. dazu Rennert, a.a.O., § 114 RdNr. 92).
74 Anders verhält es sich jedoch mit der Grenze der „Wesensveränderung“ des Verwaltungsakts. Denn der Austausch einer Begründung bzw. das Nachschieben von Ermessenserwägungen soll nicht dazu führen, dass dem Kläger im Rahmen seiner Anfechtungsklage ein völlig anderer Verfahrensgegenstand aufgedrängt wird (vgl. dazu Schenke, VerwArch Bd. 90, 232/251). Geht man weiter zutreffend davon aus, dass sich die Wesensbestimmung eines Verwaltungsaktes nicht allein am Entscheidungssatz (d.h. seinem Tenor) festmachen lässt, sondern bei Ermessensverwaltungsakten auch der Ermessensbetätigung der Behörde entscheidender Anteil an der Wesensbestimmung zukommt (vgl. Schenke, a.a.O., S. 252 und 256 ff. m.w.N.), sprechen gewichtige Gründe dafür, dass die angefochtene Untersagungsverfügung bei einem nunmehrigen Abstellen der Behörde auf das Fehlen individueller Erlaubnisvoraussetzungen, die - bezogen auf Bayern - eigentlich von einer anderen Behörde in einem eigenständigen Verwaltungsverfahren zu prüfen wären, in seinem Wesen verändert und die Identität des angefochtenen Verwaltungsaktes dadurch entscheidend in Frage gestellt wird (so im Ergebnis auch BVerwG vom 11.7.2011 Az. 8 C 11.10
75 Das Nachschieben von Gründen durch die Beklagte im vorliegenden Fall kann auch nicht als Neuerlass einer entsprechenden Untersagungsverfügung unter konkludenter Rücknahme der ursprünglichen Verfügung verstanden werden. Denn eine diesbezügliche Willensbetätigung lässt sich den Äußerungen der Beklagten im Verfahren auch nicht ansatzweise entnehmen. Die von der Beklagten ergänzend herangezogenen Gründe für die Aufrechterhaltung ihrer Untersagungsverfügung können daher gegebenenfalls nur im Rahmen eines neuen Bescheids Berücksichtigung finden.
76 Nach alledem war das durch die Untersagungsverfügung angeordnete Unterlassungsgebot der Beklagten mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Auch die diesbezügliche Zwangsmittelandrohung hat damit insoweit keinen Bestand.
Quelle:
(Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 12. Januar 2012,
Az.: 10 BV 10.2505) (pdf-download)
Az.: 10 BV 10.2271) (Urteil in Auszügen)