Mittwoch, 2. März 2011

VG Arnsberg - Urteil vom 09. Februar 2011

Sportwettenvermittlung: Erlaubnisvorbehalt verstößt gegen höherrangiges Recht

- Entscheidungsgründe des Verwaltungsgerichts Arnsberg zu dem Urteil vom 09. Februar 2011 -

Das Verwaltungsgericht Arnsberg hat in einem durch die Kanzlei KARTAL Rechtsanwälte geführten Verfahren mit Urteil vom 09. Februar 2011 (Az. 1 K 2979/07) entschieden, dass die Untersagung der Veranstaltung, Durchführung und Vermittlung von Sportwetten durch private Anbieter nicht auf die Nichterfüllung der Erlaubnispflicht und damit auf § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV gestützt werden kann.

Wörtlich heißt es: "Denn die normierte Erlaubnispflicht verstößt gegen höherrangiges Recht und ist namentlich mit der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 und 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV – (vormals Art. 43 und 49 EG) nicht vereinbar" (S.5).

Das Gericht gelangt zu dieser Entscheidung aufgrund der erforderlichen Zusammenschau der im Glücksspielstaatsvertrag und im Ausführungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen zum Glücksspielstaatsvertrag normierten nordrhein-westfälischen Regelungen des staatlichen Sportwettenmonopols zugunsten staatlicher Veranstalter. Diese Regelungen schließen insbesondere die Möglichkeit der Sportwettenvermittlung durch private Anbieter aus, die für diese Tätigkeit eine Erlaubnis eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union erhalten haben.

Zur Begründung der Rechtswidrigkeit des staatlichen Sportwettenmonopols führt das Gericht die mangelnde Kohärenz auf und bezieht sich auf die Urteile des EuGH vom 8. September 2010, Rs. C-316/07 u.a. (Stoß u.a.). Diese Rechtsansicht untermauert die Kammer mit ausführlichen Darstellungen der tatsächlichen "Expansion" (S. 12) des Angebots im Bereich der Glücksspielautomaten (S. 8 ff.).

Sodann bemängelt das Gericht das behördliche Einschreiten trotz fehlender Möglichkeit als privater Vermittler in Nordrhein-Westfalen ein europarechtskonformes Erlaubnisverfahren für das Veranstalten und Vermitteln von Sportwetten durchführen zu können (S. 16). Somit könne dem privaten Vermittler keine generelle Unzuverlässigkeit und mangelnde Erlaubniswürdigkeit aufgrund eines nicht gestellten Antrags auf Erteilung einer Erlaubnis oder aufgrund eines Angebots von Internet- und Livewetten unterstellt und entgegengehalten werden (S. 17).

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Arnsberg steht schließlich im Einklang mit den aktuell verkündeten Entscheidungsgründen des Bundesverwaltungsgerichts der Urteile vom 24. November 2010. Das Gericht führt aus: "Die Auffassung, dass das Nichterfüllen der Erlaubnispflicht eine Untersagungsverfügung für sich betrachtet nicht rechtfertigt, liegt offenbar auch den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts (…) – 8 C 14.09 und 8 C 15.09 – zugrunde. Zwar hat das BVerwG in den Entscheidungsgründen hierzu nicht ausdrücklich Stellung genommen. Andernfalls hätte das BVerwG die Sachen jedoch nicht an das Berufungsgericht zurückverweisen können, sondern hätte die Klagen, wie im Verfahren 8 C 13.09 geschehen – abweisen müssen" (S. 16).

Im Ergebnis berücksichtigt das Verwaltungsgericht Arnsberg umfassend und den Vorrang des Unionsrechts wahrend die vorgenannten Entscheidungen des EuGH und des BVerwG. Nur diese getroffene Entscheidung wahrt den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit vollumfänglich und verhindert einen behördlichen Eingriff in die garantierte Dienstleistungsfreiheit aufgrund einer willkürlichen geltungserhaltenden Reduktion der Regelungen des Glücksspielstaatsvertrags.

Kontakt:
KARTAL Rechtsanwälte

Rechtsanwalt Damir Böhm
Friedenstr. 36 (Ecke Jöllenbecker Str.)
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VG Arnsberg · Urteil vom 9. Februar 2011 · 1 K 2979/07

Tenor

Die Ordnungsverfügung des Bürgermeisters der Beklagten vom 11. Dezember 2007 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen eine Untersagung der Vermittlung von Sportwetten.
Zum 13. November 2007 meldete die Klägerin das Gewerbe "Internetcafé, Vermittlung von Sportwetten, Sportinformation" für die Betriebsstätte D.--------straße, M. , bei der Beklagten an.
Nach Anhörung der Klägerin erließ der Bürgermeister der Beklagten die streitgegenständliche Ordnungsverfügung vom 11. Dezember 2007, mit der er - unter Anordnung der sofortigen Vollziehung - der Klägerin die Fortsetzung der Vermittlung von Sportwetten in ihrer Betriebsstätte mit sofortiger Wirkung untersagte und ihr aufgab, sämtliche auf die Annahme und Vermittlung von Sportwetten hinweisende Werbung zu entfernen bzw. unkenntlich zu machen. Für den Fall der Zuwiderhandlung nach Ablauf von zwei Wochen nach Zustellung drohte der Bürgermeister der Klägerin ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000 EUR an. Zur Begründung trug er vor, die von der Klägerin angebotenen Sportwetten seien unerlaubtes Glücksspiel im Sinne des § 284 Abs. 1 des Strafgesetzbuches (StGB). Die Klägerin besitze keine Erlaubnis nach dem Sportwettengesetz des Landes Nordrhein-Westfalen und könne, da dieses Gesetz ein staatliches Monopol begründe, eine solche Erlaubnis auch nicht erhalten.
Am 27. Dezember 2007 hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben und einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt. Zur Begründung trägt die Klägerin im Wesentlichen vor: Sie vermittle Sportwetten aktuell an den in Malta lizenzierten Veranstalter "Q. Limited". Zuvor habe sie an den maltesischen Veranstalter "T. Limited" vermittelt, davor an den österreichischen Anbieter "H. GmbH". Die Vermittlungstätigkeit stelle kein unerlaubtes Veranstalten eines Glücksspiels dar. Das nordrheinwestfälische Sportwettenrecht sei mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht - namentlich mit der Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 des EG-Vertrages (EG) - nicht vereinbar und dürfe daher nicht angewendet werden. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) sei eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit im Bereich der Vermittlung von Sportwetten nur zulässig, wenn diese Beschränkung aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls gerechtfertigt sei. Daran fehle es hier. Das Glücksspielmonopol diene allein der staatlichen Erzielung von Einnahmen. Folglich sei die von ihr - der Klägerin - ausgeübte Tätigkeit erlaubnisfrei zulässig.
Die Klägerin beantragt,
die Ordnungsverfügung des Bürgermeisters der Beklagten vom 11. Dezember 2007 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist auf die Begründung der angefochtenen Ordnungsverfügung und trägt ergänzend im Wesentlichen vor: Die Ordnungsverfügung habe dem bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Recht entsprochen und sei auch nach aktueller Gesetzeslage rechtmäßig. Weder die Klägerin noch der Wettveranstalter besäßen die erforderliche Erlaubnis. Daher handele es sich bei der Wettvermittlung um unerlaubtes Glücksspiel. Das gesetzlich verankerte Sportwettenmonopol sei verfassungsgemäß und mit den europarechtlichen Grundfreiheiten vereinbar.
Mit Beschluss vom 20. März 2008 - 1 L 1015/07 - hat die Kammer die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ordnungsverfügung vom 11. Dezember 2007 wiederhergestellt bzw. angeordnet. Die Kammer hat darin ausgeführt, dass dem behördlichen Einschreiten voraussichtlich die gesetzliche Grundlage fehle. Denn es spreche alles dafür, dass das staatliche Sportwettenmonopol ohne Möglichkeit der Zulassung privater Vermittler sowohl nach dem Sportwettengesetz NRW als auch nach dem zum 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Gesetz zur Ausführung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland vom 30. Oktober 2007 (GV NRW S. 445) gegen die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 43 und 49 EG verstoße. Rechtsmittel gegen den Beschluss hat die Beklagte nicht eingelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verfahrensakte und des von der Beklagten überreichten Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Gründe

Die Anfechtungsklage ist zulässig und begründet. Die angefochtene Ordnungsverfügung des Bürgermeisters der Beklagten vom 11. Dezember 2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
Dem ordnungsbehördlichen Einschreiten der Beklagten mangelt es an der gesetzlichen Grundlage. Insoweit kommt als lex specialis allein § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland (Glücksspielstaatsvertrag - GlüStV) in Betracht, der aufgrund des Gesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen zum Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in Deutschland vom 30. Oktober 2007 (GV NRW S. 445) zum 1. Januar 2008 in Kraft getreten ist. Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV kann die zuständige Behörde - hier die Beklagte - die Veranstaltung, Durchführung und Vermittlung unerlaubter Glücksspiele untersagen. Zwar sind die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt. Die Klägerin vermittelt über ihre Betriebsstätte in M. , D.--------straße , für die in Malta ansässige und dort als Wettveranstalter lizenzierte Firma "Q. Limited" Sportwetten. Bei diesen Sportwetten in der Form der Oddset-Wetten handelt es sich um unerlaubtes Glücksspiel im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 GlüStV, weil der Wettanbieter und Geschäftspartner der Klägerin eine Erlaubnis im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 GlüStV i.V.m. § 4 des Gesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen zur Ausführung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland (Glücksspielstaatsvertrag Ausführungsgesetz NRW - Glücksspielstaatsvertrag AG NRW -) nicht besitzt. Gleichwohl kann die Untersagungsverfügung auf die Nichterfüllung der Erlaubnispflicht und damit auf § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV nicht gestützt werden. Denn die normierte Erlaubnispflicht verstößt gegen höherrangiges Recht und ist namentlich mit der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 und 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV - (vormals Art. 43 und 49 EG) nicht vereinbar. Dies folgt aus einer insoweit erforderlichen Zusammenschau mit dem im Glücksspielstaatsvertrag und im Ausführungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen zum Glücksspielstaatsvertrag normierten nordrheinwestfälischen Sportwettenmonopol zugunsten staatlicher (öffentlichrechtlicher) bzw. von ihnen beherrschter Veranstalter ohne Möglichkeit der Zulassung privater Anbieter, insbesondere solcher Anbieter von Sportwetten, die für diese Tätigkeit eine Erlaubnis eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union (EU) erhalten haben.
Der EuGH hat entschieden, dass nationale Regelungen, die die Ausübung von Tätigkeiten im Glücksspielwesen verbieten, Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs nach den Art. 43 und 49 EG (jetzt: Art. 49 und 56 AEUV) darstellen, wenn der betreffende Mitgliedstaat (wie hier) keine Genehmigungen erteilt. Diese Beschränkungen müssen - in ihren konkreten Anwendungsmodalitäten - aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. Sie müssen darüber hinaus geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Auf jeden Fall dürfen sie nicht in diskriminierender Weise angewandt werden. Zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die Beschränkungen der Spieltätigkeiten rechtfertigen können, gehört u.a. die Vermeidung von Anreizen zu überhöhten Ausgaben für das Spielen.
Vgl. EuGH, Urteil vom 6. November 2003 - Rs. C-243/01 (Gambelli) -, Slg. 2003, S. I-13031, Rn. 48 f, 59 f, 65, 72, 75.
Den Mitgliedstaaten steht es zwar frei, die Ziele ihrer Politik auf dem Gebiet von Glücksspielen festzulegen und gegebenenfalls das angestrebte Schutzniveau genau zu bestimmen, jedoch müssen die von ihnen vorgeschriebenen Beschränkungen den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit genügen.
Vgl. EuGH, Urteil vom 13. September 2007 - Rs. C-260/04 (Kommission ./. Italien) -, Rn. 28 m.w.N.
Diese Anforderungen erfüllt der Glücksspielstaatsvertrag in der Ausformung, die er durch das nordrheinwestfälische Gesetz zur Ausführung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland gefunden hat, nicht.
Eine nationale Regelung ist nur dann geeignet, die Verwirklichung des geltend gemachten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen.
Vgl. EuGH, Urteil vom 8. September 2009 - Rs. C-42/07 (Liga Portuguesa) -, Rn. 61; Urteil vom 10. März 2009 - Rs. C-169/07 (Hartlauer) -, Rn. 55; Urteil vom 6. März 2007 - Rs. C-338/04 (Placanica) -, Rn. 53, m.w.N. aus der st. Rspr. des Gerichtshofes.
Angesichts des mit dem Glücksspielstaatsvertrag und dem dazu ergangenen nordrheinwestfälischen Ausführungsgesetz vorrangig verfolgten Ziels, die Bevölkerung vor den Gefahren der Glücksspielsucht und der mit Glücksspielen verbundenen Folge- und Begleitkriminalität zu schützen,
vgl. LT-Vorlage 14/0868, Entwurf des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland, Stand: 14.12.2006, Erläuterungen A II 2.2. (http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMV14-868.pdf?von=1&bis=0) sowie zum Glücksspielstaatsvertrag, dem Berliner Ausführungsgesetz und dem Niedersächsischen Glücksspielgesetz: Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 14. Oktober 2008 - 1 BvR 928/08 -, NVwZ 2008, 1338,
fehlt es an einer kohärenten und systematischen Begrenzung der Tätigkeiten im Bereich des Glücksspielwesens durch die in Nordrhein-Westfalen bzw. bundesweit geltenden Vorschriften. Der Europäische Gerichtshof fordert zur Rechtfertigung einer Beschränkung der Anzahl der Wirtschaftsteilnehmer mit dem Ziel der Bekämpfung der Spielsucht die kohärente Begrenzung von Tätigkeiten im Bereich des "Spiels".
Vgl. EuGH, Urteil vom 6. März 2007 - Rs. C-338/04 (Placanica) -, Rn. 53; Urteil vom 8. September 2010 - Rs. C-316/07 u.a. (Stoß u.a.) -, Rn. 98.
Damit hat er das Kohärenzerfordernis ausdrücklich über den Glücksspielsektor der "Sportwetten" hinaus auf das gesamte Glücksspielwesen erweitert. Der Kohärenzbegriff impliziert ein funktionales Übergreifen von Maßnahmen über die einzelnen Teilbereiche des Glücksspielwesens hinweg, soweit diese Maßnahmen auf dasselbe legitime Ziel gerichtet sind. Das einem einzelnen (staatlichen) Veranstalter eingeräumte Sportwettenmonopol stellt insoweit lediglich einen Bereich des als Ganzes zu betrachtenden nationalstaatlichen Glücksspielwesens dar.
Vgl. EFTA-Gerichtshof, Urteil vom 30. Mai 2007 - Rs. E-3/06 (Ladbrokes Ltd. ./. The Government of Norway) -, Rn. 45 und 52, unter Bezugnahme auf den EuGH, Urteil vom 6. November 2003 - Rs. C-243/01 (Gambelli) -; im Ergebnis wie hier: VG Schleswig, Beschluss vom 30. Januar 2008 - 12 A 102/06 -; zur Bedeutung der Kohärenzproblematik auch: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. Februar 2008 - 6 S 2082/07 -.
Unterwirft ein Mitgliedstaat einerseits einzelne Glücksspiele einem staatlichen Monopol, um Anreize zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen zu vermeiden und die Spielsucht zu bekämpfen, während er andererseits in Bezug auf nicht monopolisierte Glücksspiele eine Politik betreibt oder duldet, die eher darauf abzielt, zur Teilnahme an diesen anderen Spielen zu ermuntern, als darauf, die Gelegenheiten zum Spiel zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Spiel in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen, folgt daraus, dass das der Errichtung des Monopols zugrunde gelegte Ziel mit ihm (dem Monopol) nicht mehr wirksam verfolgt werden kann und es an der nötigen Rechtfertigung im Hinblick auf die Art. 43 und 49 EG (jetzt: Art. 49 und 56 AEUV) fehlt.
Vgl. EuGH, Urteil vom 8. September 2010 - Rs. C-316/07 u.a. (Stoß u.a.) -, Rn. 106 f.
So liegt es hier. Die für das Land Nordrhein-Westfalen maßgebliche rechtliche Ausgestaltung des Glücksspielwesens wird den Vorgaben des Kohärenzgebotes nicht gerecht, weil sie das legitime Ziel der Spielsuchtbekämpfung gerade nicht im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs systematisch verfolgt. Die einzelnen Bereiche des Glücksspielwesens sind in Deutschland verschieden geregelt. Lotto und Sportwetten sind ebenso wie der Betrieb von Spielbanken in NRW (vgl. § 3 des Gesetzes über die Zulassung öffentlicher Spielbanken im Land Nordrhein-Westfalen; GV NRW 2007 S. 450) dem Staatsmonopol vorbehalten; Pferdewetten (vgl. § 2 Abs. 1 des Rennwett- und Lotteriegesetzes in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 611-14, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Artikel 119 der Verordnung vom 31. Oktober 2006, BGBl. I S. 2407) und das ebenfalls bundesgesetzlich geregelte Automatenspiel dürfen dagegen von privater Seite veranstaltet werden (vgl. § 33c GewO). Hierbei zeigen insbesondere die Regelungen über das Glücksspiel an Spielautomaten, dass den Spielsuchtgefahren in Deutschland nicht kohärent und systematisch begegnet wird.
Ausschlaggebend für diese Würdigung ist zunächst, dass das Automatenspiel bekanntermaßen besonders suchtgefährdend ist. Die mit Abstand prozentual wie absolut häufigsten Fälle von Spielsucht betreffen die Besucher von Spielhallen und das Spiel an Glücksspielautomaten. In der Forschung wird für die Automatenspieler ein Anteil von mehr als 70 % an der Gesamtzahl der pathologisch Spielsüchtigen genannt.
Vgl. Meyer: Glücksspiel - Zahlen und Fakten, in: Jahrbuch Sucht 2010, hrsg. von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V., S. 120, 129 (http://wwwuser.unibremen.de/~drmeyer/index_dateien/000310S120ff.pdf). Siehe auch: Kalke u.a.: Glücksspiel-Forschung in Deutschland - Stand und Perspektiven, wonach sich der Anteil der Hilfe suchenden Geldautomaten-Glücksspieler "zwischen 79 Prozent und 94 Prozent" bewegt, während der entsprechende Anteil im Sportwettenbereich nur bei "ca. zehn Prozent" liegt (http://www.responsiblegaming.de/ media/fachbeitrr_ge/ Gluecksspielsucht-Forschung_in_Deutschland.pdf); Hayer: Geldautomaten und Suchtgefahren - Wissenschaftliche Erkenntnisse und suchtpolitischer Handlungsbedarf, in: SuchtAktuell1-2010, S. 47 (50 f) (http://www.sucht.de/tl_files/pdf/sucht_aktuell/ Heft_1_2010/hayer_sa_01-10.pdf). Einen Anteil von immerhin 69 % nennt Becker in: Häufigkeit der Glücksspielsucht in Deutschland, S. 6 (https://gluecksspiel.unihohenheim.de/fileadmin/einrichtungen/ gluecksspiel/Sucht/Gluecksspielsucht.pdf). Vgl. ferner VG Berlin, Beschluss vom 28. August 2009 - 35 L 335.09 -, Juris Rn. 19 ff mit weiteren Erkenntnissen.
Suchtfördernd beim Automatenspiel ist die rasche zeitliche Abfolge der Spiele an den Automaten. Durch die Novellierung der Verordnung über Spielgeräte und andere Spiele mit Gewinnmöglichkeit (Spielverordnung - SpielV) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Januar 2006 (BGBl. I S. 280) ist der zeitliche Abstand der Einzelspiele von zwölf auf fünf Sekunden verkürzt worden (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 SpielV), so dass seitdem 720 (zuvor nur 300) Spiele pro Stunde möglich sind.
Vgl. hierzu Marcks, in: Landmann-Rohmer, Gewerbeordnung, Stand: Juli 2010, SpielV Vorb. Rn. 1.
Dass die Verkürzung, wie in der Gesetzesbegründung (BR Drs. 655/05, S. 1, 23 ff) behauptet wird, dem Spielerschutz dienen soll, ist nicht nachvollziehbar.
Vgl. auch VG Braunschweig, Beschluss vom 10. April 2008 - 5 B 4/08 -, Juris Rn. 69; ferner VG Berlin, a.a.O., Rn. 12 ff.
Außerdem wurden mit der Novellierung der SpielV im Jahre 2006 die zulässigen Zahlen von Gewinnspielgeräten in Spielhallen und Gaststätten angehoben.
Vgl. auch hierzu Marcks, a.a.O.
In Anbetracht dieser Änderungen kann - auch wenn mit der novellierten SpielV einzelne dem Spielerschutz dienende Regelungen eingeführt wurden - keine Rede davon sein, dass die Vorschriften für das Automatenspiel maßgeblich durch das gesetzgeberische Anliegen bestimmt seien, die Gelegenheiten zum Spiel zu begrenzen.
Statistische Erhebungen zur Entwicklung des deutschen Geldspielautomatenmarktes belegen, dass die Neufassung der SpielV zu einer substantiellen Limitierung des Automatenspiels nichts beigetragen hat; im Gegenteil hat sich die Anzahl der Geldspielgeräte in Deutschland unter dem Regime der novellierten SpielV signifikant erhöht. Aus den Ergebnissen der vom Arbeitskreis gegen Spielsucht e.V. veröffentlichten aktuellen Untersuchung "Angebotsstruktur der Spielhallen und Geldspielgeräte in Deutschland - Stand 1.1.2010" (http://www.akspielsucht.de/pdf/Vorwort.pdf), an deren Richtigkeit zu zweifeln die Kammer keinen Anlass hat, folgt etwa, dass die Zahl der in Spielhallen und Gaststätten insgesamt betriebenen Geldspielgeräte bundesweit im Marktvergleich von 2006 auf 2010 um 27,41 % angestiegen ist; allein bezogen auf den Spielhallensektor ist eine Steigerung von sogar 47,52 % zu verzeichnen (S. 13). Die Zahlen für das Land Nordrhein-Westfalen sind kaum weniger deutlich; hier liegt der Zuwachs der Spielhallengeräte von 2006 auf 2010 bei 42,66 % (http://www.akspielsucht.de/pdf/Nordrhein-Westfalen.pdf). Dieser expansive Trend ist schon über mehrere Jahre fachwissenschaftlich beobachtet und publiziert worden (vgl. etwa Meyer: Glücksspiel - Zahlen und Fakten, jeweils in den von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. herausgegebenen Jahrbüchern Sucht (http://wwwuser.unibremen.de/~drmeyer/publications.html). Er spiegelt sich auch in den vom "Arbeitsausschuss Münzautomaten" in Auftrag gegebenen jährlichen Gutachten des ifo-Instituts zur Wirtschaftentwicklung im Bereich der Unterhaltungsautomaten wider (http://www.baberlin.de/358.html). Parallel hat auch die Zahl der Spielhallen in den vergangenen Jahren sprunghaft zugenommen (vgl. den Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zur Evaluierung der Novelle der Spielverordnung vom 6. Dezember 2010, S. 40; http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/B/ berichtevaluierungspielverordnung,property=pdf,bereich=bmwi,sprache=de,rwb=true.pdf).
Der Anstieg der Zahl der Geldspielautomaten und Spielhallen ging einher mit einer beträchtlichen Erhöhung der erzielten Umsätze. So konstatiert der Fachbeirat Glücksspielsucht in seinem Jahresbericht 2009 (S. 4), dass die gewerblichen Automatenspielanbieter "nach der novellierten Spielverordnung im Jahr 2006 ... eine überproportionale Umsatzsteigerung erfahren" haben (http://www.fachbeiratgluecksspielsucht.de). Dies beschreibt auch der Fachverband Glücksspielsucht e.V. in seiner Stellungnahme vom 22. Juni 2009 zu einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages. Darin heißt es, die Automatenbranche habe "ihre Umsätze nach Inkrafttreten der neuen Spielverordnung im Jahr 2006 noch einmal kräftig steigern" können; seit 2005 seien "die Umsätze mit Geldspielautomaten um 31,8 % gestiegen" (http://www.gluecksspielsucht.de/ materialien/Anhoerung_BundestagJuni09doc.pdf). Andere Quellen nennen Umsatzzuwächse beim gewerblichen Automatenspiel von 38,3 % im Zeitraum 2005 bis 2008 (Hayer: Geldautomaten und Suchtgefahren - Wissenschaftliche Erkenntnisse und suchtpolitischer Handlungsbedarf, a.a.O., S. 47; Meyer: Glücksspiel - Zahlen und Fakten, a.a.O., S. 124) bzw. gehen sogar - bezogen auf den aktuellen Stand - davon aus, dass die Automatenwirtschaft ihren "Umsatz in den vergangenen fünf Jahren nahezu verdoppeln" konnte (Becker/Röbel, Jackpot für Lobbyisten, in: SpiegelOnline vom 13. Dezember 2010, http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,734341-2,00.html).
Angesichts dieser Entwicklung verwundert es nicht, dass die SpielV-Novelle ein positives Echo in der Automatenbranche ausgelöst hat; so haben sich die Vorsitzenden des Verbandes der Deutschen Automatenindustrie e.V. dahingehend geäußert, dass die Änderung der SpielV zum 1. Januar 2006 "gerade noch rechtzeitig" gekommen sei und "interessante und am Gewinnspielmarkt wettbewerbsfähige Geld-Gewinn-Spiel-Geräte ermöglicht" habe (http://gastgewerbemagazin.de/technik/2010/05/03/ spielautomatenmultigamerimtrend/). Dass die Zahl der aufgestellten Geldspielgeräte "seit dem Inkrafttreten der neuen SpielV ... wieder stetig zugenommen" hat, wird auch von der Automatenwirtschaft selbst festgestellt; sie sieht dies als Signal dafür, "dass die mit der Reform der SpielV beabsichtigte Stärkung des Unterhaltungsspiels mit Geldgewinn erreicht wurde" (VDAI-Wirtschaftspressekonferenz: Unterhaltungsautomatenwirtschaft 2008; http://www.awiinfo.de/index.php/site/ news/181).
Weitere relevante Erkenntnisse ergeben sich aus der von Meyer und Hayer (Institut für Psychologie und Kognitionsforschung der Universität Bremen) erarbeiteten Untersuchung "Handlungsbedarf für das gewerbliche Automatenspiel" aus März 2008 (http://www.bmg.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Neu/Werkstattgespr_C3_A4ch_282_29__Vortrag-Meyer-Hayer,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/ Werkstattgespr%C3%A4ch%282%29_Vortrag-Meyer-Hayer.pdf). Die darin beschriebene "Expansion im Segment Glücksspielautomaten" belegen die Autoren nicht nur mit der Zunahme der Zahl der aufgestellten Spielautomaten und der damit einhergegangenen Steigerung des Umsatzes und Brutto-Spielertrages der Geldspielautomatenaufsteller. Sie verweisen auch darauf, dass zusätzliche Spielanreize durch Geldspielautomaten der neuen Generation (sog. Multigambler) geschaffen worden seien, (S. 2) und kommen u.a. zu dem Schluss, dass "die Novellierung der Spielverordnung ... das Suchtpotenzial des gewerblichen Automatenspiels erhöht" habe (S. 13). Diesen Effekt der SpielV-Novelle beschreibt auch Hayer in seinem - bereits zitierten - Fachbeitrag "Geldautomaten und Suchtgefahren - Wissenschaftliche Erkenntnisse und suchtpolitischer Handlungsbedarf" (S. 48: "Anstelle einer Stärkung des Spielerschutzes und dem Entgegenwirken offensichtlicher Fehlentwicklungen ist vielmehr davon auszugehen, dass die SpielV in ihrer jetzigen Fassung die Attraktivität von Geldspielautomaten noch weiter erhöht hat und in der Konsequenz zu einer Verschärfung der Spielsuchtproblematik beiträgt.").
Dass die Expansion des Automatenglücksspiels von der nationalen Rechtssetzung hingenommen worden ist, ohne ihr entgegenzuwirken, lässt nach den dargelegten Grundsätzen bereits auf einen inkohärenten und unsystematischen Umgang mit den Gefahren des Glücksspiels schließen. Ungeachtet dessen dürfte diese Expansion von dem für die Novelle der SpielV verantwortlichen Verordnungsgeber nicht nur geduldet, sondern vielmehr bewusst gefördert worden sein. So hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Ernst Burgbacher, in seiner anlässlich der Eröffnung der Internationalen Fachmesse Unterhaltungs- und Warenautomaten 2010 gehaltenen Rede ausgeführt: "Das gewerbliche Automatenspiel profitierte wirtschaftlich von der Novelle der Spielverordnung. Dies war politisch auch so gewollt." (http://www.bmwi.de/BMWi/Navigation/Presse/ redenundinterviews,did=344032.html?view=renderPrint).
Diese Äußerung lässt keine Zweifel an der hiermit verlautbarten Intention des Verordnungsgebers. Soweit das OVG NRW dem entgegenhält, die Äußerung möge "zwar die Einschätzung des federführenden Ministeriums wiedergeben", der ursprüngliche Entwurf der SpielV-Novelle sei "jedoch noch maßgeblich vom Bundesrat im Sinne eines stärkeren Spielerschutzes verändert" worden,
vgl. etwa Beschluss vom 15. November 2010 - 4 B 733/10 -, Juris Rn. 124,
vermag die Kammer nicht zu erkennen, dass die Zielsetzung, die Automatenbranche ökonomisch zu fördern, durch die Änderungen des Entwurfs hinfällig geworden sein sollte. Aus der zugehörigen Begründung wird vielmehr deutlich, dass sich der Bundesrat der in der Novelle angelegten Möglichkeiten zur massiven Expansion des Automatenspiels durchaus bewusst war ("die von der Bundesregierung vorgesehene Regelung würde in den bestehenden Spielhallen eine Erhöhung des Gesamtbestandes an Geldspielgeräten von bis zu 50 % erlauben"), und es ihm lediglich abschwächend darum ging, eine "so weitreichende Intensivierung der Spielmöglichkeiten ... nicht zu unterstützen" (BR-Drs. 655/05 (Beschluss), S. 2).
Der weitere Ansatz des OVG NRW, dem Zuwachs der Geldspielgeräte seit der Novelle der SpielV im Jahre 2006 den "durch die Änderung der SpielVO zugleich gewährleisteten Wegfall der unter dem Gesichtspunkt des Spielerschutzes besonders problematischen sog. 'Fun Games'" gegenüber zu stellen,
vgl. Beschluss vom 15. November 2010 - 4 B 733/10 -, Juris Rn. 115 ff,
lässt unberücksichtigt, dass der Verordnungsgeber bei der Neufassung der SpielV davon ausging, dass die "Fun Games" vielfach als illegale Geldspielgeräte "missbraucht" würden, deren Betrieb schon nach der bisherigen Rechtslage rechtswidrig sei (vgl. BR-Drs. 655/05, S. 17 ff.). Insofern sollte mit dem neuen § 6 a SpielV lediglich eine effizienter zu handhabende Rechtsgrundlage für das umfassende Verbot der "Fun Games" bereitgestellt werden (vgl. BR-Drs. 655/05, S. 12).
Vgl. zur Einführung der Vorschrift des § 6 a SpielV auch Hahn, Neuregelungen zum gewerblichen Spielrecht, in: Gewerbearchiv (GewArch) 2007, 89 (97): "Die Regelung ... kann allenfalls damit gerechtfertigt werden, dass sie der Klarstellung des ohnehin gesetzlich Festgelegten dient und Umgehungsversuche unterbinden will."
Das Bestreben, den Verlust eines in der Illegalität gewachsenen Marktsegmentes durch eine - bewusste - Ausweitung des legalen Automatenspiels zu kompensieren, kann indessen kaum als Beitrag zu einer kohärenten Begrenzung des Spielangebotes gewürdigt werden.
Angesichts des Umstandes, dass der nach 2006 verzeichnete Zuwachs des Automatenglücksspiels nicht zufällig, sondern als beabsichtigte Folge der SpielV-Novelle entstanden ist, sind die europarechtlich gebotenen Konsequenzen nicht erst zu ziehen, wenn normative Korrekturen innerhalb einer der nationalen Rechtsetzung zuzubilligenden Übergangszeit ausbleiben.
A.A. offenbar: OVG NRW, Beschluss vom 15. November 2010 - 4 B 733/10 -, Juris Rn. 127 ff.
Davon abgesehen hat sich die Expansion des Marktes der Geldgewinnspielgeräte nicht erst durch die jüngsten Untersuchungen des "Arbeitskreises gegen Spielsucht e.V." aus Juli 2010 offenbart. Entsprechende Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Forschung lagen, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, schon früher vor. Im Übrigen spricht alles dafür, dass das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) die zahlenmäßige Entwicklung des Spielautomatenmarktes nach der SpielV-Novelle aufgrund eigener Erkenntnisquellen jederzeit überblickte. Legislative Korrekturen hätten daher, wenn es politisch gewollt gewesen wäre, längst vorgenommen werden können. Bezeichnenderweise kommt sogar das Institut für Therapieforschung (IFT), das sich im Auftrag des BMWi mit den Auswirkungen und der Bewertung der Novelle der SpielV vom 17. Dezember 2005 befasst hat, in seinem Abschlussbericht vom 9. September 2010 u.a. zu dem Schluss, dass "Reaktionen ... des BMWi auf unerwünschte Entwicklungen zu verzögert stattfinden" (S. 164; http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/I/iftberichtspielverordnung,property=pdf, bereich=bmwi,sprache=de,rwb=true.pdf) - eine Feststellung, der das Ministerium selbst in seinem bereits zitierten Evaluierungsbericht vom 6. Dezember 2010 nicht einmal entgegen tritt (S. 73).
Zur dargelegten Problematik kommt hinzu, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung die generellen Kontrollpflichten von Casinos im Hinblick auf Spielsüchtige, die sich haben freiwillig sperren lassen, vom sog. "Großen Spiel" auf das Automatenspiel in den Casinos erweitert hat.
Vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 22. November 2007 - III ZR 9/07 -.
Auch hier - im gesetzlichen Spielerschutz - zeigt sich die fehlende Kohärenz in der Ausrichtung des Glücksspielwesens. Die Verpflichtung zur Einrichtung einer (dem Spielerschutz dienenden) Sperrdatei für gefährdete Spieler gemäß § 12 Glücksspielstaatsvertrag AG NRW betrifft nur die Veranstaltungen staatlicher Veranstalter und diejenigen der (staatlichen) Spielbanken. Spieler, die durch das Automatenglücksspiel spielsuchtgefährdet sind, können durch diese Datei - und auch durch sonstige Schutzeinrichtungen - nur dann erfasst werden, wenn sie Spielbanken besuchen wollen, um in dortigen Automatensälen zu spielen. Der Schutz erstreckt sich jedenfalls nicht auf das Glücksspielautomatenangebot in gewerblichen Spielhallen. Zudem umfasst das Teilnahmeverbot für gesperrte Spieler nur die Teilnahme an Wetten und Lotterien, die häufiger als zweimal pro Woche veranstaltet werden (§ 12 Abs. 1 Satz 3 Glücksspielstaatsvertrag AG NRW). Damit wird aber auch spielsuchtgefährdeten Spielern die Teilnahme an den allwöchentlichen Veranstaltungen der staatlichen Veranstalter, wie Mittwochs- und Samstagslotto, gestattet. Inwieweit hierdurch ein wirksamer Schutz auch bereits erheblich gefährdeter und deswegen auch in der Sperrdatei erfasster Personen gewährleistet werden soll, erschließt sich nicht.
Ob der generelle Ausschluss von Sportwettenveranstaltern aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom deutschen Sportwettenmarkt im Übrigen auch unverhältnismäßig ist, weil er über das hinausgeht, was zur Erreichung des primär geltend gemachten legitimen Zieles - der Spielsuchtbekämpfung - erforderlich ist, mag dahinstehen. Denn schon die dargelegte Missachtung des Kohärenzgebotes führt wegen des Anwendungsvorranges des europäischen Gemeinschaftsrechts zur Unanwendbarkeit der mit ihm unvereinbaren nationalen Rechtsnormen. Die Bestimmungen des AEUV und die anderen unmittelbar geltenden Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane haben Vorrang vor dem internen Recht der Mitgliedstaaten. Das nationale Recht ist, soweit es dem EG-Recht widerspricht, nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, im Übrigen auch nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, unangewendet zu lassen.
Vgl. EuGH, Urteile vom 15. Juli 1964 - Rs. 6-64 (Costa/ E.N.E.L.) -, Slg. 1964, S. 1253 (1269), vom 9. März 1978 - Rs. 106-77 (Simmenthal) -, Slg. 1978, 629, Leitsatz 3, und vom 22. Juni 1989 - Rs 103-88 (Costanzo) -, Slg. 1989, 1839 (Rn. 28 - 33); BVerfG, Beschluss vom 8. April 1987 - 2 BvR 687/85 -, BVerfGE 75, 223 (244).
Aus der Unanwendbarkeit des europarechtswidrigen nationalen Rechts folgt, dass der hier streitgegenständlichen Untersagungsanordnung die Ermächtigungsgrundlage fehlt. Die in dem Erlass des Ministeriums für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen (MIK) vom 27. September 2010 - 14-38.07.01-7 - vertretene Auffassung, die "zentralen Verbote des GlüStV für unerlaubtes Glücksspiel" gälten nach der Entscheidung des EuGH vom 8. September 2010 weiterhin fort und "lediglich § 10 Abs. 5 GlüStV" - der Ausschluss von privaten Glücksspielanbietern - stehe "unter dem Vorbehalt einer verwaltungsgerichtlichen Überprüfung" mit der Folge, dass gegebenenfalls "privaten Veranstaltern und Vermittlern bislang nicht erlaubter öffentlicher Glücksspiele ein glücksspielrechtliches Erlaubnisverfahren offen steht" (S. 5), missachtet ersichtlich den europarechtlichen Anwendungsvorrang. Denn solange ein Verfahren zur Erlaubnisvergabe, das den Anforderungen aus der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 und 56 AEUV (vormals Art. 43 und 49 EG) entspricht, nationalrechtlich (noch) nicht kodifiziert ist, kann eine fehlende Erlaubnis nicht zum Anlass genommen werden, Sanktionen gegen Personen zu verhängen, die nach dem gegenwärtigen Verfahrensrecht europarechtswidrig von der Erlaubnisvergabe ausgeschlossen sind.
Vgl. EuGH, Urteil vom 6. März 2007 - Rs. C-338/04 (Placanica) -, Rn. 63; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (NdsOVG), Beschluss vom 8. Juli 2008 - 11 MC 71/08 -, GewArch 2009, 76 (77) = Juris Rn. 33 m.w.N.
Besteht - wie im Lande Nordrhein-Westfalen - kein europarechtskonformes Erlaubnisverfahren für das Veranstalten und Vermitteln von Sportwetten, kommt ein ordnungsbehördliches Einschreiten gegen Sportwettenvermittlung nach den Bestimmungen des GlüStV allein wegen der fehlenden Erlaubnis demgemäß nicht in Betracht.
So auch: Streinz/Kruis, Unionsrechtliche Vorgaben und mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume im Bereich des Glücksspielrechts, Neue Juristische Wochenschrift 2010, 3745 (3749 f.).
Die Auffassung, dass das Nichterfüllen der Erlaubnispflicht eine Untersagungsverfügung für sich betrachtet nicht rechtfertigt, liegt offenbar auch den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. November 2010 - 8 C 13.09 und 8 C 14.09 - zugrunde. Zwar hat das BVerwG in den Entscheidungsgründen hierzu nicht ausdrücklich Stellung genommen. Anderenfalls hätte das BVerwG die Sachen jedoch nicht an das Berufungsgericht zurückverweisen können, sondern hätte die Klagen - wie im Verfahren 8 C 15.09 geschehen - abweisen müssen.
Vgl. Verwaltungsgericht Minden, Urteil vom 7. Februar 2011 - 1 K 2835/07 -, Juris Rn. 82.
Es kommt im vorliegenden Verfahren auch nicht darauf an, ob das Geschäftsmodell des Veranstalters, an den die Klägerin Sportwetten vermittelt, Internet- und Livewetten beinhaltet, die nach § 4 Abs. 4 bzw. § 21 Abs. 2 Satz 3 GlüStV verboten sind. Denn selbst wenn diese Verbote des GlüStV durch die Unvereinbarkeit des staatlichen Sportwettenmonopols mit dem Unionsrecht nicht berührt würden, könnte die hier streitige Untersagungsverfügung nicht darauf gestützt werden, dass die Klägerin Sportwetten an einen Veranstalter vermittelt, der eine glücksspielrechtliche Erlaubnis für sein gesamtes Wettangebot wegen eines (hier nur unterstellten) Verstoßes gegen die §§ 4 Abs. 4 bzw. 21 Abs. 2 Satz 3 GlüStV nicht erhalten kann.
A.A. NdsOVG, Beschluss vom 11. November 2010 - 11 MC 429/10 -, Juris Rn. 35.
Die anderslautende Auffassung berücksichtigt nicht, dass es der Veranstalter ohne Weiteres in der Hand hätte, eine auf das herkömmliche - stationäre - Wettgeschäft mit den örtlichen Vermittlungsbüros beschränkte Erlaubnis zu beantragen. Dass ein solcher Antrag bislang - soweit ersichtlich - nicht gestellt wurde, führt aus der dargelegten Gründen ebenso wenig zur Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung wie die fehlende glücksspielrechtliche Erlaubnis für die Vermittlungstätigkeit der Klägerin. Angesichts des Umstandes, dass sich der GlüStV zumindest in wesentlichen Teilen als unionsrechtswidrig - und damit nicht anwendbar - erweist, und der rechtlichen Unklarheit über die Frage, welche Bestimmungen des darin enthaltenen Regelwerks überhaupt wirksam sind, kann dem Veranstalter, selbst wenn er Internet- und Livewetten anbieten sollte, jedenfalls kaum vorgehalten werden, er sei deswegen generell unzuverlässig und auch in Bezug auf das stationäre Wettgeschäft von vornherein nicht erlaubniswürdig.
Nach alledem erweist sich auch die in der angefochtenen Ordnungsverfügung enthaltene Androhung eines Zwangsmittels als rechtswidrig.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Zulassung der Berufung beruht auf § 124 a Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4 VwGO.