Sonntag, 13. April 2014

BFH zum Anwendungsvorrang

BFH Urteil vom 24.10.2013, V R 17/13
Verhältnis nationales Recht und Unionsrecht - Anwendungsvorrang

Ob eine gesetzlich geschuldete Steuer i.S. von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG vorliegt, bestimmt sich unter Berücksichtigung des Unionsrechts.

(Auszug)

Rn 13 Nach der Rechtsprechung des EuGH sind die nationalen Gerichte bei einem Widerspruch zwischen den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts und den Bestimmungen des Unionsrechts gehalten, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts Sorge zu tragen, indem sie erforderlichenfalls jede --auch spätere-- entgegenstehende Vorschrift des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lassen, ohne dass die vorherige Beseitigung dieser Vorschrift auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragt oder abgewartet werden müsste.

Es ist alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften "auszuschalten", die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden (EuGH-Urteil vom 26. Februar 2013 C-617/10, Fransson, Neue Juristische Wochenschrift 2013, 1415, Rdnr. 45 f).

In Übereinstimmung hiermit kann sich der Steuerpflichtige nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats insbesondere auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber richtlinienwidrigen Regelungen des nationalen Rechts berufen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 11. Oktober 2012 V R 9/10, BFHE 238, 570, BFH/NV 2013, 170).
19 cc) Demgegenüber lässt sich die Annahme des FG, es komme auf den mit der jeweiligen Vorschrift verfolgten Zweck an, so dass danach zu differenzieren sei, ob eine Regelung dem Schutz der Interessen einzelner oder dem öffentlichen Interesse an der gesetzmäßigen Steuererhebung zu dienen bestimmt sei, nicht mit dem sich aus der EuGH-Rechtsprechung ergebenden Erfordernis vereinbaren, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts Sorge zu tragen und dabei jede entgegenstehende Vorschrift des nationalen Rechts außer Betracht zu lassen. Es ist daher unerheblich, welchen rechtlichen Interessen die Bestimmung des Unionsrechts dient, deren Anwendungsvorrang der Steuerpflichtige geltend macht, wenn die Berufung auf das Unionsrecht zu einer niedrigeren Steuerschuld des Steuerpflichtigen führt.
20 Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der vom FG für seine Beurteilung in Bezug genommene BFH-Rechtsprechung zum Auskunftsanspruch hinsichtlich der Besteuerung von Konkurrenten in der Rechtsform der juristischen Person des öffentlichen Rechts (BFH-Urteil vom 5. Oktober 2006 VII R 24/03, BFHE 215, 32, BStBl II 2007, 243). Diese allein Auskunftsansprüche betreffende Rechtsprechung schränkt die Geltendmachung des Anwendungsvorrangs in Bezug auf die eigene Besteuerung des Steuerpflichtigen nicht ein.
21 Aufgrund des Erfordernisses, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts Sorge zu tragen, kann dem Kläger auch nicht entgegengehalten werden, dass für seinen Lieferer die nach nationalem Recht bestehende Rechtslage günstiger als das Unionsrecht ist. Die Rechtsfolgen des vom Kläger geltend gemachten Anwendungsvorrangs beschränken sich vielmehr auf seine eigene Person und wirken sich entgegen der Auffassung des FA daher erst dann auf die Besteuerung seines Lieferers aus, wenn dieser gleichfalls einen Anwendungsvorrang geltend machen könnte, der aber für den Lieferer nach den Verhältnissen des Streitfalls nicht zu einer niedrigeren Steuer führen kann.
Da das Urteil des FG diesen Maßstäben nicht entspricht, ist es aufzuheben.
BFH Urteil vom 24.10.2013, V R 17/13

Direktlinks:
Pressemitteilung Nr. 3/14 vom 8.1.2014
BFH Urteil vom 24.10.2013, V R 17/13

vgl. BFH zur Berufung auf Unionsrecht
Bereits in den Urteilen in den Rechtssachen 51/76 (Nederlandse Ondernemingen/Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen, Sig. 1977, 113) 148/78 (Ratti, Sig. 1979, 1629) und 102/79 (Kommission/Belgien, Slg. 1980, 1473) hat der Gerichtshof entschieden, daß ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, einer an ihn gerichteten Richtlinie Wirkung zu verleihen, auch wenn ihm die Wahl der Form und der Mittel zur Erreichung der Richtlinienziele überlassen bleibt. Führt der Mitgliedstaat die Richtlinie nicht durch, so kann sich ein einzelner auf ihre Bestimmungen gegenüber dem Mitgliedstaat berufen, wenn diese unbedingt und hinreichend genau sind. Der Staat kann keinen Vorteil aus der Tatsache ziehen, daß er nicht rechtzeitig tätig geworden ist - und nicht geltend machen, die Richtlinie sei noch nicht in Kraft. (Quelle: Schlussanträge Becker)


Unmittelbare Wirkung von nicht oder unzutreffend
umgesetzten Richtlinien


 Keine belastende Wirkung für den Bürger
im Verhältnis zum Staat

(S 31)  Der pflichtwidrig unterlassende Staat kann sich nie zum Nachteil des Bürgers auf eine nicht umgesetzte europäische Richtlinie berufen; ansonsten müsste der Bürger für die negativen Folgen des Fehlverhaltens seines Mitgliedstaates einstehen. Letzteres darf nicht sein, denn der Staat und nicht einzelne Bürger haben Einfluss auf die rechtzeitige Umsetzung des europäischen Rechts in nationales Recht.
Der EuGH hat daher bereits im Urteil vom 26.2.1986 ausdrücklich festgestellt, dass sich der Bürger zwar gegenüber dem Staat unter den oben genannten Voraussetzungen auf die nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinie berufen kann. Die staatlicherseits unterlassene Umsetzung einer Richtlinie schaffe aber selbst keine Verpflichtung für den einzelnen Bürger gegenüber dem Staat. Eine nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinie hat daher keine "Direkt"-Wirkung zu Lasten des Bürgers.
(EuGH, Urteil vom 26.2.1986, Rs. C-152/84, M. H. Marshall gegen Southhampton and South-West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1986 S. 723) vgl. EuGH, Urteil vom 19.1.1982, Rs. C-8/81, Ursula Becker, Slg. 1982 S. 53.

(S 17) Die DurchführungsVO (DVO) ist - ohne dass es eines nationalen Umsatzungsakts bedarf - unmittelbar geltendes Recht.

Sie bindet damit

die Mitgliedstaaten (Wirtschaftsteilnehmer, Verwaltung und Gerichtsbarkeit),
die Europäische Kommission und
auch den EuGH!

Quelle:  Umsatzsteuer in der Praxis, Rüdiger Weinmann


s.a.:
FG Münster: Mehrwertsteuersystemrichtlinie vom deutschen Gesetzgeber nicht hinreichend umgesetzt

BUNDESFINANZHOF (BFH) zur steuerlichen Neutralität
Unternehmer sollen mit der Umsatzsteuer als indirekte Steuer nicht belastet werden

Offener Brief an das Finanzgericht Hamburg vom 31.01.2014
Unionsrechtswidriger Vorsteuerabzug bei Spielbanken,
Spielhallen und Gaststätten
Verstoß gegen die steuerliche Neutralität
Verstoß gegen das Dispensverfahren gem. Art. 395, 1
Verstoß gegen den Notifizierungszwang nach der InformationsverfahrensRL 98/34/EG


mehr zur MwStSystRL:

RICHTLINIE 2006/112/EG DES RATES
vom 28. November 2006
über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
(ABl. L 347, 11.12.2006, p.1)

vormals (Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern) geregelt.

DURCHFÜHRUNGSVERORDNUNG (EU) Nr. 282/2011 DES RATES vom 15. März 2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
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Anwendungsvorrang und Rechtsbeugung





Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis
Seine Durchsetzung in Deutschland. Eine theoretische und empirische Untersuchung anhand der Finanz- und Verwaltungsgerichte und Behörden
Kurzbeschreibung:
Erscheinungstermin: Februar 2013
Der Anwendungsvorrang ist einer der Grundpfeiler des EU-Rechts. Vor beinahe 50 Jahren durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelt, wird er heute in seinen Grundsätzen von allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht mehr in Frage gestellt. Doch was folgt daraus tatsächlich für den nationalen Rechtsanwender? Und wie sieht die Realität des Anwendungsvorrangs aus? Nach einer kurzen Einleitung untersucht Tobias Kruis die theoretische Herleitung, die Vorgaben sowie die Reichweite des Anwendungsvorrangs für die nationalen Rechtsanwender. Anschließend widmet er sich der tatsächlichen Durchsetzungspraxis in Deutschland am Beispiel der nationalen Finanz- und Verwaltungsgerichte und Behörden. Auf der Grundlage dieser empirischen Untersuchung zieht Tobias Kruis Rückschlüsse auf die Theorie und gibt einige rechtspolitische Vorschläge zur Verbesserung der Funktionsweise des Anwendungsvorrangs.

Tobias  Kruis Verlag: Mohr Siebeck; Auflage: 1 (Februar 2013)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3161520076
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Das Primärrecht gilt in allen Mitgliedstaaten unmittelbar und genießt gegenüber dem nationalen Recht Anwendungsvorrang, d.h. in unionsrechtlich geregelten Bereichen werden nationale Regelungen (einschließlich Strafbestimmungen) verdrängt. Steht eine Norm des mitgliedstaatlichen Rechts im Widerspruch zu einer Norm des Unionsrechts, so darf die mitgliedstaatliche Behörde/Gericht die mitgliedstaatliche Norm nicht anwenden.


Der Fall muß anhand der unionsrechtlichen Regelung entschieden werden.

Rechtsprechung des BVerfGE zum Anwendungsvorrang

vgl. BVerfGE 75, 223 - Kloppenburg-Beschluß - 2 BvR 687/85, Rn. 61

Eine Anwendung von gegen das verfassungsrechtlich verankerte Unionsrecht verstoßenden Gesetze und / oder Verordnungen kommt gemäß Art. 1 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 1. Abs. 2 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 97 Abs. 1 GG weder für die vollziehende Gewalt noch die Gerichte in Frage.


Eine anderslautende Rechtsprechung erfüllt den Tatbestand der Rechtsbeugung gemäß § 339 StGB.

EuGH - Rechtsprechung zum Anwendungsvorrang
Mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen ist nämlich jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis unvereinbar, die dadurch zu einer Schwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führt, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen  wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen  innerstaatlichen Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden (EuGH Rs. Fransson, C-617/10, Randnr. 45, 46, Urteil Melki und Abdeli, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). 

Prof. Dr. Gerhard Wolf hat 1996 die folgenden Rechtssätze in dem von ihm stammenden Aufsatz geprägt:

“Der Gesetzesinhalt ist durch Gesetzeswortlaut und Gesetzessystematik festgelegt. Im Hinblick auf das gewünschte Ergebnis vom Gesetzesinhalt abzugehen, ist - logisch zwingend - gesetzwidrig, unabhängig davon, ob man es “Analogie” oder “teleologische Auslegung” nennt.”

“Ein Richter, der vorsätzlich ein geltendes Gesetz nicht anwendet, weil er ein anderes Ergebnis für gerechter, für politisch opportuner oder aus anderen Gründen für zweckmäßiger hält, erfüllt den Tatbestand der Rechtsbeugung.”

Rechtsbeugung in Kollegialgerichten:
Zur Bestimmung des tatbestandsmäßigen Verhaltens
Auf dem Weg zur Bestimmung des tatbestandsmäßigen Verhaltens widmet sich die Autorin intensiv dem Problem der Kausalität bei Gremienentscheidungen und dem richterlichen Beratungsgeheimnis. Nach diesen Klärungen könnte nun auch für Richter, wenn sie das Recht beugen, die Bestrafung zur Selbstverständlichkeit werden.


Rechtsbeugung in Kollegialgerichten: Zur Bestimmung des tatbestandsmäßigen Verhaltens (Veroffentlichungen Zum Verfahrensrecht)
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Verlag: Mohr Siebeck; Auflage: 1 (August 2012)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3161518314
ISBN-13: 978-3161518317