Freitag, 31. Januar 2014

Offener Brief an das Finanzgericht Hamburg vom 31.01.2014

Betreff: 
Metropol Spielstätten Unternehmergesellschaft
gegen
Finanzamt Hamburg-Bergedorf
Bezug:    
Beschluss vom 21.9.2012 (Az. 3 K 104/11
EuGH-Urteil vom 24.10.2013 (Rs. C-440/12)
hier:       
Unionsrechtswidriger Vorsteuerabzug bei Spielbanken,
Spielhallen und Gaststätten
Verstoß gegen die steuerliche Neutralität
Verstoß gegen das Dispensverfahren gem. Art. 395, 1
Verstoß gegen den Notifizierungszwang nach der InformationsverfahrensRL 98/34/EG
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Sehr geehrte Damen und Herren,
hohes Gericht,

mit seinem Urteil vom 24.10.2013 (Rs. C-440/12) überlässt der EuGH,  entgegen den Vorgaben aus der in allen Mitgliedstaaten verbindlich und unmittelbar gültigen MwStSystRL den Mitgliedsstaaten selbst über eine Verrechnung der MwSt mit der Spielbankenabgabe oder auch umgekehrt, wie dies von manchen Bundesländern praktiziert wird, zu entscheiden. Dabei soll die RL gerade verhindern, dass Mitgliedsstaaten eine eigene Rechtslage entwickeln.

Mit der Entscheidung des EuGH vom 24.10.2013 wird der nach Art. 137 der MwSystRL ausdrücklich unzulässige Vorsteuerabzug ermöglicht.

vgl.
Mehrwertsteuerbefreiungen ohne Recht auf Vorsteuerabzug
http://europa.eu/legislation_summaries/taxation/l31057_de.htm

Mit der Abweichung von der RL wird der EuGH seinem Auftrag, des effektiven Rechtsschutzes nicht gerecht, der die Einheitlichkeit des Rechts und das Prinzip des Rechtsschutzes, das dem Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts zusteht, vorgibt.

Meines Erachtens werden mit der Entscheidung vom 24.10.2013 die wichtigsten Grundsätze der Gemeinschaft, wie dem Willkürverbot (EuGHE 1978,1978), dem Verhältnismäßigkeits- (EuGHE 1979, 677), dem Vertrauensschutz- (EuGHE 1978, 169), und dem Rechtssicherheitsprinzip (EuGHE 1983, 2633), nicht gewährleistet, mit der die Grundsätze der Proportionalität, der Abwälzbarkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage gestellt werden und der aktuellen Rechtsprechung, Urteil (Rs C-189/11) vom 26.09.2013 widersprochen wird.

Die Rechtsvorschriften müssen klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen voraussehbar sein, weshalb die Entscheidung der durch die Unionsrichtlinie gewährten, grundsätzlichen Steuerbefreiung nicht über die Rechtsprechung des EuGH an die Mitgliedstaaten zurückfallen kann.

Unionsrechtsakte dürfen sich nicht widersprechen (vgl. Rs C-189/11) und müssen dem Grundsatz der Rechtssicherheit genügen (EuGH: T-50/06 RENV), weshalb eine Abweichung von der in allen Mitgliedstaaten uneingeschränkt und unmittelbar gültigen MwSystRL, unzulässig sein wird.

Es darf bezweifelt werden, ob der EuGH überhaupt rechtswirksam eine Abweichung von der MwSystRL “erlauben“ konnte, wenn die entsprechende Erlaubnis dazu, ausschließlich in den Kompetenzbereich des Rates fällt.
(Dispensverfahren gem. Art. 395, 1 der RL)
(vgl. Matthias Pechstein in EU-/EG-Prozessrecht)

Der Artikel 401 der RICHTLINIE 2006/112/EG DES RATES lautet:

”Unbeschadet anderer gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften hindert diese Richtlinie einen Mitgliedstaat nicht daran, Abgaben auf Versicherungsverträge, Spiele und Wetten, Verbrauchsteuern, Grunderwerbsteuern sowie ganz allgemein alle Steuern, Abgaben und Gebühren, die nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben, beizubehalten oder einzuführen, sofern die Erhebung dieser Steuern, Abgaben und Gebühren im Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht mit Formalitäten beim Grenzübertritt verbunden ist.”
Quelle:
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CONSLEG:2006L0112:20110101:DE:HTML

Das bedeutet,

    dass eine Umsatzsteuer weder beibehalten noch "neu" eingeführt werden darf !

Lediglich eine andere Besteuerung ist möglich, sofern diese nicht den Charakter von Umsatzsteuern hat und die Erhebung im Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht mit Formalitäten beim Grenzübertritt verbunden ist.

Dabei ist jedoch die RL 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem zu beachten. vgl. Schlussanträge in d. Rs C-82/12
Quelle:
http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2013-10/cp130141de.pdf

Bereits im GRÜNBUCH über die Zukunft der Mehrwertsteuer bestätigte die Europäische Kommission 
-KOM(2010) 695 endgültig-
auf Seite 12, dass Glücksspiele steuerbefreit sind:

"Die MwSt-Richtlinie unterscheidet zwischen Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten (z. B. sozialer Art, in Bildungswesen und Kultur) und Steuerbefreiungen für andere Tätigkeiten, z. B. aufgrund steuertechnischer Schwierigkeiten bei der Anwendung der Steuer auf die betreffenden Umsätze (Finanzdienstleistungen und Glücksspiele) oder aufgrund der Wechselwirkung mit anderen Steuern (Umsätze mit Grundstücken)."

Quelle:
http://ec.europa.eu/taxation_customs/resources/documents/common/consultations/tax/future_vat/com%282010%29695_de.pdf

Weitere Veröffentlichungen

Zu Recht kritisiert die EU-Kommission das komplizierte und teils willkürliche deutsche Umsatzsteuersystem.
Quelle:
http://steuervereinfachung.blog.de/2013/05/31/eu-kommission-fordert-einheitlichen-umsatzsteuersatz-16075805/

Mehrwertsteuerstrategie der EU (IP/11/1508)
(Europäische Kommission, Pressemitteilung vom 8.10.12, IP/12/1079)
Quelle:
http://ec.europa.eu/taxation_customs/taxation/vat/key_documents/communications/index_de.htm

Näheres zur öffentliche Konsultation ist unter folgender Internetadresse abrufbar:
http://ec.europa.eu/taxation_customs/common/consultations/tax/index_de.htm

Notifizierungszwang

Entsprechend der Verpflichtungen aus der Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informations-gesellschaft (ABl. L 204 vom 21. Juli 1998, S. 37), die zuletzt durch die Richtlinie 2006/96/EG (ABl. L 363 vom 20. Dezember 2006, S. 81) geändert wurden, sind der Erlass von Gesetzen sowie Gesetzes-änderungen der Kommission gegenüber zu notifizieren, also im Entwurf mitzuteilen.

Hiermit darf betont werden, dass die Neufassung von § 4 Nr. 9 lit. b), des deutschen Umsatzsteuergesetzes (UStG) vom 28. April 2006 (BGBl. I S. 1095), mit der entgegen der rechtlichen Vorgaben aus der Mehrwertsteuerrichtlinie (MwSystRL) auch die Umsätze der zugelassenen öffentlichen Spielbanken mit Glücksspielen oder Glücksspielgeräten der Umsatzsteuer unterworfen wurden, nicht notifiziert wurde.

Entsprechend der unionsrechtlichen Vorgaben und nach den Entscheidungen des EuGH in den Rs. Fortuna C-213/11, Grand C-214/11 und Forta C-217/11 kann diese Vorschrift jedoch nicht angewandt werden, weil das Mitgliedsland Deutschland seiner europarechtlichen Notifizierungspflicht nicht nachgekommen ist.

Die gemeinschaftsrechtsfreundliche Auslegung nationaler Rechtsnormen, ergibt sich aus der Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts aus Art. 10 EGV und – wenn es um die Umsetzung von Richtlinien geht – zusätzlich aus Art. 249 III EGV. Gebunden sind durch dieses Interpretationsgebot alle Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, also auch Behörden, Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verwaltungsbehörden.

Das Primärrecht gilt in allen Mitgliedstaaten unmittelbar und genießt gegenüber dem nationalen Recht Anwendungsvorrang, d.h. in unionsrechtlich geregelten Bereichen werden nationale Regelungen (einschließlich Strafbestimmungen) verdrängt. Steht eine Norm des mitgliedstaatlichen Rechts im Widerspruch zu einer Norm des Unionsrechts, so darf die mitgliedstaatliche Behörde/Gericht die mitgliedstaatliche Norm nicht anwenden.

Es muss den Fall anhand der unionsrechtlichen Regelung entscheiden.

Ich hoffe, dass das Finanzgericht Hamburg den verbindlichen Vorgaben aus der MwStSystRL Geltung verschaffen und entsprechend bestätigen wird, dass Glücksspielumsätze grundsätzlich steuerbefreit und ein Vorsteuerabzug unzulässig ist, und dass der nationalen Regelung ohne Notifizierung und Dispensverfahren nach Art. 395, 1 der MwStSystRL, die Rechtsgrundlage fehlt, weshalb diese unanwendbar ist.

Mit freundlichen Grüßen
Volker Stiny

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Ergänzung:

Wann erklärt das Bundesverfassungsgericht/EuG/EuGH die Neufassung des § 4 Nr. 9 Buchst. b UStG erneut für verfassungs- bzw. unionsrechtswidrig?

Der Bund hatte nicht die Gesetzgebungskompetenz von der MwStSystRL abzuweichen, weshalb keine rechtswirksame Rechtsgrundlage zur Erhebung von Mehrwertsteuern auf Glücksspielumsätze vorliegt !

Eine Ermächtigung (Dispensverfahren gem. Art. 395,1) durch den Rat der Union, eine von der MwSystRL 2006/112/EG abweichende Regelung zu erlassen, ist nicht ersichtlich.

Obwohl der Bundesrat den Gesetzentwurf in seiner Stellungnahme zur 812. Sitzung am 17. Juni 2005 ablehnte und auf die Einhaltung der MwStSystRL hinwies, wurde die Rechtsänderung vom 28. April 2006 (BGBl. I S. 1095) bewußt entgegen den unionsrechtlichen Vorgaben aus der MwSystRL erlassen und dabei das Urteil Linneweber, sowie weitere u.a. Entscheidungen des EuGH und der Kloppenburg-Beschluß  (2 BvR 687/85) des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfGE 75, 223) mißachtet.

s.u.a. EuGH vom 17.02.2005 (Rs. C-453/02 und 462/02), 19.01.1982 (Rs 8/81) Samm-lung [Slg.] 1982, S. 53), vom 10.06.1982 (RS 255/81, Slg. 1982, S. 2301) und vom 22.02.1984 (RS 70/83, Slg. 1984, S: 1075 [1087])

Aus diesem Grunde handelt es sich um einen hinreichend qualifizierten Rechtsverstoß, der einen unionsrechtlichen Schadenersatz begründet.

vgl. EuGH: Rechtssache C-5/94, Rdnr. 28,  später erneut zitiert in den verbundenen Rechtssachen C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94, Rdnr. 21,sowie den Rechtssachen C-190/94, Rdnr. 25, C-127/95, Rdnr. 109, C-424/97, Rdnr. 38, C-118/00, Rdnr. 38, C-224/01, C-446/04, Rdnr. 212, C-278/05, Rdnr. 71, C-470/03, Rdnr. 81 und C-452/06, Rdnr. 38, s.a. vgl. Verbundene Rechtssachen C-46/93 und C-48/93, Rdnr. 57, erneut zitiert in den Rechtssachen C-118/00, Rdnr. 44; C-224/01, Rdnr. 57, C-446/04, Rdnr. 214, C-524/04, Rdnr. 120,  C-446/04, Rdnr. 214, und C-201/05, Rdnr. 123.
Die ungenehmigte Abweichung (Dispensverfahren gem. Art. 395,1) von der MwStSystRL ist gem. dem Kloppenburg-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 8. April 1987 (2 BvR 687/85) verfassungs- und unionsrechtswidrig, weshalb die Rechtsänderung vom 28. April 2006 (BGBl. I S. 1095) unzulässig war und die Erhebung von  Mehrwertsteuern auf Glücksspielumsätze rechtsmißbräuchlich erfolgt.
In seinem aktuellen Urteil vom 25.4.2013, V R 7/11, führte der BFH unter der Rn 21ff zur unionsrechtlichen Umsatzsteuerbefreiung aus:
“Dabei kann sich ein Steuerpflichtiger auf die in der Mehrwertsteuerrichtlinie (MwStSystRL) vorgesehene Steuerbefreiung berufen, um sich einer nationalen Regelung zu widersetzen, die mit dieser Bestimmung unvereinbar ist.
Insoweit haben die nationalen Gerichte zu prüfen, ob die zuständigen Behörden die Grenzen des ihnen eingeräumten Ermessens unter Beachtung der Grundsätze des Unionsrechts eingehalten haben, zu denen insbesondere der Grundsatz der Gleichbehandlung gehört, der im Mehrwertsteuerbereich im Grundsatz der steuerlichen Neutralität zum Ausdruck kommt (EuGH-Urteil Zimmermann in UR 2013, 35 Rdnrn. 32 f.). Nichts anderes gilt für Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL.“
BFH zum Anwendungsvorrang
BFH Urteil vom 24.10.2013, V R 17/13
Verhältnis nationales Recht und Unionsrecht – Anwendungsvorrang

Ob eine gesetzlich geschuldete Steuer i.S. von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG vorliegt, bestimmt sich unter Berücksichtigung des Unionsrechts.

Es ist alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften "auszuschalten", die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden (EuGH-Urteil vom 26. Februar 2013 C-617/10, Fransson, Neue Juristische Wochenschrift 2013, 1415, Rdnr. 45 f).

In Übereinstimmung hiermit kann sich der Steuerpflichtige nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats insbesondere auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber richtlinienwidrigen Regelungen des nationalen Rechts berufen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 11. Oktober 2012 VR 9/10, BFHE 238, 570, BFH/NV 2013, 170).

BFH zur Berufung auf Unionsrecht

BFH, Urteil des V.  Senats vom 21.11.2013 - V R 11/11 -
...........Im weiteren Verfahren muss das FG nun feststellen, ob sich die Margenbesteuerung insgesamt für den klagenden Reiseveranstalter günstiger auswirkt und ob er sich auf das Unionsrecht beruft.

EuGH zur Gewissheit des Bürgers über seine Rechte
Der EuGH entschied zur Verpflichtung zu einer richtlinienkonformen Auslegung von Richtlinien und zur Rechtssicherheit (Gewissheit des Bürgers über seine Rechte)

Der BFH hat im Sozial- und Sportbereich die unionsrechtliche Umsatzsteuerbefreiung anerkannt.
Dabei kann sich ein Steuerpflichtiger auf die in der Mehrwertsteuerrichtlinie (MwStSystRL) vorgesehene Steuerbefreiung berufen, um sich einer nationalen Regelung zu widersetzen, die mit dieser Bestimmung unvereinbar ist. weiterlesen

FG Münster: Mehrwertsteuersystemrichtlinie vom deutschen Gesetzgeber nicht hinreichend umgesetzt
FG Münster: Der für die Umsatzsteuer maßgeblich Grundsatz der steuerlichen Neutralität sei verletzt.

Mit Urteil (Linneweber/Akritidis) hat der EuGH entschieden, dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glückspielen oder Glückspielgeräten vor den nationalen Gerichten auf die unmittelbare Wirkung der der Mehrwertsteuerrichtlinie berufen kann, um die Anwendung mit dieser Bestimmung unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern.  (vgl. Rn 2)
weiterlesen

EuGH zu den Grundsätzen der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit

Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität gibt vor, dass der Steuerpflichtige Unternehmer weder ganz noch teilweise mit der Mehrwertsteuer belastet werden darf.
Urteil vom 18. Oktober 2012, Rechtssache C-525/11; Randnr. 24, 27

Kritische Anmerkungen zum EuGH-Urteil vom 24.10.2013


Hintergrund:

Neufassung der Umsatzbesteuerung von Glücksspielumsätzen

Nach § 4 Nummer 9 lit. b) UStG waren in Deutschland Umsätze, die die zugelassenen öffentlichen Spielbanken mit Glücksspielen oder Glücksspielgeräten erzielten, von der Umsatzsteuer befreit. Außerhalb solcher Spielbanken waren die Umsätze hingegen steuerpflichtig.

Mit Urteil (Linneweber/Akritidis) vom 17.02.2005 (Rs. C-453/02 und 462/02) hat der EuGH zu beiden vorgelegten Fällen entschieden, dass die Umsatzsteuerbefreiung des § 4 Nummer 9 lit. b) UStG auch auf den Betrieb von Glücksspielen außerhalb öffentlicher Spielbanken auszudehnen ist. Die Umsatzsteuerbefreiung nach der Richtlinie 77/388/EWG sei daher unmittelbar anzuwenden, ohne dass dabei die EU-rechtswidrigen Beschränkungen des deutschen Umsatzsteuergesetzes zu beachten seien.

*  In der Urteilsbegründung Linneweber C-453/02, C-462/02 wurde unter der Rn. 33, 34 auf die Entscheidung Becker 8/81, Slg. 1982, 53 verwiesen, mit der der Gerichtshof bereits entschieden hatte, dass sich die "Bedingungen" in keiner Weise auf den Inhalt der vorgegebenen Steuerbefreiung erstrecken dürfen, womit sich die Regelungsbefugnis der Mitgliedstaaten ausschließlich auf die Zulassung von Glücksspielen beschränkt. (vgl. Leitsatz Nr 3, Rn 20 ff, 25, 33, 43, 44, 45, 46).
vgl. Schlussanträge in der Rs. Becker zu den "Bedingungen"

*  In der Urteilsbegründung Zimmermann (C-174/11), vom 15. November 2012, wurde unter der Rn 39 erneut auf die Entscheidung Becker verwiesen:
"Insoweit trifft es zwar zu, dass die Mitgliedstaaten nach dem Einleitungssatz von Art. 13 Teil A Abs. 1 der Sechsten Richtlinie die Bedingungen zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen müssen, doch dürfen sich diese Bedingungen nicht auf die Definition des Inhalts der vorgesehenen Befreiungen erstrecken (vgl. u. a. Urteile vom 19. Januar 1982, Becker, 8/81, Slg. 1982, 53, Randnr. 32, Kingscrest Associates und Montecello, Randnr. 24, und vom 14. Dezember 2006, VDP Dental Laboratory, C-401/05, Slg. 2006, I-12121, Randnr. 26)."
Da sich Unionsrechtsakte nicht widersprechen dürfen und dem Grundsatz der Rechtssicherheit genügen müssen (EuGH: T-50/06 RENV), erweist sich eine Abweichung von der in allen Mitgliedstaaten uneingeschränkt und unmittelbar gültigen MwSystRL, als unzulässig. 

Stellungnahme des Bundesrates
Der Bundesrat hat in seiner 812. Sitzung am 17. Juni 2005 beschlossen, zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Abs. 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung zu nehmen:
Zum Gesetzentwurf allgemein
Der Gesetzentwurf wird abgelehnt.
Für den Fall, dass der Deutsche Bundestag das Gesetz gleichwohl beschließt, würde eine Umsatzbesteuerung im Bereich der öffentlichen Spielbanken Forderungen zur Senkung der Spielbankabgabe der Länder nach sich ziehen.
Damit würden den Ländern erhebliche Nachteile entstehen.
Die Erweiterung der Umsatzsteuerpflicht käme hingegen aufgrund der Systematik B
und Ländergesamtheit im Verhältnis ihrer jeweiligen Anteile zugute. Wegen der zu erwartenden Ausfälle müssten die Mehreinnahmen allein der Ländergesamtheit zufließen.
Der Bundesrat teilt die Annahmen der Bundesregierung zu den Umsatzsteuermehreinnahmen nicht. Angesichts der von den öffentlichen Spielbanken erzielten Erlöse wäre von jährlichen Umsatzsteuer mehreinnahmen in Höhe von rd. 120 Mio. Euro auszugehen. Dieser Vorteil stünde allein der Ländergesamtheit zu.
Quelle

Für die Zustimmung zur Rechtsänderung erhielten die Bundesländer, als Besitzer staatlicher Spielbanken, Ausgleichszahlungen i. H. von 60 Mio. EUR durch den Bund, sowie jährliche Kompensationszahlungen, wodurch die anfallende MwSt. im Grunde durch den Steuerzahler gezahlt werden und nicht durch die Spielbankunternehmen.
Beweis:
Thüringer Landtag Ds. 4/5432:
Quelle

Durch die jährlichen Zuwendungen (Ausgleichszahlungen) des Bundes und die Verrechnung mit der Spielbankenabgabe werden die Spielbankbetreiber gegenüber den Spielhallenbetreibern „doppelt” begünstigt.

Reihengeschäfte im EU-Binnenmarkt   (pdf-download)

Mit dem Gesetz vom 28. April 2006 (BGBl. I S. 1095) ist Deutschland den Urteilen (Linneweber/Akritidis) des Europäischen Gerichtshofs nicht gefolgt und hat entgegen den  rechtlichen Vorgaben der Union (Art. 135 Abs. 1 lit. i)  i.V.m. Art. 137 und Art. 401 MwStSystRL 2006/112/EG DES RATES) durch Neufassung des § 4 Nr. 9 lit. b) UStG, auch die Glücksspielumsätze aus dem Spielbetrieb der Spielbanken, ab dem 6. Mai 2006, der Umsatzsteuer unterworfen, obwohl auch diese absolut und bedingungslos umsatzsteuerbefreit sind (vgl. EuGH Rs 8/81, Becker, vgl. Leitsatz Nr. 3, Rn.20 ff., 25, 33, 43, 44, 45 und 46; vgl. Leo-Libera, Rn 24).


Beweis:
Neufassung von § 4 Nr. 9 lit. b), des deutschen Umsatzsteuergesetzes (UStG) vom 28. April 2006 (BGBl. I S. 1095)
Quelle

Rechtsprechung des BVerfGE zum Anwendungsvorrang

Das Bundesverfassugsgericht führt in seinem Kloppenburg-Beschluß zum Anwendungsvorrang unter der Rn. 61 wie folgt aus:
“Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts kommt für den Fall eines Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht auch vor deutschen Gerichten der Anwendungsvorrang zu. Dieser Anwendungsvorrang gegenüber späterem wie früherem nationalem Gesetzesrecht beruht auf einer ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts, der durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 GG der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist (vgl. BVerfGE 31, 145 [173 ff.]; Scheuner.

Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft und Verfassungsrechtsprechung, AöR 100 [1975], S. 30 [40 f.]). Art. 24 Abs. 1 GG enthält die verfassungsrechtliche Ermächtigung für die Billigung dieser Vorrangregel durch den Gesetzgeber und ihre Anwendung durch die rechtsprechende Gewalt im Einzelfall BVerfGE 75, 223 (244)BVerfGE 75, 223 (245)(BVerfGE 73, 339 [375]; Scheuner, a.a.O., S. 44; Tomuschat in: Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Art. 24 [Zweitbearb.], Rdnr. 76 mit zahlreichen weiteren Nachweisen).“
Quelle: BVerfGE 75, 223 - Kloppenburg-Beschluß  – 2 BvR 687/85 –

Anwendungsvorrang:
  • Unionsrecht vor mitgliedstaatlichem (nationalem) Recht
  • Verfassung vor Gesetz
  • besondere Vorschrift vor allgemeiner Vorschrift (lex specialis derogat legi generali)
Der EuGH entschied bereits zur Verpflichtung zu einer richtlinienkonformen Auslegung von Richtlinien und zur Rechtssicherheit (Gewissheit des Bürgers über seine Rechte)

Die Mitgliedsstaaten haben den Grundsatz der Rechtssicherheit zu beachten. (Gewissheit des Bürgers über seine Rechte) Um die volle Anwendung der Richtlinie in rechtlicher und nicht nur in tatsächlicher Hinsicht zu gewährleisten, müssen die Mitgliedstaaten einen eindeutigen gesetzlichen Rahmen auf dem betreffenden Gebiet bereitstellen. TA-Luft (Rs. C-361/88) Slg. 1991, I-2567 HV, 170

Dagegen verlangt das Unionsrecht die Einheitlichkeit des Rechts und eine  richtlinienkonforme Auslegung, um die vollständige Wirksamkeit der Richtlinie entsprechend ihrer Zielsetzung zu gewährleisten.  Harz (Rs. 79/83) Slg. 1984, 1921 HV, 29  Daran gebunden sind alle Träger öffentlicher Gewalt, auch die Gerichte.  Köbler (Rs. C-224/01) 

Die gemeinschaftsrechtsfreundliche Auslegung nationaler Rechtsnormen, ergibt sich aus der Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts aus Art. 10 EGV und – wenn es um die Umsetzung von Richtlinien geht – zusätzlich aus Art. 249 III EGV. Gebunden sind durch dieses Interpretationsgebot alle Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, also auch Behörden, Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verwaltungsbehörden. Verstöße sind rechtsmißbräuchlich und schuldhaft.

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass der Grundsatz der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, aus dem Wesen des EG-Vertrags folgt. 
weiterlesen

Beim Geltungsvorrang kollidieren zwei Rechtsnormen, weil sie den gleichen Sachverhalt regeln. Durch die höherrangige Rechtsnorm, die sich aus der DVO zur RL ergibt, wird die niederrangige nationale Regelung verdrängt, wodurch diese nichtig wurde. Das bedeutet, dass die nationale Norm überhaupt nicht mehr angewendet werden kann.

Die DurchführungsVO (DVO) ist - ohne dass es eines nationalen Umsatzungsakts bedarf - unmittelbar geltendes Recht.

Sie bindet damit:

die Mitgliedstaaten (Wirtschaftsteilnehmer, Verwaltung und Gerichtsbarkeit),
die Europäische Kommission und
auch den EuGH!

Quelle:  Umsatzsteuer in der Praxis, Rüdiger Weinmann (S 17)

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