Montag, 12. Juni 2017

Kritik am Beschluss des BVerfG vom 07.März 2017 zum Spielhallenrecht


Beschluss des BVerfG vom 07.März 2017 zum Spielhallenrecht

Grundrechte sind keine Grundfreiheiten weiterlesen

Die landesrechtlichen Einschränkungen für Spielhallen sind verfassungsgemäß – ob diese unionsrechtskonform sind, wurde trotz Binnenmarktrelevanz nicht geprüft, womit das BVerfG seine eigenen Entscheidungen nicht ernst nimmt!

Bereits die Beweiserhebung war unzureichend - Verstoß gegen die Artikel 19 Abs. 4 und Artikel 3 Abs.1 Grundgesetz (GG) (Entscheidung v. 23.01.2017; Az. 2 BvR 2584/12; s.u.a. Rn 13)
Bundesverfassungsgericht zum Schuldgrundsatz  und Anwendungsvorrang...
(Beschluss vom 15. Dezember 2015; 2 BvR 2735/14)
Die Grundsätze des effektiven Rechtsschutzes sind bei der Auslegung verfahrensrechtlicher Vorschriften zu beachten. (Beschluss vom 21.10.2015; Az. 2 BvR 912/15, Rn 22)

Auch die EuGH - Rechtsprechung zum Spielhallenrecht blieb unbeachtet ! weiterlesen
(vgl. u.a. Admiral (C-464/15) Rn 22 ff, EuGH Berlington (C-98/14) Rn 90, Pfleger (C-390/12)

Wegen der Binnenmarktrelevanz (Geldspielgeräte stammen zum Großteil von AGI aus Österreich; Bürger und Firmen aus der Union betreiben Spielhallen) unterliegt  das Spielhallenrecht zweifelsfrei dem Unionsrecht. 

Es wurde nicht nachgewiesen, dass die komplexen Anforderungen des EU-Rechts an die Rechtfertigung und die Verhältnismäßigkeit von Eingriffen in die Grundfreiheiten aus Art. 49 und 56 AEUV eingehalten werden. Die Unionsrechtswidrigkeit des GlüStV und seiner Ausführungsgesetze wurde durch den EuGH zuletzt in der RS. INCE festgestellt, womit dieser unanwendbar wurde und die nationalen Regelungen gegen die Grundrechte und Grundfreiheiten verstoßen.
  • Unzulässige Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit (s.u.a. Fortuna)
  • Ungerechtfertigter Eingriff in die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit (s.u.a.Admiral)
  • Ungerechtfertigter Eingriff in Unionsgrundrechte (s.u.a. Pfleger)
Bereits der Artikel 34 AEUV verbietet mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten.
Eine Maßnahme gleicher Wirkung ist, wie festgestellt, jede Handelsregelung eines Mitgliedstaates, die geeignet ist, den Handel in der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich behindern, wie z. B. die Mindestabstandsregelung, mit der der Markt um bis zu 90 % eingeschränkt werden soll.
(vgl. EuGH Rs. Fortuna C-213/11, Grand C-214/11 und Forta C-217/11, Rn 38)

Das LVwG-411652/5/Gf/Mu, führt unter der Rn. 3.2.2. wie folgt aus: 

Aus dieser jüngeren Judikaturentwicklung geht somit deutlich hervor, dass die frühere Grenzziehung zwischen der Anwendbarkeit der unionsrechtlichen Grundfreiheiten, im Besonderen der Dienstleistungs- und der Niederlassungsfreiheit, einerseits und der Zuständigkeit des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV andererseits zunehmend aufgelöst wird. Unionsrecht, insbesondere die im AEUV normierten Grundfreiheiten und die Garantien der EGRC, kommt bzw. kommen daher nicht nur in Fällen mit einem unmittelbaren Auslandsbezug zum Tragen:
Vielmehr reicht auf der einen Seite ein auch nur hypothetischer Auslandsbezug hin, dann nämlich, wenn sich – so der EuGH – „keineswegs ausschließen“ lässt, dass auch im Ausland ansässige Unternehmer ein Interesse an der Erlangung einer durch nationale Rechtsvorschriften eingeschränkten Erlaubniserteilung haben könnten (vgl. oben EuGH vom 30. Juni 2016, C-464/15 [Admiral Casinos & Entertainment AG, EU:C:2016:500], RN 22; vom 13. Februar 2014, C-367/12 [Sokoll-Seebacher, EU:C:2014:68], RN 10; und vom 19. Juli 2012, C-470/11 [Garkalns, EU:C:2012:505], RN 20). 
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(Entscheidungsbesprechung)

Verfassungsblog
v. Professor Heiko Sauer:

......Entscheidend ist die Frage, ob der Senat der kumulierten Eingriffsintensität für die Betroffenen hinreichend Rechnung getragen hat, und daran kann man zweifeln. In Bezug auf den Gesetzesvorbehalt referiert der Senat zunächst pflichtschuldig seine ständige Rechtsprechung, nach der alle wesentlichen Fragen bei Grundrechtseingriffen gesetzlich geregelt werden müssen, die Kriterien für Auswahlentscheidungen vorgezeichnet  sein müssen und die gesetzliche Regelung umso detaillierter ausfallen muss, je intensiver ihre Auswirkungen auf die Grundrechtsausübung sind (Rn. 182).

Dann aber hält er es für verfassungsrechtlich unproblematisch, dass die Landesgesetzgeber die Auswahlentscheidung zwischen mehreren Bestandsspielhallen innerhalb der Mindestabstände teilweise komplett den Behörden überlassen, ohne ihre Parameter auch nur ansatzweise vorzuzeichnen.

Das ist nicht nur im Ergebnis das Gegenteil von dem, was sich aus der Verfassungsrechtsprechung sonst ergibt – auch die Begründung frappiert: Wenn es zunächst heißt, es gehe ja nicht um die grundsätzliche und allgemeine Zuordnung unterschiedlicher Grundrechtspositionen für eine unbestimmte Vielzahl künftiger Auswahlentscheidungen (Rn. 183), so ist daran nur richtig, dass die Anzahl der Auswahlentscheidungen anhand der Zahl der gegenwärtig betriebenen Spielhallen bestimmbar ist.

Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass in einer Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle von den zuständigen Behörden entschieden werden muss, welche der Bestandsspielhallen noch neue Genehmigungen erhalten und welche nicht.

Sodann verweist der Senat darauf, die ohnehin erforderliche Berücksichtigung der Grundrechte der Spielhallenbetreiber gebiete es auch ohne gesetzliche Bestimmung, dass die Behörden sich eines Verteilungsmechanismus bedienten, der die bestmögliche Ausschöpfung verbleibender Standortkapazitäten ermögliche (Rn. 185).

Das ist natürlich richtig – aber mit dem allgemeinen Hinweis auf die Grundrechtsunmittelbarkeit der Verwaltung kann man einen materiell verstandenen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt auch ganz abschaffen oder ihn rein formal verstehen und sich auf Generalermächtigungen beschränken.

Erstaunlich ist auch die Feststellung, es sei nicht ersichtlich, dass eine gesetzliche Festlegung von Auswahlkriterien den anstehenden komplexen Auswahlentscheidungen besser gerecht werde (Rn. 185 f.) – es geht doch gar nicht um die inhaltliche Qualität des Verwaltungshandelns, sondern um dessen sachlich-inhaltliche Legitimation, die maßgeblich durch seine gesetzliche Steuerung hergestellt wird.

Deshalb irritiert auch der Hinweis, die Länder könnten den Gesetzesvollzug auch im Wege der Verordnungsgebung oder durch Verwaltungsvorschriften steuern, Rn. 186.

Man fragt sich, ob die Verfassungsrechtsprechung zum rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalt hier eine ganz grundsätzliche Wende nimmt. Sollte das der Fall sein, wird man künftig vielleicht fragen müssen, wo eine Entscheidung eine mittlere bis erhöhte Komplexität aufweist, was die Anforderungen an die gesetzliche Regelungsdichte erhöht, und ab wann eine sehr hohe Komplexität vorliegt, sodass der Gesetzgeber die Hände in den Schoß legen kann.
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Hervorhebung durch VS