Sonntag, 1. Februar 2015

BGH verletzte Garantie des gesetzlichen Richters


BVerfG zur unterlassenen Richtervorlage


Indem der BGH eine Bestimmung des Planungsschadensrechts im BauGB, welche er für verfassungswidrig hielt, in "unvertretbarer Weise" verfassungskonform ausgelegt und deshalb nicht dem BVerfG vorgelegt hat, hat er nach Ansicht des BVerfG gegen die grundgesetzliche Garantie des gesetzlichen Richters verstoßen. Dies geht aus einem am Dienstag bekannt gegebenen Beschluss aus Dezember vergangenen Jahres hervor.
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Unterlassen einer Richtervorlage aufgrund unvertretbarer verfassungskonformer Gesetzesauslegung verletzt die Garantie des gesetzlichen Richters

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
1 BvR 2142/11

L e i t s ä t z e

zum Beschluss des Ersten Senats vom 16. Dezember 2014

Eine Behörde kann sich in fachgerichtlichen Verfahren, an denen sie nach dem maßgeblichen Verfahrensrecht anstelle ihres Rechtsträgers beteiligt ist, auf die justiziellen Gewährleistungen aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG berufen und deren Verletzung im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen.
Ein Fachgericht, das entgegen Art. 100 Abs. 1 GG die Vorlage zur Normenkontrolle an das Bundesverfassungsgericht unterlässt, weil es in nicht vertretbarer Weise die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung des betreffenden Gesetzes annimmt, verletzt die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).


Pressemitteilung Nr. 5/2015 vom 27. Januar 2015

Beschluss vom 16. Dezember 2014
1 BvR 2142/11
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss der Verfassungsbeschwerde einer Enteignungsbehörde gegen eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Entschädigung bei einer sogenannten isolierten eigentumsverdrängenden Planung stattgegeben. Die Enteignungsbehörde kann sich vorliegend auf die justiziellen Gewährleistungen aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG berufen, da sie nach dem maßgeblichen Verfahrensrecht anstelle ihres Rechtsträgers am Entschädigungsverfahren beteiligt ist. Der Bundesgerichtshof hat die Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die angegriffene Entscheidung verletzt, indem er eine Vorlage zur Normenkontrolle an das Bundesverfassungsgericht infolge einer unvertretbaren verfassungskonformen Auslegung des Baugesetzbuches unterlassen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Entscheidung daher aufgehoben und das Verfahren an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist die Höhe der Entschädigung für den Verlust des Eigentums an einem Grundstück in B. Auf dem Grundstück und einem angrenzenden Nachbargrundstück befindet sich nach Kriegszerstörungen bis heute keine Wohnbebauung; es handelt sich um die einzigen unbebauten Grundstücke des Straßenblocks. Seit 1993 liegt das Grundstück in einem Sanierungsgebiet. In der Begründung zur Sanierungsverordnung ist unter anderem ausgeführt, dass „zur Sicherung der Grünflächenversorgung … unbebaute Grundstücke für öffentliche Freiflächen gesichert werden“ müssen. Ein Antrag auf Bebauung des Grundstücks wurde 2004 abgelehnt. Die Eigentümer beantragten daraufhin die Übernahme des Grundstücks durch die Gemeinde. Die Enteignungsbehörde setzte die Entschädigung auf 105.500 € fest; dies entspricht einem Verkehrswertgutachten auf Basis der zum Stichtag tatsächlich ausgeübten Nutzung, während sich der Verkehrswert auf der Basis der damals planungsrechtlich zulässigen Nutzung als Baugrundstück auf 225.000 € belaufen hätte. Maßgeblich für die geringere Entschädigung war aus Sicht der Enteignungsbehörde, dass das Grundstück nicht innerhalb der Sieben-Jahres-Frist des § 42 Abs. 2 und 3 BauGB zur zulässigen Bebauung genutzt worden war. Die Eigentümer stellten daraufhin Antrag auf gerichtliche Entscheidung.

Der fachgerichtliche Rechtsweg endete mit einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs, nach der den Eigentümern eine Entschädigung von insgesamt 225.000 € zustehe. Bei „isolierter“ eigentumsverdrängender Planung, wenn die die spätere Enteignung auslösende Planung also nicht von einer gleichzeitigen allgemeinen Nutzungsbeschränkung im Plangebiet begleitet werde, könne ungeachtet der Sieben-Jahres-Frist des § 42 Abs. 2 und 3 BauGB eine Entschädigung nach der planungsrechtlich zulässigen Nutzbarkeit verlangt werden. Dies gelte ebenso bei Ablehnung eines Bebauungsantrags wegen entgegenstehender Ziele und Zwecke der Sanierung; die Verweisung in § 95 Abs. 2 Nr. 7 BauGB sei auch in diesem Fall verfassungskonform einschränkend auszulegen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Verfassungsbeschwerde der Enteignungsbehörde.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

1. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um eine Behörde handelt. Hinsichtlich der Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ist sie vorliegend beschwerdefähig.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können sich juristische Personen des öffentlichen Rechts, wenn sie an einem Rechtsstreit in Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben beteiligt sind, auf die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) und auf das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) berufen. Im Unterschied zu den Grundrechten aus Art. 1 bis Art. 17 GG, die juristische Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich nicht beanspruchen können, enthalten Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG auch objektive Verfahrensgrundsätze, die für jedes gerichtliche Verfahren gelten und daher auch jedem zugutekommen müssen, der nach den maßgeblichen Verfahrensnormen parteifähig oder von dem Verfahren unmittelbar betroffen ist. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass die Funktion richterlicher Entscheidungen im Rechtsstaat nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie unter Beachtung der Erfordernisse eines gehörigen Verfahrens gewonnen werden, die im Interesse gerechter richterlicher Urteilsfindung unverzichtbar sind.

Diese Erwägungen greifen auch dann, wenn eine Behörde nach dem einschlägigen Verfahrensrecht - wie hier - Beteiligte im fachgerichtlichen Verfahren sein kann. Erkennt die Rechtsordnung einer Behörde die Fähigkeit zu, anstelle ihres Rechtsträgers an einem gerichtlichen Verfahren beteiligt zu sein, so kann sie alle Prozesshandlungen vornehmen und für sich alle Verfahrensrechte beanspruchen. Dann dürfen der beteiligten Behörde in den betreffenden Verfahren die justiziellen Gewährleistungen nicht vorenthalten bleiben. Hier ist der Beschwerdeführerin für das Ausgangsverfahren durch § 222 Abs. 1 Satz 2 BauGB uneingeschränkt Beteiligtenfähigkeit anstelle des Rechtsträgers eingeräumt, denn sie hat als Enteignungsbehörde den angegriffenen Verwaltungsakt über die Höhe der Entschädigung für das übernommene Grundstück erlassen. Die Beschwerdeführerin kann daher insbesondere die Garantie des gesetzlichen Richters im Ausgangsverfahren für sich beanspruchen und eine Verletzung im Wege der Verfassungsbeschwerde rügen.

Der Beschwerdeführerin fehlt allerdings die Beschwerdefähigkeit, soweit sie eine Verletzung der rechtsstaatlichen Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) und des Grundsatzes der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) aus dem Grund rügt, dass nicht nur Art. 14 Abs. 1 und 3 GG fehlerhaft abgegrenzt, sondern auch die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschritten seien. Von der Geltendmachung eines materiellen Grundrechtes ist der Staat und seine organisatorischen Untergliederungen - von einzelnen, hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen - ausgeschlossen.

2. Der Bundesgerichtshof hat das Recht der Beschwerdeführerin auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt, indem er seiner Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 1 GG aufgrund der unvertretbaren Annahme, eine verfassungskonforme Auslegung sei möglich, nicht nachgekommen ist.

a) Für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG genügt nicht schon jede irrtümliche Überschreitung der den Fachgerichten gezogenen Grenzen. Sie kommt aber in Betracht, wenn das Fachgericht Bedeutung und Tragweite dieser Gewährleistung grundlegend verkannt hat oder wenn die maßgeblichen Verfahrensnormen in objektiv willkürlicher Weise fehlerhaft angewandt wurden. Ferner kann ein Fachgericht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen, wenn es seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht nachkommt und die Betroffenen so ihrem gesetzlichen Richter entzieht, zu dem in diesem Fall das Bundesverfassungsgericht berufen ist. Ein Fachgericht verletzt die Garantie des gesetzlichen Richters insbesondere dann, wenn es die Vorlage einer Norm, von deren Verfassungswidrigkeit es ansonsten überzeugt wäre, unterlässt, weil es in nicht vertretbarer Weise die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung des betreffenden Gesetzes annimmt.

b) Vorliegend hat der Bundesgerichtshof die Bedeutung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als einer grundrechtsgleichen Gewährleistung und die Tragweite der hieraus folgenden Garantie des gesetzlichen Richters uneingeschränkt erkannt. Auch wenn sich im angegriffenen Urteil hierzu keine Ausführungen finden, hat der Bundesgerichtshof die Frage nach einer Vorlagepflicht keineswegs übergangen, sondern in Fortführung seiner Judikatur zur „isolierten“ eigentumsverdrängenden Planung wegen der von ihm angenommenen Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung inzident verneint.

c) Der Bundesgerichtshof hat jedoch gegen die Garantie des gesetzlichen Richters dadurch verstoßen, dass er die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung in nicht vertretbarer Weise bejaht, daher die von ihm als eigentlich verfassungswidrig angenommene Regelung des Planungsschadensrechts in § 95 Abs. 2 Nr. 7 BauGB außer Anwendung gelassen und entgegen Art. 100 Abs. 1 GG nicht dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt hat.

aa) Zwar gilt auch hier der Grundsatz, dass nicht schon jeder Fehler des Fachgerichts bei der Anwendung einer Zuständigkeitsnorm die Annahme eines Verfassungsverstoßes rechtfertigen kann. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass es bei Art. 100 Abs. 1 GG um die Beachtung einer Vorlageverpflichtung geht, die nicht nur - wie sonst üblich - aus dem einfachen Gesetzesrecht folgt, sondern die im Rang einer Verfassungsnorm steht. Die Vorschrift soll verhindern, dass sich die Fachgerichte über den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen, indem sie seinem Gesetz die Anerkennung versagen. Gesetze, die unter der Herrschaft des Grundgesetzes erlassen worden sind, sollen befolgt werden, solange nicht das Bundesverfassungsgericht ihre Nichtigkeit oder Unwirksamkeit allgemeinverbindlich festgestellt hat. Zudem soll es über die Gültigkeit von Gesetzen keine einander widersprechenden Gerichtsentscheidungen geben. Hierdurch dient die Vorlageverpflichtung noch dem weiteren Ziel, Rechtsunsicherheit und Rechtszersplitterung infolge divergierender  Entscheidungen der Fachgerichte zu vermeiden.

Die Bedeutung dieser Verfassungsziele rechtfertigt es, bei Verletzung des Art. 100 Abs. 1 GG im Regelfall nicht von einem bloßen unschädlichen Rechtsanwendungsfehler, sondern von einem verfassungswidrigen Entzug des gesetzlichen Richters auszugehen. Bezogen auf die Rechtsanwendung als solche muss deshalb kein besonders schwerer Fehler des Fachgerichts vorliegen, damit eine entgegen Art. 100 Abs. 1 GG unterlassene Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zugleich als eine Missachtung der Garantie des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG anzusehen ist. Entscheidend ist, ob die Rechtsanwendung im konkreten Fall - hier das Absehen von einer Vorlage mittels einer verfassungskonformen Auslegung - sachlich vertretbar ist.

bb) Daran gemessen hat der Bundesgerichtshof durch das Unterlassen der Vorlage zur Normenkontrolle an das Bundesverfassungsgericht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen.

(1) Die Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 1 GG setzt voraus, dass das Fachgericht an der Verfassungsmäßigkeit eines entscheidungserheblichen Gesetzes nicht nur zweifelt, sondern - vorbehaltlich einer verfassungskonformen Auslegung - von der Verfassungswidrigkeit überzeugt ist. Diese Überzeugung hatte der Bundesgerichtshof gewonnen. In dem angegriffenen Urteil verweist der Bundesgerichtshof zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung in Fällen „isolierter“ eigentumsverdrängender Planung. Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof gestützt auf seine Annahme von der sonstigen Verfassungswidrigkeit der einschlägigen Reduktionsklauseln des Planungsschadensrechts entwickelt. Er erstreckt sie nun auf den vorliegenden Fall, bei dem ein Bebauungsantrag wegen entgegenstehender Ziele und Zwecke der Sanierung abgelehnt worden ist.

(2) Die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung, wie sie der Bundesgerichtshof im Ausgangsverfahren vornehmen will, ist vorliegend offensichtlich verstellt.

(a) Es fehlt bereits an einer normativen Grundlage, die Anlass und Anknüpfungspunkt für eine verfassungskonforme Auslegung sein könnte. Schon der Wortlaut des § 95 Abs. 2 Nr. 7 BauGB gibt keinen Anknüpfungspunkt für die vom Bundesgerichtshof vorgenommene einschränkende Auslegung, nach der einzelne Fälle von dem Anwendungsbereich der Vorschrift ausgeschlossen sein sollen. Ihrem Wortlaut nach lässt die Bestimmung keine Deutungsmöglichkeit dahingehend zu, dass Bodenwerte, die gemäß §§ 40 bis 42 BauGB ausgeschlossen sind, in bestimmten Kon-stellationen doch zu berücksichtigen seien. Als generelle Verweisungsnorm ermöglicht die Vorschrift auch nach dem Zusammenhang, in den sie gestellt ist, keine solche Einschränkung.

 (b) Vor allem aber stehen der aus der Entstehungsgeschichte ersichtliche gesetzgeberische Wille und der Gesetzeszweck einer solchen Reduktion entgegen. Im Gesetzgebungsverfahren des Jahres 1976, das zur Einfügung der Sieben-Jahres-Frist in das Gesetz führte, kam der im Bundestag federführende Ausschuss für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau mehrheitlich zu der Einschätzung, dass die sehr weitgehende Verkehrswertentschädigung von Planungsschäden auch bei nicht ausgeübten Nutzungen zu einer weitgehenden Erstarrung der Planung geführt habe. Die Gemeinden hätten sich bisher zumeist daran gehindert gesehen, auch dringend notwendige Umplanungen durchzuführen, weil sie die damit verbundenen hohen Entschädigungslasten nicht hätten tragen können. Der Ersatz von Planungsschäden solle daher generell nur noch auf verwirklichte Nutzungen beschränkt werden; für nicht verwirklichte Nutzungen solle eine entschädigungsrechtliche Schutzfrist von sieben Jahren gelten.

(3) Die Annahme, im Ausgangsverfahren sei eine verfassungskonforme Auslegung des § 95 Abs. 2 Nr. 7 BauGB möglich gewesen, überschreitet die Grenzen einer vertretbaren Interpretation und ist damit von verfassungsrechtlicher Relevanz. Auch wenn nicht das Maß grober Fehlerhaftigkeit erreicht ist und die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in der Literatur seit mehr als einem Jahrzehnt nur vereinzelt auf Ablehnung stößt, wurden die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer verfassungskonformen Auslegung doch deutlich verfehlt.