Dienstag, 13. März 2012

EuGH: Rank-Urteil

EuGH klärt Grundsatz der steuerlichen Neutralität bei Glücksspielen


EuGH - Urteile zur Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuern s.u.


von Rechtsanwalt Martin Arendts, M.B.L.-HSG

In seiner das britische Unternehmen The Rank Group PLC betreffenden Vorlageentscheidung hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) den Grundsatz der der steuerlichen Neutralität bei der Umsatzbesteuerung von Glücksspielen geklärt (Urteil vom 10. November 2011, Rs. C-259/10 und C-260/10). Sofern der Mitgliedstaat – auch unabsichtlich – gegen eine unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmung verstößt, besteht ein Anspruch auf Steuerbefreiung.

Die Umsatzsteuer ist europarechtlich harmonisiert, d.h. einheitlich geregelt, hier insbesondere durch die sog. Sechste Mehrwertsteuer-Richtlinie (Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern). Für Glücksspiele gibt es eine Umsatzsteuerbefreiung. Nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Mehrwertsteuer-Richtlinie sind Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden, von der Mehrwertsteuer befreit.

In dem britischen Ausgangsverfahren ging es darum, dass Rank Mehrwertsteuerzahlungen für den Zeitraum 2003 bis 2005 bzw. Oktober 2002 und Dezember 2005 erstattet haben wollte, die es für bestimmte Glücksspiele erbracht hatte (mc-Bingo bzw. Geldspielautomaten). Glücksspiele, die nach britischem Recht zu unterschiedlichen Lizenzkategorien gehörten und unterschiedlichen rechtlichen Regelungen hinsichtlich ihrer Aufsicht und Regulierung unterlagen, wurden in diesem Zeitraum unterschiedlich besteuert. Rank argumentierte gegen diese unterschiedliche Besteuerung mit einer Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH lässt es dieser Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht zu, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln.

Der EuGH hält in seinem Rank-Urteil zunächst fest, dass die Gleichartigkeit zweier Dienstleistungen dazu führt, dass sie in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen (Rn. 33).

Daher stelle das tatsächliche Bestehen eines Wettbewerbsverhältnisses zwischen zwei Dienstleistungen keine zusätzliche Voraussetzung für eine Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität dar, wenn die betreffenden Dienstleistungen aus der Sicht des Verbrauchers gleich oder gleichartig sind und dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen (Rn. 34).

Für die Annahme einer solchen Verletzung bedarf es also nicht noch zusätzlich der Feststellung, dass die betreffenden Dienstleistungen tatsächlich in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen oder dass der Wettbewerb wegen dieser Ungleichbehandlung verzerrt ist.

Bei der Beantwortung der Frage, ob zwei Dienstleistungen im Sinne der in der genannten Randnummer angeführten Rechtsprechung gleichartig sind, ist in erster Linie auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen (Rn. 43). Auf unbedeutenden Unterschieden beruhende künstliche Unterscheidungen müssen nach Ansicht des EuGH vermieden werden.

Hinsichtlich der Umsatzsteuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie verweist der EuGH darauf, dass nach der Formulierung den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Befreiung oder Besteuerung der betreffenden Umsätze ein weiter Wertungsspielraum eingeräumt ist. Machten die Mitgliedstaaten jedoch von der Befugnis, die Bedingungen und Grenzen der Befreiung festzulegen und damit Umsätze der Mehrwertsteuer zu unterwerfen oder nicht, Gebrauch, müssten sie den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten (Rn. 41).

Dieser Grundsatz verbiete im Bereich der Mehrwertsteuererhebung eine allgemeine Differenzierung zwischen unerlaubten und erlaubten Geschäften. Bei der Prüfung der Gleichartigkeit von zwei Glücksspielen kann daher nicht berücksichtigt werden, ob deren Veranstaltung rechtmäßig oder rechtswidrig ist (Rn. 45).

Für die Prüfung der Gleichartigkeit von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten komme es auf die Identität der Veranstalter bzw. Betreiber dieser Glücksspiele und Geräte sowie auf die Rechtsform, in der sie ihre Tätigkeiten ausüben, grundsätzlich nicht an (Rn. 46).

Unterschiede, die zwischen Gaststätten und Spielhallen einerseits und zugelassenen Casinos andererseits hinsichtlich des Rahmens bestehen, in dem dort jeweils Glücksspiele angeboten werden (hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Zugangsmöglichkeit sowie des Ambiente), sind für die Vergleichbarkeit dieser Spiele unerheblich (Rn. 47).

Für die Beurteilung der Vergleichbarkeit der betreffenden Glücksspiele komme es auch auf die Unterschiede in der rechtlichen Regelung nicht an (Rn. 49).

Zwar können unterschiedliche Glücksspielkategorien unterschiedlich besteuert werden, so etwa Steuerpflicht bei Glücksspielautomaten und Steuerbefreiung bei Wetten, Lotterien und Ausspielungen. Um den Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht auszuhöhlen und das gemeinsame Mehrwertsteuersystem nicht zu verfälschen, kann eine Ungleichbehandlung bei der Mehrwertbesteuerung nicht auf Detailunterschiede in der Struktur, den Modalitäten oder den Regeln der betreffenden Glücksspiele gestützt werden, die, wie Geldspielautomaten, sämtlich zu derselben Kategorie von Glücksspielen gehören (Rn. 55).

Diese Differenzierung hat aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers zu erfolgen, wobei die maßgeblichen oder wichtigen Umstände zu berücksichtigen sind, die dessen Entscheidung, das eine oder das andere Glücksspiel zu spielen, erheblich beeinflussen können. Insoweit können Unterschiede bei den Mindest- und Höchsteinsätzen und ‑gewinnen, den Gewinnchancen, den verfügbaren Formaten und der Möglichkeit von Interaktionen zwischen dem Spieler und dem Geldspielautomaten erheblichen Einfluss auf die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers haben, da die Anziehungskraft von Glücksspielen mit Geldeinsatz in erster Linie auf der Möglichkeit eines Gewinns beruht (Rn. 57).

Eine bloße steuerliche Ungleichbehandlung in der Praxis führt nach Ansicht des EuGH nicht zu einer Erstattungspflicht. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität sei dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger nicht die Erstattung der für bestimmte Dienstleistungen entrichteten Mehrwertsteuer verlangen kann, wenn die Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats gleichartige Dienstleistungen in der Praxis wie steuerfreie Umsätze behandelt haben, obwohl diese Leistungen nach der einschlägigen nationalen Regelung eigentlich nicht mehrwertsteuerfrei sind (Rn 59 ff.).

Bei einer rechtswidrigen unterschiedlichen steuerrechtlichen Regelung besteht jedoch ein Rechtsanspruch auf Steuerbefreiung. Großbritannien hatte in dem Verfahren argumentiert, bei der Regulierung zwar verspätet, aber mit der "gebotenen Sorgfalt" auf die Entwicklung einer neuen Geräteart regiert zu haben. Dem widerspricht der EuGH. Ein Mitgliedstaat kann, wenn die Bedingungen oder Beschränkungen, von denen er die Mehrwertsteuerbefreiung für Glücksspiele mit Geldeinsatz abhängig macht, gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen, sich nicht auf diese Bedingungen oder Beschränkungen berufen, um dem Veranstalter solcher Glücksspiele die Steuerbefreiung, auf die dieser nach der Sechsten Richtlinie einen Rechtsanspruch hat, zu verweigern (Rn. 68).

Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie hat daher unmittelbare Wirkung. Ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten kann sich vor den nationalen Gerichten auf diese Bestimmung berufen, um die Anwendung mit ihr unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern (Rn. 69).

Eine solche unmittelbare Wirkung einer Richtlinienbestimmung hängt nach Ansicht des EuGH auch nicht davon ab, dass der betroffene Mitgliedstaat bei der Umsetzung der betreffenden Richtlinie absichtlich oder fahrlässig schuldhaft gehandelt hat oder dass eine hinreichend qualifizierte Verletzung von Unionsrecht vorliegt (Rn. 70).
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weitere Entscheidungen des EuGH s.u.



Verbundene Rechtssachen C-259/10 und C-260/10
Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs
gegen

The Rank Group plc


(Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal [England & Wales] [Civil Division] und des Upper Tribunal [Tax and Chancery Chamber])

„Steuerrecht – Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Befreiungen – Art. 13 Teil B Buchst. f – Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz – Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Mechanisiertes Bingo mit in Bargeld ausgezahlten Gewinnen (‚mechanised cash bingo‘) – Geldspielautomaten – Verwaltungspraxis, nach der die Rechtsvorschriften unterschiedlich angewandt werden – Auf die gebotene Sorgfalt (‚due diligence‘) gestütztes Verteidigungsvorbringen“

Leitsätze des Urteils

1.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Dienstleistungen – Unterschiedliche Behandlung zweier aus der Sicht des Verbrauchers gleicher oder gleichartiger Dienstleistungen – Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität
(Richtlinie 77/388 des Rates)

2.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Befreiung für Glücksspiele – Befugnis der Mitgliedstaaten, die Bedingungen und Beschränkungen der Befreiung festzulegen – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität
(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. f)

3.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Befreiung für Glücksspiele – Befugnis der Mitgliedstaaten, die Bedingungen und Beschränkungen der Befreiung festzulegen – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität
(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. f)

4.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Befreiung für Glücksspiele – Befugnis der Mitgliedstaaten, die Bedingungen und Beschränkungen der Befreiung festzulegen – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität
(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. f)

5.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Befreiung für Glücksspiele – Befugnis der Mitgliedstaaten, die Bedingungen und Beschränkungen der Befreiung festzulegen – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität
(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 13 Teil B Buchst. f)

1.        Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass es für die Feststellung einer Verletzung dieses Grundsatzes genügt, dass zwei aus der Sicht des Verbrauchers gleiche oder gleichartige Dienstleistungen, die dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden. Für die Annahme einer solchen Verletzung bedarf es also nicht dazu noch der Feststellung, dass die betreffenden Dienstleistungen tatsächlich in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen oder dass der Wettbewerb wegen dieser Ungleichbehandlung verzerrt ist.
(vgl. Randnr. 36, Tenor 1)

2.        Werden zwei Glücksspiele hinsichtlich der Gewährung der Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ungleich behandelt, so ist der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass nicht zu berücksichtigen ist, dass diese beiden Glücksspiele zu unterschiedlichen Lizenzkategorien gehören und unterschiedlichen rechtlichen Regelungen hinsichtlich ihrer Aufsicht und Regulierung unterliegen.

Diese Bestimmung hat den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Befreiung oder Besteuerung der betreffenden Umsätze einen weiten Wertungsspielraum eingeräumt, da sie ihnen gestattet, die Bedingungen und Beschränkungen festzulegen, von denen die Gewährung der Befreiung abhängig gemacht werden kann, sofern sie den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten.

Bei der Prüfung der Vergleichbarkeit zweier Glücksspiele, deren unterschiedliche Behandlung eine Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität begründen kann, kommt es auf Umstände wie die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Veranstaltung der Glücksspiele, die Identität der Veranstalter bzw. Betreiber dieser Glücksspiele und Geräte oder die Rechtsform, in der sie ihre Tätigkeiten ausüben, nicht an. Gleiches gilt für die Unterschiede, die zwischen Gaststätten und Spielhallen einerseits und zugelassenen Casinos andererseits hinsichtlich des Rahmens bestehen, in dem dort jeweils Glücksspiele angeboten werden, insbesondere hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Zugangsmöglichkeit sowie des Ambiente. Der Umstand schließlich, dass nur eine der beiden Arten von Glücksspielen einer nichtharmonisierten Abgabe unterliegt, kann ebenso wenig die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass diese Glücksspielarten nicht vergleichbar wären.
(vgl. Randnrn. 40-41, 45-48, 51, Tenor 2)

3.        Bei der im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität vorzunehmenden Prüfung, ob zwei Arten von Geldspielautomaten gleichartig sind und die gleiche Behandlung hinsichtlich der Mehrwertsteuer erfordern, ist zu prüfen, ob die Benutzung dieser Gerätearten aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers vergleichbar ist und dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigt, wobei insoweit insbesondere Gesichtspunkte wie die Mindest- und Höchsteinsätze und ‑gewinne und die Gewinnchancen berücksichtigt werden können.
(vgl. Randnr. 58, Tenor 3)

4.        Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger, der die Verletzung dieses Grundsatzes geltend macht, nicht die Erstattung der für bestimmte Dienstleistungen entrichteten Mehrwertsteuer verlangen kann, wenn die Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats gleichartige Dienstleistungen in der Praxis wie steuerfreie Umsätze behandelt haben, obwohl diese Leistungen nach der einschlägigen nationalen Regelung nicht mehrwertsteuerfrei sind.

Denn eine öffentliche Verwaltung, die nach einer allgemeinen Entscheidungspraxis verfährt, kann zwar an diese gebunden sein, jedoch muss der Grundsatz der Gleichbehandlung, der auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer im Grundsatz der steuerlichen Neutralität zum Ausdruck kommt, mit der Beachtung des Gebots rechtmäßigen Handelns in Einklang gebracht werden, wonach sich niemand zu seinem Vorteil auf eine zugunsten eines anderen begangene Rechtsverletzung berufen kann. Daraus folgt, dass ein Steuerpflichtiger nicht verlangen kann, dass ein bestimmter Umsatz derselben steuerlichen Behandlung wie ein anderer Umsatz unterworfen wird, wenn dessen Behandlung nicht mit der einschlägigen nationalen Regelung in Einklang steht.
(vgl. Randnrn. 61-64, Tenor 4)

5.        Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der vom Ermessen nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern Gebrauch gemacht und die Bereitstellung jeglicher Vorrichtungen zum Spielen von Glücksspielen von der Mehrwertsteuer befreit, von dieser Befreiung jedoch eine Kategorie von bestimmte Kriterien erfüllenden Geräten ausgenommen hat, gegen einen auf die Verletzung dieses Grundsatzes gestützten Antrag auf Mehrwertsteuererstattung nicht einwenden kann, mit der gebotenen Sorgfalt auf die Entwicklung einer neuen Geräteart, die diese Kriterien nicht erfüllt, reagiert zu haben.

Die unmittelbare Wirkung einer Richtlinienbestimmung, wie diejenige des Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388, hängt nicht davon ab, dass der betroffene Mitgliedstaat bei der Umsetzung der betreffenden Richtlinie absichtlich oder fahrlässig schuldhaft gehandelt hat oder dass eine hinreichend qualifizierte Verletzung von Unionsrecht vorliegt. Auf diese Bestimmung kann sich daher ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten berufen, um die Anwendung mit ihr unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern.
(vgl. Randnrn. 69-70, 74, Tenor 5)
Quelle



URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
10. November 2011(*)
„Steuerrecht – Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Befreiungen – Art. 13 Teil B Buchst. f – Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz – Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Mechanisiertes Bingo mit in Bargeld ausgezahlten Gewinnen (‚mechanised cash bingo‘) – Geldspielautomaten – Verwaltungspraxis, nach der die Rechtsvorschriften unterschiedlich angewandt werden – Auf die gebotene Sorgfalt (‚due diligence‘) gestütztes Verteidigungsvorbringen“
In den verbundenen Rechtssachen C‑259/10 und C‑260/10
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Vereinigtes Königreich) und vom Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidungen vom 20. und 19. April 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Mai 2010, in den Verfahren
Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs
gegen
The Rank Group plc
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter G. Arestis, T. von Danwitz (Berichterstatter) und D. Šváby,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Juni 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–        der The Rank Group plc, vertreten durch K. Lasok, QC, und V. Sloane, Barrister, beauftragt durch P. Drinkwater, Solicitor,
–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Hathaway als Bevollmächtigten im Beistand von G. Peretz, Barrister,
–        der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal als Bevollmächtigten,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität im Rahmen der Anwendung von Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im Folgenden: Sechste Richtlinie).
2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen den Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs (im Folgenden: Commissioners) und der The Rank Group plc (im Folgenden: Rank) über die Ablehnung des Antrags von Rank durch die Commissioners, die Mehrwertsteuer zu erstatten, die Rank für im Rahmen bestimmter Glücksspiele in den Jahren 2002 bis 2005 getätigte Umsätze gezahlt hatte.
 Rechtlicher Rahmen
 Unionsrecht
3        Nach Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie unterliegen „Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt“, der Mehrwertsteuer.
4        Art. 13 der Sechsten Richtlinie („Steuerbefreiungen im Inland“) bestimmt:
„…
B. Sonstige Steuerbefreiungen
Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:
f)      Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden;
…“
 Nationales Recht
 Mehrwertsteuerregelung
5        Nach Section 31 (1) des Value Added Tax Act 1994 (Mehrwertsteuergesetz von 1994) in der zur Zeit der maßgeblichen Vorgänge der Ausgangsverfahren geltenden Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz von 1994) war die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen von der Steuer befreit, wenn sie einem der in Schedule 9 dieses Gesetzes beschriebenen Umsätze entsprach.
6        Schedule 9 Gruppe 4 („Wetten, Glücksspiele und Lotterien“) sah in Nr. 1 die Bereitstellung von Vorrichtungen zum Abschließen von Wetten oder zum Spielen von Glücksspielen vor.
7        In den Anmerkungen 1 bis 3 dieser Gruppe 4 hieß es:
„(1)      Zu Nr. 1 gehören nicht
b)      die Einräumung eines Rechts zur Teilnahme an einem Spiel, für das ein Entgelt nach aufgrund von Section 14 des Gaming Act 1968 (Glücksspielgesetz von 1968) … erlassenen Regulations erhoben werden kann,
d)      die Bereitstellung eines Glücksspielgeräts.
(2)      ‚Glücksspiel‘ hat die gleiche Bedeutung wie im Glücksspielgesetz von 1968 …
(3)      Der Begriff ‚Glücksspielgerät‘ bezeichnet ein Gerät, bei dem folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
a)      Es ist dazu gebaut oder entsprechend angepasst worden, um mit ihm Glücksspiele zu spielen; und
b)      zum Spielen mit dem Gerät entrichtet der Spieler entweder durch Einwurf einer Münze oder einer Spielmarke [ab 2003: einer Münze, einer Marke oder eines anderen Gegenstands] in das Gerät oder auf sonstige Weise ein Entgelt (sofern er nicht, weil er zuvor erfolgreich gespielt hat, die Möglichkeit eines unentgeltlichen Freispiels erhält); und
c)       das Zufallselement des Spiels wird vom Gerät zur Verfügung gestellt.“
 Regelung für Spiele und Wetten
8        Nach Section 52 (1) des Glücksspielgesetzes von 1968 in der zur Zeit der maßgeblichen Vorgänge der Ausgangsverfahren geltenden Fassung (im Folgenden: Glücksspielgesetz von 1968) bedeutete „spielen“ („gaming“) im Sinne dieses Gesetzes das Spielen eines Glücksspiels um Geld oder einen geldwerten Preis und „Gerät“ („machine“) ein Gerät jeder Art.
9        Section 26 (1) und (2) des Glücksspielgesetzes von 1968 bestimmte:
„(1)      [Teil III] des vorliegenden Gesetzes gilt für jedes Gerät, das
a)      dazu gebaut oder entsprechend angepasst worden ist, um mit ihm Glücksspiele zu spielen, und
b)      einen Schlitz oder eine sonstige Öffnung für den Einwurf von Geld oder geldwerten Gegenständen in Form von Bargeld oder Spielmarken aufweist.
(2)      Das Spielen eines Glücksspiels mittels eines Geräts im Sinne der vorigen Subsection schließt das Spielen eines Glücksspiels teilweise mittels eines Geräts und teilweise mit anderen Vorrichtungen ein, sofern das Zufallselement des Spiels von dem Gerät zur Verfügung gestellt wird.“
10      Ein dieser Definition eines „Glücksspielgeräts“ entsprechendes Gerät durfte nur in Geschäftslokalen betrieben werden, für die eine entsprechende Zulassung bestand, und unter Einhaltung bestimmter Voraussetzungen, die die Höhe der Einsätze und der Gewinne sowie die Zahl der in einer bestimmten Räumlichkeit vorhandenen Geräte betrafen. Handelte es sich bei der mit einem bestimmten Gerät ausgeübten Tätigkeit um ein „Glücksspiel“, entsprach das Gerät aber nicht der genannten Definition, galten für dessen Benutzung andere gesetzliche Vorschriften, die u. a. andere Höchsteinsätze und -gewinne vorsahen.
11      Hingegen unterlagen als Wetten angesehene Tätigkeiten der Regelung des Betting, Gaming and Lotteries Act 1963 (Gesetz von 1963 über Wetten, Spiele und Lotterien). Zum Abschluss von Wetten in Geschäftslokalen hatte sich der Kunde an Wettbüros zu wenden, die eine ordnungsgemäße Lizenz zur Annahme von Wetten besaßen (licensed betting offices, im Folgenden: LBOs).
12      Für ein bestimmtes Geschäftslokal konnte entweder nur eine Wett- oder nur eine Spielelizenz erteilt werden. Außerdem waren die Voraussetzungen für die Erteilung einer Lizenz und die Regelungen für die zugelassenen Geschäftslokale unterschiedlich ausgestaltet, insbesondere was den Verkauf alkoholischer Getränke und die Öffnungszeiten anging. Wetten durften ausschließlich in LBOs, Spiele ausschließlich in Casinos, Gaststätten/Bars, Bingosälen oder Spielhallen veranstaltet werden.
 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
13      Rank ist vertretungsberechtigtes Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe, die im Vereinigten Königreich Bingo-Clubs und Casinos betreibt, in denen der Kundschaft insbesondere „mechanisiertes Bingo mit in Bargeld ausgezahlten Gewinnen“ („mechanised cash bingo“, im Folgenden: mc-Bingo) und Geldspielautomaten angeboten werden.
14      Rank, die für im Rahmen des mc-Bingo und mit Geldspielautomaten erbrachte Dienstleistungen Mehrwertsteuer bei den Commissioners angemeldet und an sie abgeführt hatte, erhob in der Folge zwei Klagen beim Value Added Tax Tribunal, jetzt First-tier Tribunal (Tax Chamber) (im Folgenden: Tribunal), um die Erstattung dieser Steuer zu erwirken. Bei der ersten Klage ging es um die Besteuerung von mc-Bingo zwischen dem 1. Januar 2003 und dem 31. Dezember 2005, bei der zweiten um die Besteuerung von Geldspielautomaten zwischen dem 1. Oktober 2002 und dem 5. Dezember 2005.
15      Diese Klagen wurden im Wesentlichen darauf gestützt, dass verschiedene Arten von mc-Bingo und Geldspielautomaten unterschiedlichen Mehrwertsteuerregelungen unterlägen, obwohl sie aus der Sicht des Verbrauchers miteinander vergleichbar, wenn nicht identisch seien, so dass die Mehrwertbesteuerung bestimmter Arten von mc-Bingo und Geldspielautomaten gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoße.
 Klage betreffend mc-Bingo
16      Mc-Bingo wurde in Serien von mehreren Spielen gespielt. Während die Höhe des Einsatzes im Voraus angekündigt wurde, konnte sich die Höhe des Gewinns, die von der Zahl der an einem Spiel teilnehmenden Spieler abhing, im Laufe eines Spieleblocks und sogar während des ersten Teils eines Spiels ändern und war den Spielern bei Zahlung des Einsatzes nicht notwendig bekannt.
17      Zwischen den Parteien der Ausgangsverfahren ist unstreitig, dass mc-Bingo wegen der Verweisung in Schedule 9 Gruppe 4 Anmerkung 1 Buchst. b des Mehrwertsteuergesetzes von 1994 auf das Glücksspielgesetz von 1968 nur dann von der Mehrwertsteuer befreit war, wenn der Einsatz höchstens 0,50 GBP und der Gewinn höchstens 25 GBP betrugen. War dagegen eine dieser Voraussetzungen nicht erfüllt, war das betreffende Spiel nicht mehrwertsteuerfrei. Ebenso ist unstreitig, dass die beiden Arten von mc-Bingo aus der Sicht des Verbrauchers identische Spiele darstellten. Die Commissioners hielten gleichwohl eine Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität für nicht gegeben, da nicht bewiesen sei, dass diese unterschiedliche Behandlung den Wettbewerb zwischen diesen Glücksspielen beeinträchtigt habe.
18      Am 15. Mai 2008 erließ das Tribunal eine Entscheidung zugunsten von Rank. Der von den Commissioners gegen diese Entscheidung eingelegte Einspruch wurde vom High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division, mit Urteil vom 8. Juni 2009 zurückgewiesen. Daraufhin legten die Commissioners gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) ein.
 Klage betreffend Geldspielautomaten
19      Die in Schedule 9 Gruppe 4 Nr. 1 des Mehrwertsteuergesetzes von 1994 vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung war auf Geldspielautomaten nicht anwendbar, wenn es sich bei dem betreffenden dem Spieler zur Verfügung gestellten Gerät um ein „Glücksspielgerät“ im Sinne der Anmerkungen 1 Buchst. d und 3 dieser Gruppe handelte.
20      Insoweit werden die von Rank betriebenen, als solche Glücksspielgeräte angesehenen Geldspielautomaten, die zugleich unter Teil III des Glücksspielgesetzes von 1968 fallen („Part‑III‑machines“, im Folgenden: Teil‑III‑Geräte), zwei anderen Arten von Geldspielautomaten insbesondere unter dem Gesichtspunkt gegenübergestellt, ob das Zufallselement von dem vom Spieler benutzten Gerät selbst – auf einen Befehl der in ihm eingebauten Software hin – zur Verfügung gestellt wird oder nicht.
21      Bei Teil‑III‑Geräten wird das Zufallselement von einem elektronischen Zufallszahlengenerator („electronic random number generator“) zur Verfügung gestellt, der in das vom Spieler benutzte Gerät eingebaut ist. Die erste für einen Vergleich herangezogene Art von Geldspielautomaten (im Folgenden: Vergleichsgeräte I) besteht dagegen aus Geräten, von denen mehrere auf elektronischem Wege an einen gemeinsamen, separaten elektronischen Zufallszahlengenerator angeschlossen werden, der allerdings in denselben Räumen wie die von den Spielern benutzten Endgeräte untergebracht ist.
22     Die zweite für einen Vergleich herangezogene Art von Geldspielautomaten stellen Festquotenwettgeräte („Fixed Odds Betting Terminals“, im Folgenden: FOBT) dar, die nur in LBOs installiert werden konnten. Der Spieler am FOBT schloss die Wette auf den Ausgang eines in die Software des FOBT geladenen virtuellen Ereignisses oder Spiels, d. h. eines sogenannten Formats („format“), ab, indem er ein Guthaben in das Gerät einzahlte. Der Ausgang des virtuellen Ereignisses oder Spiels wurde durch einen außerhalb der Räumlichkeiten des betreffenden LBO aufgestellten elektronischen Zufallszahlengenerator bestimmt. Ein Rechtsstreit über die Frage, ob unter Berücksichtigung der rechtlichen Regelung für Glücksspiele mit bestimmten auf den FOBT verfügbaren Formaten der „Abschluss von Wetten“ oder aber das „Spielen von Glücksspielen“ angeboten wurde, wurde wegen einer zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarung nicht durch Urteil entschieden. Da FOBT nicht der Definition von „Glücksspielgeräten“ im Sinne des Mehrwertsteuerrechts entsprachen, waren sie von dieser Steuer befreit. Auf die Einkünfte aus ihnen wurde jedoch die allgemeine Wettsteuer erhoben.
23     Vor dem Tribunal war unstreitig, dass die besteuerten Teil‑III‑Geräte und die Vergleichsgeräte I aus der Sicht der Verbraucher gleichartig waren. Die Commissioners bestritten jedoch, dass diese beiden Gerätearten in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stünden und dass die Vergleichsgeräte I nach innerstaatlichem Recht tatsächlich von der Steuer befreit seien.
24      Mit Entscheidung vom 19. August 2008 erkannte das Tribunal über bestimmte streitige Aspekte zugunsten von Rank, während es seine Entscheidung über andere Aspekte einem späteren Zeitpunkt vorbehielt. In der Entscheidung vom 19. August 2008 vertrat es die Ansicht, dass die Vergleichsgeräte I nach den nationalen Rechtsvorschriften von der Mehrwertsteuer befreit seien. Jedenfalls hätten die Commissioners diese Geräte bewusst als steuerbefreit behandelt.
25      Der Einspruch der Commissioners gegen diese Entscheidung wurde am 8. Juni 2009 vom High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division, zurückgewiesen. Gegen dieses Urteil legten die Commissioners ein Rechtsmittel beim Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) ein, in dessen Rahmen sie u. a. das Bestehen einer maßgeblichen Praxis bestritten, nach der Vergleichsgeräte I von der Mehrwertsteuer befreit seien.
26      Das Tribunal entschied am 11. Dezember 2009 zugunsten von Rank über die zunächst zurückgestellten Fragen. Zu den Vergleichsgeräten I vertrat es die Auffassung, den Commissioners sei es verwehrt, als Verteidigungsvorbringen geltend zu machen, dass sie mit der gebotenen Sorgfalt („due diligence“) gehandelt hätten, auch wenn diese Geräte erst nach Erlass der fraglichen nationalen Rechtsvorschriften in den Verkehr gebracht worden seien. Das Tribunal stellte weiter eine Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität in Bezug auf FOBT fest, die Teil‑III‑Geräten – stark abstrahiert – aus der Sicht der meisten Spieler ähnlich seien. Geräte beider Arten würden einfach als Geldspielgeräte angesehen. Die Unterschiede seien entweder den meisten Verbrauchern unbekannt oder hätten für sie keine Bedeutung.
27      Gegen das Urteil vom 11. Dezember 2009 legten die Commissioners ein Rechtsmittel beim Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) ein. Dieses Rechtsmittel zielt insbesondere darauf ab, die Ähnlichkeit der besteuerten Geldspielautomaten und der FOBT zu prüfen und das auf gebotene Sorgfalt gestützte Vorbringen zurückzuweisen.
 Vorlagefragen in der Rechtssache C‑259/10
28      Der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division), nach dessen Ansicht die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Auslegung des Unionsrechts abhängt, hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1.      Reicht eine mehrwertsteuerliche Ungleichbehandlung
–        von Umsätzen, die aus der Sicht des Verbrauchers identisch sind, oder
–        von ähnlichen Umsätzen, die jeweils dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen,
für sich genommen zur Begründung einer Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität aus, oder muss (und, wenn ja, in welcher Weise) berücksichtigt werden,
a)      in welchem rechtlichen und wirtschaftlichen Kontext sie erfolgt,
b)      ob die fraglichen identischen bzw. ähnlichen Dienstleistungen in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen und/oder
c)      ob die mehrwertsteuerliche Ungleichbehandlung zu einer Wettbewerbsverfälschung geführt hat?
2.      Kann ein Steuerpflichtiger, dessen Umsätze nach innerstaatlichem Recht (aufgrund des von einem Mitgliedstaat nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie wahrgenommenen Ermessensspielraums) der Mehrwertsteuer unterliegen, die Rückzahlung der auf diese Umsätze entrichteten Mehrwertsteuer wegen Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität unter Hinweis auf die mehrwertsteuerliche Behandlung anderer Umsätze (Vergleichsumsätze) verlangen, wenn
a)      die Vergleichsumsätze zwar nach innerstaatlichem Recht der Mehrwertsteuer unterlagen,
b)      die Steuerbehörde des Mitgliedstaats jedoch nach einer Praxis verfuhr, wonach die Vergleichsumsätze als von der Mehrwertsteuer befreit behandelt wurden?
3.      Falls die zweite Frage zu bejahen ist, welches Verhalten macht eine maßgebliche Praxis aus, und ist es insbesondere
a)      erforderlich, dass sich die Steuerbehörde zuvor klar und unzweideutig dahin geäußert hat, dass die Vergleichsumsätze als von der Mehrwertsteuer befreit behandelt würden,
b)      von Bedeutung, dass die Steuerbehörde zum Zeitpunkt einer etwaigen Äußerung ein unvollständiges und irriges Verständnis von den Tatsachen hatte, die für die korrekte mehrwertsteuerliche Behandlung der Vergleichsumsätze erheblich sind, und
c)      von Bedeutung, dass die Mehrwertsteuer auf die Vergleichsumsätze weder vom Steuerpflichtigen angemeldet noch von der Steuerbehörde verlangt wurde, diese jedoch in der Folgezeit bestrebt war, die Mehrwertsteuer vorbehaltlich der üblichen innerstaatlichen Verjährungsfristen nachzufordern?
4.      Sofern die steuerliche Ungleichbehandlung Folge einer einheitlichen Praxis der nationalen Steuerbehörden ist, die auf einer allgemein akzeptierten Vorstellung vom tatsächlichen Inhalt der innerstaatlichen Rechtsvorschriften beruht, spielt es dann für das Vorliegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität eine Rolle, wenn
a)      die Steuerbehörden später ihre Praxis ändern,
b)      ein nationales Gericht später entscheidet, dass die geänderte Praxis den Gehalt der innerstaatlichen Rechtsvorschriften zutreffend wiedergibt,
c)      dem Mitgliedstaat aufgrund innerstaatlicher und/oder europäischer Rechtsgrundsätze, darunter die Grundsätze des Vertrauensschutzes, des Estoppel, der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots, und/oder aufgrund der Verjährungsfristen die Erhebung der Mehrwertsteuer auf die zuvor als steuerbefreit erachteten Umsätze verwehrt ist?
 Vorlagefragen in der Rechtssache C‑260/10
29      Das Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber), nach dessen Ansicht die Entscheidung des bei ihm anhängigen Ausgangsrechtsstreits ebenfalls von der Auslegung des Unionsrechts abhängt, hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1.      Hat ein Mitgliedstaat in Wahrnehmung seines Ermessensspielraums nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie bestimmte Arten von Geräten, die für Glücksspiele mit Geldeinsatz genutzt werden (Teil‑III‑Geräte), der Mehrwertsteuer unterworfen, andere solche Geräte (darunter FOBT) jedoch weiterhin von der Mehrwertsteuer befreit, und wird geltend gemacht, dass der Mitgliedstaat damit gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen habe, ist es dann bei einem Vergleich von Teil‑III‑Geräten und FOBT i) entscheidend oder ii) erheblich, dass
a)      mit FOBT Tätigkeiten angeboten wurden, die „Wetten“ im Sinne des innerstaatlichen Rechts waren (oder Tätigkeiten, die die zuständige Regulierungsbehörde in Ausübung ihrer Regelungsbefugnisse als „Wetten“ im Sinne des innerstaatlichen Rechts zu behandeln bereit war), und
b)      mit Teil‑III‑Geräten Tätigkeiten angeboten wurden, die nach innerstaatlichem Recht anders, und zwar als „Glücksspiele“, eingestuft wurden,
und dass Glücksspiele und Wetten nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats hinsichtlich der Aufsicht und Regulierung von Glücksspielen mit Geldeinsatz unterschiedlichen rechtlichen Regelungen unterlagen? Falls ja, welche Unterschiede zwischen den rechtlichen Regelungen hat das nationale Gericht zu berücksichtigen?
2.      Auf welcher Abstraktionsebene hat das nationale Gericht bei der Prüfung der Frage, ob der Grundsatz der steuerlichen Neutralität eine steuerliche Gleichbehandlung der in der ersten Frage bezeichneten Gerätearten (FOBT und Teil‑III‑Geräte) gebietet, zu beurteilen, ob die Produkte einander ähnlich sind? Inwieweit muss insbesondere Folgendes berücksichtigt werden:
a)      Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen FOBT und Teil‑III‑Geräten hinsichtlich der höchstzulässigen Einsätze und Gewinne;
b)      der Umstand, dass an FOBT nur in bestimmten Arten von für Wetten lizenzierten Räumlichkeiten gespielt werden durfte, die sich von den für Glücksspiele lizenzierten Räumlichkeiten unterschieden und anderen rechtlichen Beschränkungen unterlagen (auch wenn FOBT und bis zu zwei Teil‑III‑Geräte nebeneinander in für Wetten lizenzierten Räumlichkeiten betrieben werden durften);
c)      der Umstand, dass die Gewinnchancen bei FOBT in direktem Verhältnis zu den veröffentlichten Festquoten standen, während die Gewinnchancen bei Teil‑III‑Geräten in einigen Fällen durch ein Gerät verändert werden konnten, das über einen gewissen Zeitraum sowohl dem Betreiber als auch dem Spieler jeweils einen bestimmten Gewinnprozentsatz sicherte;
d)      Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Formaten, die auf FOBT und Teil‑III‑Geräten zur Verfügung standen;
e)      Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen FOBT und Teil‑III‑Geräten hinsichtlich der Interaktionen, die zwischen dem Spieler und dem Gerät stattfinden konnten;
f)      ob die die Geräte benutzenden Spieler im Allgemeinen von den vorstehenden Umständen Kenntnis hatten oder sie für erheblich oder wichtig hielten;
g)      ob die mehrwertsteuerliche Ungleichbehandlung durch einen der vorstehenden Umstände zu rechtfertigen ist?
3.      Wenn ein Mitgliedstaat in Wahrnehmung seines Ermessensspielraums nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie Glücksspiele mit Geldeinsatz von der Mehrwertsteuer befreit hat, eine bestimmte Kategorie von Geräten, die für Glücksspiele mit Geldeinsatz genutzt werden, jedoch der Mehrwertsteuer unterworfen hat,
a)      kann dann der Mitgliedstaat gegen den Vorwurf, er habe gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen, zu seiner Verteidigung grundsätzlich einwenden, er habe die gebotene Sorgfalt walten lassen, und
b)      falls Frage a zu bejahen ist, anhand welcher Kriterien ist zu beurteilen, ob sich der Mitgliedstaat zu seiner Verteidigung auf diesen Einwand berufen kann?
30      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 9. August 2010 sind die Rechtssachen C‑259/10 und C‑260/10 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
 Zu den Vorlagefragen
 Zu Frage 1 Buchst. b und c in der Rechtssache C‑259/10
31      Mit dieser Frage möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass es für die Feststellung einer Verletzung dieses Grundsatzes genügt, dass zwei aus der Sicht des Verbrauchers gleiche oder gleichartige Dienstleistungen, die dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden, oder ob darüber hinaus festgestellt werden muss, dass die betreffenden Dienstleistungen tatsächlich in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen oder dass der Wettbewerb wegen der genannten Ungleichbehandlung verzerrt ist.
32      Nach ständiger Rechtsprechung lässt es der Grundsatz der steuerlichen Neutralität insbesondere nicht zu, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (vgl. u. a. Urteile vom 3. Mai 2001, Kommission/Frankreich, C‑481/98, Slg. 2001, I‑3369, Randnr. 22, vom 26. Mai 2005, Kingscrest Associates und Montecello, C‑498/03, Slg. 2005, I‑4427, Randnrn. 41 und 54, vom 10. April 2008, Marks & Spencer, C‑309/06, Slg. 2008, I‑2283, Randnr. 47, und vom 3. März 2011, Kommission/Niederlande, C‑41/09, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 66).
33      Aus dieser Beschreibung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ergibt sich, dass die Gleichartigkeit zweier Dienstleistungen dazu führt, dass sie in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen.
34      Daher stellt das tatsächliche Bestehen eines Wettbewerbsverhältnisses zwischen zwei Dienstleistungen dann keine selbständige, zusätzliche Voraussetzung für eine Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität dar, wenn die betreffenden Dienstleistungen aus der Sicht des Verbrauchers gleich oder gleichartig sind und dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Oktober 2003, Kommission/Deutschland, C‑109/02, Slg. 2003, I‑12691, Randnrn. 22 und 23, sowie vom 17. Februar 2005, Linneweber und Akritidis, C‑453/02 und C‑462/02, Slg. 2005, I‑1131, Randnrn. 19 bis 21, 24, 25 und 28).
35      Entsprechendes gilt auch für das Vorliegen einer Wettbewerbsverzerrung. Wenn zwei gleiche oder gleichartige Dienstleistungen, die dieselben Bedürfnisse befriedigen, im Hinblick auf die Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden, führt dies in der Regel zu einer Wettbewerbsverzerrung (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. März 2001, Kommission/Frankreich, C‑404/99, Slg. 2001, I‑2667, Randnrn. 46 und 47, und vom 28. Juni 2007, JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust und The Association of Investment Trust Companies, C‑363/05, Slg. 2007, I‑5517, Randnrn. 47 bis 51).
36      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf Frage 1 Buchst. b und c in der Rechtssache C‑259/10 zu antworten, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass es für die Feststellung einer Verletzung dieses Grundsatzes genügt, dass zwei aus der Sicht des Verbrauchers gleiche oder gleichartige Dienstleistungen, die dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden. Für die Annahme einer solchen Verletzung bedarf es also nicht noch zusätzlich der Feststellung, dass die betreffenden Dienstleistungen tatsächlich in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen oder dass der Wettbewerb wegen dieser Ungleichbehandlung verzerrt ist.
 Zu Frage 1 Buchst. a in der Rechtssache C‑259/10 und Frage 1 in der Rechtssache C‑260/10
37      Mit diesen Fragen möchten die vorlegenden Gerichte im Wesentlichen Aufschluss darüber erhalten, ob, wenn zwei Glücksspiele hinsichtlich der Gewährung der Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie ungleich behandelt werden, der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass berücksichtigt werden muss, dass diese beiden Glücksspiele zu unterschiedlichen Lizenzkategorien gehören und unterschiedlichen rechtlichen Regelungen hinsichtlich ihrer Aufsicht und Regulierung unterliegen.
38      Nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie sind Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden, von der Mehrwertsteuer befreit.
39      Diese Steuerbefreiung ist durch praktische Erwägungen veranlasst, da sich Glücksspielumsätze schlecht für die Anwendung der Mehrwertsteuer eignen, und nicht, wie es bei bestimmten im sozialen Bereich erbrachten Dienstleistungen von allgemeinem Interesse der Fall ist, durch den Willen, diesen Tätigkeiten eine günstigere mehrwertsteuerliche Behandlung zu gewährleisten (vgl. Urteile vom 13. Juli 2006, United Utilities, C‑89/05, Slg. 2006, I‑6813, Randnr. 23, und vom 10. Juni 2010, Leo-Libera, C‑58/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 24).
40      Aus der Formulierung von Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie selbst ergibt sich, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Befreiung oder Besteuerung der betreffenden Umsätze einen weiten Wertungsspielraum eingeräumt hat, da sie ihnen gestattet, die Bedingungen und Beschränkungen festzulegen, von denen die Gewährung der Befreiung abhängig gemacht werden kann (vgl. Urteil Leo-Libera, Randnr. 26).
41      Machen die Mitgliedstaaten jedoch von der Befugnis, die Bedingungen und Grenzen der Befreiung festzulegen und damit Umsätze der Mehrwertsteuer zu unterwerfen oder nicht, nach dieser Bestimmung Gebrauch, müssen sie den dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegenden Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten (vgl. Urteile vom 11. Juni 1998, Fischer, C‑283/95, Slg. 1998, I‑3369, Randnr. 27, sowie Linneweber und Akritidis, Randnr. 24).
42      Wie in Randnr. 32 des vorliegenden Urteils ausgeführt, lässt der Grundsatz der steuerlichen Neutralität es insbesondere nicht zu, gleichartige Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln.
43      Bei der Beantwortung der Frage, ob zwei Dienstleistungen im Sinne der in der genannten Randnummer angeführten Rechtsprechung gleichartig sind, ist in erster Linie auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen (vgl. entsprechend Urteil vom 25. Februar 1999, CPP, C‑349/96, Slg. 1999, I‑973, Randnr. 29), wobei auf unbedeutenden Unterschieden beruhende künstliche Unterscheidungen vermieden werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Deutschland, Randnrn. 22 und 23).
44      Zwei Dienstleistungen sind daher gleichartig, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen und wenn die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere dieser Dienstleistungen zu wählen, nicht erheblich beeinflussen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Mai 2001, Kommission/Frankreich, Randnr. 27, und entsprechend Urteile vom 11. August 1995, Roders u. a., C‑367/93 bis C‑377/93, Slg. 1995, I‑2229, Randnr. 27, und vom 27. Februar 2002, Kommission/Frankreich, C‑302/00, Slg. 2002, I‑2055, Randnr. 23).
45      Nach ständiger Rechtsprechung verbietet jedoch der Grundsatz der steuerlichen Neutralität im Bereich der Mehrwertsteuererhebung eine allgemeine Differenzierung zwischen unerlaubten und erlaubten Geschäften (vgl. insbesondere Urteile vom 5. Juli 1988, Mol, 269/86, Slg. 1988, 3627, Randnr. 18, vom 29. Juni 1999, Coffeeshop „Siberië“, C‑158/98, Slg. 1999, I‑3971, Randnrn. 14 und 21, sowie vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling, C‑439/04 und C‑440/04, Slg. 2006, I‑6161, Randnr. 50). Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, dass die Mitgliedstaaten die Steuerbefreiung nicht den erlaubten Glücksspielen vorbehalten dürfen (Urteil Fischer, Randnr. 28). Bei der Prüfung der Gleichartigkeit von zwei Glücksspielen kann daher nicht berücksichtigt werden, ob deren Veranstaltung rechtmäßig oder rechtswidrig ist.
46      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich weiter, dass es für die Prüfung der Gleichartigkeit von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten auf die Identität der Veranstalter bzw. Betreiber dieser Glücksspiele und Geräte sowie auf die Rechtsform, in der sie ihre Tätigkeiten ausüben, grundsätzlich nicht ankommt (vgl. Urteil Linneweber und Akritidis, Randnrn. 25 und 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47      Wie darüber hinaus aus diesem Urteil, insbesondere dessen Randnrn. 29 und 30, hervorgeht, sind Unterschiede, die zwischen Gaststätten und Spielhallen einerseits und zugelassenen Casinos andererseits hinsichtlich des Rahmens bestehen, in dem dort jeweils Glücksspiele angeboten werden – insbesondere hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Zugangsmöglichkeit sowie des Ambiente –, für die Vergleichbarkeit dieser Spiele unerheblich.
48      Schließlich ist den Randnrn. 29 und 30 des Urteils Fischer zu entnehmen, dass der Umstand, dass nur eine der beiden Arten von Glücksspielen einer nichtharmonisierten Abgabe unterliegt, nicht die Schlussfolgerung rechtfertigen kann, dass diese Glücksspielarten nicht vergleichbar wären. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem würde nämlich verfälscht, wenn die Mitgliedstaaten bei seiner Anwendung danach unterscheiden könnten, ob andere, nichtharmonisierte Abgaben bestehen.
49      Daraus folgt, dass es für die Beurteilung der Vergleichbarkeit der betreffenden Glücksspiele auf die von den vorlegenden Gerichten angeführten Unterschiede in der rechtlichen Regelung nicht ankommt.
50      Dieses Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Gerichtshof in bestimmten Ausnahmefällen anerkannt hat, dass unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Wirtschaftszweige Unterschiede im rechtlichen Rahmen und in der rechtlichen Regelung der betreffenden Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen, wie die etwaige Erstattungsfähigkeit eines Arzneimittels oder der Umstand, dass der Leistungserbringer möglicherweise Universaldienstverpflichtungen unterliegt, aus der Sicht des Verbrauchers zu einer Unterscheidbarkeit im Hinblick auf die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse führen können (vgl. Urteile vom 3. Mai 2001, Kommission/Frankreich, Randnr. 27, und vom 23. April 2009, TNT Post UK, C‑357/07, Slg. 2009, I‑3025, Randnrn. 38, 39 und 45).
51      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist auf Frage 1 Buchst. a in der Rechtssache C‑259/10 und auf Frage 1 in der Rechtssache C‑260/10 zu antworten, dass, wenn zwei Glücksspiele hinsichtlich der Gewährung der Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie ungleich behandelt werden, der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass nicht zu berücksichtigen ist, dass diese beiden Glücksspiele zu unterschiedlichen Lizenzkategorien gehören und unterschiedlichen rechtlichen Regelungen hinsichtlich ihrer Aufsicht und Regulierung unterliegen.
 Zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑260/10
52      Mit dieser Frage möchte das Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) im Wesentlichen wissen, ob bei der im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität vorzunehmenden Prüfung, ob zwei Arten von Geldspielautomaten gleichartig sind und die gleiche Behandlung hinsichtlich der Mehrwertsteuer erfordern, die Unterschiede bei den Mindest‑ und Höchsteinsätzen und ‑gewinnen, den Gewinnchancen, den verfügbaren Formaten und der Möglichkeit von Interaktionen zwischen dem Spieler und dem Geldspielautomaten berücksichtigt werden müssen oder nicht.
53      Zunächst ist festzustellen, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, soll Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie und dem in Randnr. 40 des vorliegenden Urteils genannten weiten Wertungsspielraum, der den Mitgliedstaaten in dieser Bestimmung eingeräumt worden ist, nicht jede praktische Wirksamkeit genommen werden, nicht dahin ausgelegt werden kann, dass Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz sämtlich als gleichartige Leistungen im Sinne dieses Grundsatzes anzusehen wären. Ein Mitgliedstaat kann daher die Mehrwertsteuerbefreiung auf bestimmte Formen von Glücksspielen beschränken (vgl. in diesem Sinne Urteil Leo-Libera, Randnr. 35).
54      Aus dem Urteil Leo-Libera ergibt sich, dass eine Verletzung dieses Grundsatzes nicht vorliegt, wenn ein Mitgliedstaat die mit Geldspielautomaten erbrachten Dienstleistungen der Mehrwertsteuer unterwirft, jedoch Pferderennwetten, Wetten zu festen Odds sowie Lotterien und Ausspielungen von dieser Steuer befreit (vgl. in diesem Sinne Urteil Leo-Libera, Randnrn. 9, 10 und 36).
55      Um jedoch den Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht auszuhöhlen und das gemeinsame Mehrwertsteuersystem nicht zu verfälschen, kann eine Ungleichbehandlung bei der Mehrwertbesteuerung nicht auf Detailunterschiede in der Struktur, den Modalitäten oder den Regeln der betreffenden Glücksspiele gestützt werden, die, wie Geldspielautomaten, sämtlich zu derselben Kategorie von Glücksspielen gehören.
56      Wie sich aus den Randnrn. 43 und 44 des vorliegenden Urteils ergibt, hat die vom nationalen Gericht nach den Umständen des Einzelfalls vorzunehmende Prüfung der Gleichartigkeit von einer unterschiedlichen Besteuerung unterliegenden Glücksspielen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. April 2006, Solleveld und van den Hout-van Eijnsbergen, C‑443/04 und C‑444/04, Slg. 2006, I‑3617, Randnrn. 42 und 45, und Marks & Spencer, Randnr. 48) aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers zu erfolgen, wobei die maßgeblichen oder wichtigen Umstände zu berücksichtigen sind, die dessen Entscheidung, das eine oder das andere Glücksspiel zu spielen, erheblich beeinflussen können.
57      Insoweit können Unterschiede bei den Mindest- und Höchsteinsätzen und ‑gewinnen, den Gewinnchancen, den verfügbaren Formaten und der Möglichkeit von Interaktionen zwischen dem Spieler und dem Geldspielautomaten erheblichen Einfluss auf die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers haben, da die Anziehungskraft von Glücksspielen mit Geldeinsatz in erster Linie auf der Möglichkeit eines Gewinns beruht.
58      Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑260/10 zu antworten, dass bei der im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität vorzunehmenden Prüfung, ob zwei Arten von Geldspielautomaten gleichartig sind und die gleiche Behandlung hinsichtlich der Mehrwertsteuer erfordern, zu prüfen ist, ob die Benutzung dieser Gerätearten aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers vergleichbar ist und dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigt, wobei insoweit insbesondere Gesichtspunkte wie die Mindest‑ und Höchsteinsätze und ‑gewinne und die Gewinnchancen berücksichtigt werden können.
 Zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑259/10
59      Mit seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑259/10 möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass ein Steuerpflichtiger, der die Verletzung dieses Grundsatzes geltend macht, die Erstattung der für bestimmte Dienstleistungen entrichteten Mehrwertsteuer verlangen kann, wenn die Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats gleichartige Dienstleistungen in der Praxis wie steuerfreie Umsätze behandelt haben, obwohl diese Leistungen nach der einschlägigen nationalen Regelung nicht mehrwertsteuerfrei sind.
60      Bei dieser Frage geht es um das im Ausgangsverfahren von den Commissioners angeführte Argument, dass die Besteuerung von Teil‑III‑Geräten deshalb nicht den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verletzt habe, weil auch die Vergleichsgeräte I nach den Bestimmungen des Mehrwertsteuergesetzes von 1994 nicht von der Mehrwertsteuer befreit gewesen seien, auch wenn die Commissioners einräumen, dass sie während der im Ausgangsverfahren fraglichen Jahre keine Mehrwertsteuer auf diese Geräte erhoben hätten.
61      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass im Grundsatz der steuerlichen Neutralität der Grundsatz der Gleichbehandlung im Mehrwertsteuerbereich zum Ausdruck kommt (vgl. u. a. Urteile vom 29. Oktober 2009, NCC Construction Danmark, C‑174/08, Slg. 2009, I‑10567, Randnr. 41, und vom 10. Juni 2010, CopyGene, C‑262/08, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 64).
62      Zwar kann eine öffentliche Verwaltung, die nach einer allgemeinen Entscheidungspraxis verfährt, an diese gebunden sein (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Januar 1987, Ferriera Valsabbia/Kommission, 268/84, Slg. 1987, 353, Randnrn. 14 und 15, und vom 28. Juni 2005, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, C‑189/02 P, C‑202/02 P, C‑205/02 P bis C‑208/02 P und C‑213/02 P, Slg. 2005, I‑5425, Randnr. 211), jedoch muss der Grundsatz der Gleichbehandlung mit der Beachtung des Gebots rechtmäßigen Handelns in Einklang gebracht werden, wonach sich niemand zu seinem Vorteil auf eine zugunsten eines anderen begangene Rechtsverletzung berufen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Oktober 1984, Witte/Parlament, 188/83, Slg. 1984, 3465, Randnr. 15, vom 4. Juli 1985, Williams/Rechnungshof, 134/84, Slg. 1985, 2225, Randnr. 14, und vom 10. März 2011, Agencja Wydawnicza Technopol/HABM, C‑51/10 P, Slg. 2011, I‑0000, Randnrn. 75 und 76).
63      Daraus folgt, dass ein Steuerpflichtiger nicht verlangen kann, dass ein bestimmter Umsatz derselben steuerlichen Behandlung wie ein anderer Umsatz unterworfen wird, wenn dessen Behandlung nicht mit der einschlägigen nationalen Regelung in Einklang steht.
64      Infolgedessen ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑259/10 zu antworten, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass ein Steuerpflichtiger, der die Verletzung dieses Grundsatzes geltend macht, nicht die Erstattung der für bestimmte Dienstleistungen entrichteten Mehrwertsteuer verlangen kann, wenn die Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats gleichartige Dienstleistungen in der Praxis wie steuerfreie Umsätze behandelt haben, obwohl diese Leistungen nach der einschlägigen nationalen Regelung nicht mehrwertsteuerfrei sind.
65      In Anbetracht dieser Antwort sind die dritte und die vierte Vorlagefrage in der Rechtssache C‑259/10 nicht zu beantworten.
 Zur dritten Frage in der Rechtssache C‑260/10
66      Mit dieser Frage möchte das Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) im Wesentlichen Aufschluss darüber erhalten, ob der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der vom Ermessen nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie Gebrauch gemacht und die Bereitstellung jeglicher Vorrichtungen zum Spielen von Glücksspielen von der Mehrwertsteuer befreit, von dieser Befreiung jedoch eine Kategorie von bestimmte Kriterien erfüllenden Geräten ausgenommen hat, gegen einen auf die Verletzung dieses Grundsatzes gestützten Antrag auf Mehrwertsteuererstattung einwenden kann, mit der gebotenen Sorgfalt auf die Entwicklung einer neuen Geräteart, die diese Kriterien nicht erfüllt, reagiert zu haben.
67      Diese Frage betrifft das Vorbringen der Commissioners, bei Erlass der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Rechtsvorschriften, mit denen die Teil-III‑Geräte von der Mehrwertsteuerbefreiung für Glücksspiele ausgeschlossen worden seien, habe es keine gleichartigen befreiten Geldspielautomaten gegeben. Die unterschiedliche Behandlung gleichartiger Geräte sei erst später wegen der Entwicklung einer neuen Art von Geldspielgeräten zutage getreten, von der die Steuerbehörden erst einige Zeit nach Beginn ihrer Vermarktung Kenntnis erhalten hätten. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland habe in der Folge mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt, indem es innerhalb angemessener Frist geeignete Maßnahmen ergriffen habe, um die unterschiedliche steuerliche Behandlung zu beenden.
68      Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich ein Mitgliedstaat dann, wenn die Bedingungen oder Beschränkungen, von denen er die Mehrwertsteuerbefreiung für Glücksspiele mit Geldeinsatz abhängig macht, gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen, nicht auf diese Bedingungen oder Beschränkungen berufen kann, um dem Veranstalter solcher Glücksspiele die Steuerbefreiung, auf die dieser nach der Sechsten Richtlinie einen Rechtsanspruch hat, zu verweigern (vgl. Urteil Linneweber und Akritidis, Randnr. 37).
69      Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie hat daher unmittelbare Wirkung in dem Sinne, dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten auf diese Bestimmung berufen kann, um die Anwendung mit ihr unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern (vgl. Urteil Linneweber und Akritidis, Randnr. 38).
70      Eine solche unmittelbare Wirkung einer Richtlinienbestimmung hängt nicht davon ab, dass der betroffene Mitgliedstaat bei der Umsetzung der betreffenden Richtlinie absichtlich oder fahrlässig schuldhaft gehandelt hat oder dass eine hinreichend qualifizierte Verletzung von Unionsrecht vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Juli 2002, Marks & Spencer, C‑62/00, Slg. 2002, I‑6325, Randnrn. 25 und 27, vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, Slg. 2004, I‑8835, Randnr. 103, und vom 10. April 2008, Marks & Spencer, Randnr. 36).
71      Außerdem ist zu berücksichtigen, dass nach der fraglichen nationalen Regelung die Bereitstellung von Vorrichtungen zum Abschließen von Wetten oder zum Spielen von Glücksspielen grundsätzlich mehrwertsteuerfrei war, mit Ausnahme von Glücksspielgeräten, die bestimmte Kriterien erfüllten. Hat der Mitgliedstaat solche Abgrenzungskriterien festgelegt, kann er nicht damit gehört werden, dass es seiner Ansicht nach keine Geräte gegeben habe, die diese Kriterien nicht erfüllten, und er einer möglichen Entwicklung solcher Geräte auch nicht habe Rechnung tragen müssen.
72      Im Übrigen geht aus der Vorlageentscheidung und den Erklärungen der Regierung des Vereinigten Königreichs hervor, dass das Gaming Board, die Regulierungsstelle für Glücksspiele und damit eine Behörde dieses Mitgliedstaats, schon vor der kommerziellen Verwendung der neuen Geldspielautomaten über deren Existenz unterrichtet war.
73      Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte kann das Argument der Commissioners, die Steuerbehörden hätten von dieser Existenz erst nachträglich Kenntnis erhalten, so dass die unterschiedliche Behandlung der beiden Arten von Geldspielautomaten während eines bestimmten Zeitraums gerechtfertigt gewesen sei, nicht verfangen.
74      Demgemäß ist auf die dritte Frage in der Rechtssache C‑260/10 zu antworten, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der vom Ermessen nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie Gebrauch gemacht und die Bereitstellung jeglicher Vorrichtungen zum Spielen von Glücksspielen von der Mehrwertsteuer befreit, von dieser Befreiung jedoch eine Kategorie von bestimmte Kriterien erfüllenden Geräten ausgenommen hat, gegen einen auf die Verletzung dieses Grundsatzes gestützten Antrag auf Mehrwertsteuererstattung nicht einwenden kann, mit der gebotenen Sorgfalt auf die Entwicklung einer neuen Geräteart, die diese Kriterien nicht erfüllt, reagiert zu haben.
 Kosten
75      Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
1.      Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass es für die Feststellung einer Verletzung dieses Grundsatzes genügt, dass zwei aus der Sicht des Verbrauchers gleiche oder gleichartige Dienstleistungen, die dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden. Für die Annahme einer solchen Verletzung bedarf es also nicht dazu noch der Feststellung, dass die betreffenden Dienstleistungen tatsächlich in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen oder dass der Wettbewerb wegen dieser Ungleichbehandlung verzerrt ist.
2.      Werden zwei Glücksspiele hinsichtlich der Gewährung der Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ungleich behandelt, so ist der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass nicht zu berücksichtigen ist, dass diese beiden Glücksspiele zu unterschiedlichen Lizenzkategorien gehören und unterschiedlichen rechtlichen Regelungen hinsichtlich ihrer Aufsicht und Regulierung unterliegen.
3.      Bei der im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität vorzunehmenden Prüfung, ob zwei Arten von Geldspielautomaten gleichartig sind und die gleiche Behandlung hinsichtlich der Mehrwertsteuer erfordern, ist zu prüfen, ob die Benutzung dieser Gerätearten aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers vergleichbar ist und dieselben Bedürfnisse des Verbrauchers befriedigt, wobei insoweit insbesondere Gesichtspunkte wie die Mindest- und Höchsteinsätze und ‑gewinne und die Gewinnchancen berücksichtigt werden können.
4.      Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger, der die Verletzung dieses Grundsatzes geltend macht, nicht die Erstattung der für bestimmte Dienstleistungen entrichteten Mehrwertsteuer verlangen kann, wenn die Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats gleichartige Dienstleistungen in der Praxis wie steuerfreie Umsätze behandelt haben, obwohl diese Leistungen nach der einschlägigen nationalen Regelung nicht mehrwertsteuerfrei sind.
5.      Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der vom Ermessen nach Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388 Gebrauch gemacht und die Bereitstellung jeglicher Vorrichtungen zum Spielen von Glücksspielen von der Mehrwertsteuer befreit, von dieser Befreiung jedoch eine Kategorie von bestimmte Kriterien erfüllenden Geräten ausgenommen hat, gegen einen auf die Verletzung dieses Grundsatzes gestützten Antrag auf Mehrwertsteuererstattung nicht einwenden kann, mit der gebotenen Sorgfalt auf die Entwicklung einer neuen Geräteart, die diese Kriterien nicht erfüllt, reagiert zu haben.
Unterschriften

* Verfahrenssprache: Englisch.

EuGH: Vorlagefragen in der Rechtssache Biasci (Rs. C-660/11)
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale Amministrativo Regionale per la Toscana (Italien), eingereicht am 27. Dezember 2011 - Daniele Biasci u. a./Ministero dell'Interno und Questura di Livorno
(Rechtssache C-660/11)
Verfahrenssprache: Italienisch
Vorlegendes Gericht: Tribunale Amministrativo Regionale per la Toscana
Parteien des Ausgangsverfahrens
Kläger: Daniele Biasci, Alessandro Pasquini, Andrea Milianti, Gabriele Maggini, Elena Secenti, Gabriele Livi
Beklagte: Ministero dell'Interno und Questura di Livorno
Vorlagefragen

Sind die Art. 43 EG und 49 EG dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung wie der italienischen nach Art. 88 T.U.L.P.S. und Art. 2 Abs. 2b des Decreto-legge Nr. 40 vom 25. März 2010, umgewandelt in Gesetz Nr. 73/2010 grundsätzlich entgegenstehen? Nach Art. 88 T.U.L.P.S. kann "nur Personen, die Inhaber einer Konzession oder Genehmigung sind, die ihnen von Ministerien oder anderen Stellen, die nach dem Gesetz zur Veranstaltung und Verwaltung von Wetten befugt sind, erteilt worden ist, und Personen, die vom Inhaber der Konzession oder der Genehmigung aufgrund eben dieser Konzession oder dieser Genehmigung beauftragt sind, die Erlaubnis für die Annahme von Wetten erteilt werden", und nach Art. 2 Abs. 2b des Decreto-legge Nr. 40 ist "Art. 88 des [T.U.L.P.S.] nach dem Regio Decreto Nr. 773 vom 18. Juni 1931 in geänderter Fassung dahin auszulegen, dass die darin vorgesehene Erlaubnis, wenn sie für einen Geschäftsbetrieb erteilt wurde, in dessen Rahmen öffentliche Spiele mit Geldgewinnen durchgeführt und gesammelt werden, erst dann wirksam wird, wenn dem Inhaber dieses Betriebs die entsprechende Konzession für die Durchführung und das Sammeln solcher Spiele vom Ministero dell'economia e delle finanze - Amministrazione autonoma die monopoli di Stato erteilt worden ist"?

Sind die Art. 43 EG und 49 EG dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie Art. 38 Abs. 2 des Decreto-legge Nr. 223 vom 4. Juli 2006, umgewandelt in Gesetz Nr. 248/2006, grundsätzlich entgegenstehen, ...

Die Frage zur Vereinbarkeit von Art. 38 Abs. 2 mit den genannten gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen betrifft ausschließlich die Teile dieser Bestimmung, die Folgendes vorsehen: a) eine allgemeine Tendenz zum Schutz der Konzessionen, die vor der Änderung der Rechtsvorschriften erteilt wurden; b) die Verpflichtung, dass neue Annahmestellen nur in einer bestimmten Entfernung von den bereits bestehenden errichtet werden, was praktisch zur Aufrechterhaltung bereits bestehender Geschäftspositionen führen könnte. Die Frage betrifft außerdem die von der Amministrazione autonoma dei monopoli di Stato vorgetragene allgemeine Auslegung von Art. 38 Abs. 2 leg.cit., durch die in die Konzessionsvereinbarungen (Art. 23 Abs. 3) die bereits genannte Verfallsklausel für den Fall der unmittelbaren oder mittelbaren grenzüberschreitenden Ausübung vergleichbarer Tätigkeiten eingefügt wurde.

Ist, falls die Frage bejaht wird, d. h. wenn die in den vorhergehenden Randnummern angeführten nationalen Vorschriften für mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar erachtet werden, Art. 49 EG dahin auszulegen, dass im Fall einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs aus Gründen des Allgemeininteresses sicherheitshalber der Frage nachgegangen werden muss, ob diesem Allgemeininteresse nicht bereits durch die Vorschriften, Kontrollen und Überprüfungen, denen der Erbringer der Dienstleistungen im Niederlassungsstaat unterworfen ist, hinreichend Rechnung getragen wird?

Hat, falls die Frage im Sinne des im vorigen Absatz Ausgeführten bejaht wird, das vorlegende Gericht bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer gleichartigen Beschränkung den Umstand zu berücksichtigen, dass die im Staat der Niederlassung des Dienstleistungserbringers anzuwendenden Vorschriften Kontrollen gleicher oder sogar höherer Intensität vorsehen als im Staat, in dem die Dienstleistungen erbracht werden?

____________

1 - Es wird der Teil der Frage ausgelassen, der den vollständigen Text dieses im Amtsblatt der Italienischen Republik Nr. 153 vom 4. Juli 2006 bekannt gemachten Artikels wiedergibt.
- - -
Anmerkung: Der Präsident des EuGH hat mit Beschluss vom 23. Januar 2012 die Rechtssachen Biasci (Rs. C-660/11) und Rainone (Rs. C-8/12) zur gemeinsamen Verhandlung verbunden.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union


EuGH: Vorlagefragen in der Rechtssache Rainone (Rs. C-8/12)
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale Amministrativo Regionale per la Toscana (Italien), eingereicht am 2. Januar 2012 - Cristian Rainone u. a./Ministero dell'Interno u. a.
(Rechtssache C-8/12)
Verfahrenssprache: Italienisch
Vorlegendes Gericht: Tribunale Amministrativo Regionale per la Toscana
Parteien des Ausgangsverfahrens
Kläger: Cristian Rainone, Orentino Viviani, Miriam Befani
Beklagte: Ministero dell'Interno, Questura di Prato und Questura di Firenze
Vorlagefragen

Sind die Art. 43 EG und 49 EG dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung wie der italienischen nach Art. 88 T.U.L.P.S. und Art. 2 Abs. 2b des Decreto-legge Nr. 40 vom 25. März 2010, umgewandelt in Gesetz Nr. 73/2010 grundsätzlich entgegenstehen? Nach Art. 88 T.U.L.P.S. kann "nur Personen, die Inhaber einer Konzession oder Genehmigung sind, die ihnen von Ministerien oder anderen Stellen, die nach dem Gesetz zur Veranstaltung und Verwaltung von Wetten befugt sind, erteilt worden ist, und Personen, die vom Inhaber der Konzession oder der Genehmigung aufgrund eben dieser Konzession oder dieser Genehmigung beauftragt sind, die Erlaubnis für die Annahme von Wetten erteilt werden", und nach Art. 2 Abs. 2b des Decreto-legge Nr. 40 ist "Art. 88 des [T.U.L.P.S.] nach dem Regio Decreto Nr. 773 vom 18. Juni 1931 in geänderter Fassung dahin auszulegen, dass die darin vorgesehene Erlaubnis, wenn sie für einen Geschäftsbetrieb erteilt wurde, in dessen Rahmen öffentliche Spiele mit Geldgewinnen durchgeführt und gesammelt werden, erst dann wirksam wird, wenn dem Inhaber dieses Betriebs die entsprechende Konzession für die Durchführung und das Sammeln solcher Spiele vom Ministero dell'economia e delle finanze - Amministrazione autonoma die monopoli di Stato erteilt worden ist"?

Sind die Art. 43 EG und 49 EG dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie Art. 38 Abs. 2 des Decreto-legge Nr. 223 vom 4. Juli 2006, umgewandelt in Gesetz Nr. 248/2006, grundsätzlich entgegenstehen, wonach "Art. 1 Abs. 287 des Gesetzes Nr. 311 vom 30. Dezember 2004, ... durch Folgendes ersetzt [wird]:

‚287. Mit Verfügungen des Ministero dell'economia e delle finanze - Amministrazione autonoma dei monopoli di Stato werden die neuen Modalitäten für den Vertrieb von Spielen mit Ausnahme der Pferderennwetten unter Beachtung der folgenden Kriterien festgelegt:

...

l) die Festlegung der Modalitäten des Schutzes der Inhaber einer Konzession für das Sammeln von Wetten zu festen Sätzen auf der Grundlage anderer Ereignisse als Pferderennen, geregelt durch die Verordnung gemäß dem Dekret Nr. 111 des Ministers für Wirtschaft und Finanzen vom 1. März 2006.'"

Die Frage zur Vereinbarkeit von Art. 38 Abs. 2 mit den genannten gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen betrifft ausschließlich die Teile dieser Bestimmung, die Folgendes vorsehen: a) eine allgemeine Tendenz zum Schutz der Konzessionen, die vor der Änderung der Rechtsvorschriften erteilt wurden; b) die Verpflichtung, dass neue Annahmestellen nur in einer bestimmten Entfernung von den bereits bestehenden errichtet werden, was praktisch zur Aufrechterhaltung bereits bestehender Geschäftspositionen führen könnte. Die Frage betrifft außerdem die von der Amministrazione autonoma dei monopoli di Stato vorgetragene allgemeine Auslegung von Art. 38 Abs. 2 leg.cit., durch die in die Konzessionsvereinbarungen (Art. 23 Abs. 3) die bereits genannte Verfallsklausel für den Fall der unmittelbaren oder mittelbaren grenzüberschreitenden Ausübung vergleichbarer Tätigkeiten eingefügt wurde.

Ist, falls die Frage bejaht wird, d. h. wenn die in den vorhergehenden Randnummern angeführten nationalen Vorschriften für mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar erachtet werden, Art. 49 EG dahin auszulegen, dass im Fall einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs aus Gründen des Allgemeininteresses sicherheitshalber der Frage nachgegangen werden muss, ob diesem Allgemeininteresse nicht bereits durch die Vorschriften, Kontrollen und Überprüfungen, denen der Erbringer der Dienstleistungen im Niederlassungsstaat unterworfen ist, hinreichend Rechnung getragen wird?

Hat, falls die Frage im Sinne des im vorigen Absatz Ausgeführten bejaht wird, das vorlegende Gericht bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer gleichartigen Beschränkung den Umstand zu berücksichtigen, dass die im Staat der Niederlassung des Dienstleistungserbringers anzuwendenden Vorschriften Kontrollen gleicher oder sogar höherer Intensität vorsehen als im Staat, in dem die Dienstleistungen erbracht werden?

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union

EuGH: Vorlagefragen in der Rechtssache Banca Antoniana Popolare Veneta SpA (Rs. C-427/10)

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)
15. Dezember 2011(*)
„Mehrwertsteuer – Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuer – Nationale Regelung, nach der vor verschiedenen Gerichten Klage auf Erstattung einer Nichtschuld erhoben werden kann, wobei unterschiedliche Fristen gelten, je nachdem, ob es sich um den Empfänger oder den Erbringer von Dienstleistungen handelt – Für den Dienstleistungsempfänger bestehende Möglichkeit, vom Dienstleistungserbringer nach Ablauf der für diesen gegenüber der Finanzverwaltung geltenden Klagefrist die Erstattung der Steuer zu verlangen – Grundsatz der Effektivität“
In der Rechtssache C‑427/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Italien) mit Entscheidung vom 7. Juni 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 31. August 2010, in dem Verfahren
Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, incorporante la Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA,
gegen
Ministero dell’Economia e delle Finanze,
Agenzia delle Entrate
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts sowie der Richter E. Juhász, G. Arestis (Berichterstatter), T. von Danwitz und D. Šváby,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juni 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
–        der Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, incorporante la Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA, vertreten durch A. Fantozzi, R. Tieghi und R. Esposito, avvocati,
–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. De Bellis, avvocato dello Stato,
–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und C. Blaschke als Bevollmächtigte,
–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Hathaway als Bevollmächtigten im Beistand von P. Mantle, Barrister,
–        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Recchia und R. Lyal als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. September 2011
folgendes
Urteil
1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der Steuerneutralität, der Effektivität und der Nichtdiskriminierung in Bezug auf die Mehrwertsteuer.
2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, incorporante la Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA (im Folgenden: BAPV) einerseits und dem Ministero dell’Economia e delle Finanze und der Agenzia delle Entrate (im Folgenden zusammen: Steuerverwaltung) andererseits über deren Weigerung, BAPV nicht geschuldete Mehrwertsteuer zu erstatten, die auf die von BAPV erbrachte Leistungen der Einziehung von Verbandsbeiträgen erhoben wurde.
 Rechtlicher Rahmen
 Unionsrecht
3        Art. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) sah vor:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen:
1.      Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;
…“
4        Art. 13 Teil B Buchst. d Nrn. 2 und 3 dieser Richtlinie bestimmte:
„B. Sonstige Steuerbefreiungen
Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:
d)      die folgenden Umsätze:
      …
2.      die Vermittlung und die Übernahme von Verbindlichkeiten, Bürgschaften und anderen Sicherheiten und Garantien sowie die Verwaltung von Kreditsicherheiten durch die Kreditgeber,
3.      die Umsätze – einschließlich der Vermittlung – im Einlagengeschäft und Kontokorrentverkehr, im Zahlungs- und Überweisungsverkehr, im Geschäft mit Forderungen, Schecks und anderen Handelspapieren, mit Ausnahme der Einbeziehung von Forderungen.“
5        In Art. 13 Teil C Abs. 1 der Richtlinie heißt es:
„C.       Optionen
Die Mitgliedstaaten können ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, für eine Besteuerung zu optieren:
b)       bei den Umsätzen nach Teil B Buchstaben d) …“
6        Art. 21 („Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus“) Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388 lautete:
„Die Mehrwertsteuer schuldet
1.       im inneren Anwendungsbereich
a)      der Steuerpflichtige, der einen steuerpflichtigen Umsatz bewirkt, mit Ausnahme der in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e) genannten Umsätze, die von einem im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen erbracht werden. Wird der steuerpflichtige Umsatz durch einen im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen erbracht, so können die Mitgliedstaaten Regelungen treffen, nach denen die Steuer von einer anderen Person als dem im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen geschuldet wird. Als solche kann unter anderem ein Vertreter oder diejenige Person bezeichnet werden, für die der steuerpflichtige Umsatz bewirkt wurde. Die Mitgliedstaaten können außerdem bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerpflichtige die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat“.
 Nationales Recht
7        Art. 10 Abs. 5 des Dekrets des Präsidenten der Republik Nr. 633 vom 26. Oktober 1972 zur Einführung und Regelung der Mehrwertsteuer (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 1 vom 11. November 1972, S. 1, im Folgenden: DPR Nr. 633/72) bestimmt:
„Von der Steuer sind befreit:
5.       Umsätze in Bezug auf die Einziehung von Steuern einschließlich der Zahlung von Steuern für Rechnung der Steuerpflichtigen durch Unternehmen und Kreditinstitute nach besonderen gesetzlichen Bestimmungen“.
8        Art. 21 des Decreto legislativo Nr. 546 vom 31. Dezember 1992 mit Vorschriften über das abgabenrechtliche Verfahren in Ausübung der Befugnis der Regierung nach Art. 30 des Gesetzes Nr. 413 vom 30. Dezember 1991 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 8 vom 13. Januar 1993, S. 1) sieht vor:
„1.       Der Rechtsbehelf ist binnen 60 Tagen nach Zustellung des angefochtenen Rechtsakts einzulegen, andernfalls ist er unzulässig. Die Zustellung des Veranlagungsbescheids gilt auch als Bekanntgabe der Registereintragung.
2.       Der Rechtsbehelf gegen die stillschweigende Ablehnung der Erstattung nach Art. 19 Abs. 1 Buchst. g kann ab dem 90. Tag, der auf den Erstattungsantrag folgt, der innerhalb der im jeweiligen Steuergesetz festgesetzten Fristen eingereicht wurde, bis zur Verjährung des Erstattungsanspruchs eingelegt werden. Sofern nicht besondere Vorschriften etwas anderes bestimmen, kann der Erstattungsantrag binnen zwei Jahren nach erfolgter Zahlung oder Eintreten der Erstattungsvoraussetzungen gestellt werden, je nachdem, welcher Zeitpunkt der spätere ist.“
9        Art. 2033 des Zivilgesetzbuchs, der die objektive Nichtschuld regelt, lautet:
„Wer eine nichtgeschuldete Zahlung vorgenommen hat, hat das Recht, das zurückzufordern, was er bezahlt hat. Er hat außerdem Anrecht auf die Früchte und die Zinsen vom Tag der Zahlung an, wenn sich derjenige, der sie angenommen hat, in schlechtem Glauben befand, oder vom Tag der Anspruchserhebung an, wenn dieser gutgläubig gewesen ist (Art. 163 des Zivilverfahrensgesetzbuchs).“
10      Art. 2946 des Zivilgesetzbuchs regelt die ordentliche Verjährung:
„Abgesehen von den Fällen, in denen das Gesetz etwas anderes verfügt, erlöschen Ansprüche durch Verjährung nach Ablauf von zehn Jahren.“
11      Gemäß Art. 2935 des Zivilgesetzbuchs beginnt die Verjährung von jenem Tag an zu laufen, an dem das Recht geltend gemacht werden kann.
 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12      In den Jahren 1984 bis 1994 nahm BAPV für Rechnung dreier Verbände der Wasserbewirtschaftung – durch nationale und regionale Gesetze geregelte und mit der Ausführung öffentlicher Infrastrukturarbeiten beauftragte öffentliche Einrichtungen – die Einziehung von Verbandsbeiträgen vor, die von Verbandsmitgliedern geschuldet wurden. Die als Gegenleistung für diese Dienstleistungen erhaltenen Vergütungen unterlagen der Mehrwertsteuer, die BAPV auf die Verbände überwälzte. BAPV führte die Mehrwertsteuer nach den Gesetzesmodalitäten ordnungsgemäß an die Finanzverwaltung ab, da die Finanzverwaltung zu diesem Zeitpunkt der Ansicht war, die Tätigkeit der Einziehung von Verbandsbeiträgen falle nicht unter die in Art. 10 Abs. 5 des DPR Nr. 633/72 vorgesehene Befreiung.
13      Mit Rundschreiben vom 26. Februar 1999 teilte die Finanzverwaltung mit, dass sie ihre ursprüngliche Auslegung dieser Bestimmung ändere, und wies darauf hin, dass die Verbandsbeiträge steuerlicher Natur seien und die von den Verbänden für die Einziehung dieser Beiträge zu zahlenden Vergütungen daher als mehrwertsteuerfrei im Sinne von Art. 10 Abs. 5 des DPR Nr. 633/72 anzusehen seien.
14      Die Verbände der Wasserbewirtschaftung verlangten daher von der SIFER SpA, der Rechtsnachfolgerin von BAPV, die Erstattung der als Mehrwertsteuer auf diese Vergütungen geleisteten nicht geschuldeten Zahlungen unter dem Gesichtspunkt der objektiven Nichtschuld im Sinne von Art. 2033 des Zivilgesetzbuchs. Auf die Klage eines der Verbände vor dem Tribunale civile di Ferrara wurde BAPV zur Erstattung dieser Beträge verurteilt.
15      BAPV beantrage ihrerseits bei der Finanzverwaltung die Rückerstattung der Mehrwertsteuer in Höhe der Beträge, die von den Empfängern ihrer Dienstleistungen von ihr gefordert worden waren. Angesichts der stillschweigenden Ablehnung ihres Antrags erhob BAPV bei der Commissione tributaria provinciale di Roma drei verschiedene Klagen, denen stattgegeben wurde.
16      Die Finanzverwaltung legte jedoch gegen diese drei Entscheidungen Berufung ein, und die Commissione tributaria regionale del Lazio entschied nach Verbindung der Berufungsverfahren, dass der Erstattungsanspruch von BAPV verjährt sei, da ihr Erstattungsantrag nach Ablauf der in Art. 21 Abs. 2 des Decreto legislativo Nr. 546 vom 31. Dezember 1992 vorgesehenen besonderen Verjährungsfrist von zwei Jahren ab Zahlung der Mehrwertsteuer gestellt worden sei. In diesem Zusammenhang wies das Gericht darauf hin, dass diese Frist nicht vom Rundschreiben vom 26. Februar 1999 an habe laufen können.
17      BAPV legte gegen diese Entscheidung Kassationsbeschwerde bei der Corte suprema di cassazione ein.
18      Die Corte suprema di cassazione hat Zweifel, ob die nationale Verfahrensregelung mit den Leitprinzipien im Bereich der Mehrwertsteuer vereinbar ist, wenn sich aus dieser Regelung Fallkonstellationen wie die hier in Frage stehenden ergeben können, die auf eine grundsätzliche Versagung des Anspruchs auf Erstattung der nicht geschuldeten Mehrwertsteuer hinauslaufen. Denn BAPV, die die Mehrwertsteuer an die Finanzverwaltung abgeführt habe, sei aufgrund einer zivilgerichtlichen Entscheidung verpflichtet, diese Mehrwertsteuer der Person zu erstatten, die sie gezahlt habe, ohne eine Erstattung von Seiten der Finanzverwaltung erhalten zu können. Demnach machten die Verfahrensmodalitäten sowie die Vorschriften des materiellen Rechts über die Erstattung der nicht geschuldeten Steuer im Ergebnis die Wahrnehmung des Erstattungsanspruchs praktisch unmöglich.
19      Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1.      Stehen die Grundsätze der Effektivität, der Nichtdiskriminierung und der Steuerneutralität im Mehrwertsteuerbereich einer nationalen Regelung oder Praxis entgegen, die den Anspruch des Erwerbers/Dienstleistungsempfängers auf Erstattung der rechtsgrundlos gezahlten Mehrwertsteuer im Gegensatz zu dem Erstattungsanspruch, den der Hauptschuldner (Veräußerer/Dienstleistungserbringer) geltend macht, rückwirkend in einen Anspruch wegen objektiver Nichtschuld nach dem allgemeinen Recht umwandelt, wobei die zeitliche Begrenzung für den Ersteren erheblich länger ist als die für den Letzteren, so dass die Klage des Ersteren, die eingereicht wird, nachdem die Frist für den Letzteren abgelaufen ist, zu einer Verurteilung des Letzteren zur Erstattung der Mehrwertsteuer führen kann, ohne dass dieser die Erstattung von der Finanzverwaltung verlangen kann, und kein übergreifendes Instrumentarium vorgesehen ist, um Konflikten oder Widersprüchen zwischen Verfahren vorzubeugen, die bei den verschiedenen Gerichten eingeleitet oder noch einzuleiten sind?
2.      Ist – abgesehen von dem vorstehend genannten Fall – eine nationale Praxis oder Rechtsprechung mit den bereits angeführten Grundsätzen vereinbar, die zulässt, dass der Veräußerer/Dienstleistungserbringer verurteilt wird, dem Erwerber/Dienstleistungsempfänger die Mehrwertsteuer zu erstatten, der Erstere aber im Vertrauen auf eine in der Verwaltungspraxis befolgte Rechtsprechung, wonach der Umsatz mehrwertsteuerpflichtig war, nicht innerhalb der geltenden Fristen vor einem anderen Gericht Klage auf Erstattung eingereicht hatte?
 Zu den Vorlagefragen
 Zur ersten Frage
20      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Grundsätze der Effektivität, der Steuerneutralität und der Nichtdiskriminierung einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer Nichtschuld wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die eine spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage vorsieht, die kürzer als die für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld ist, so dass ein Dienstleistungsempfänger, der in dieser Weise gegen einen Dienstleistungserbringer klagt, die nicht geschuldete Mehrwertsteuer vom Dienstleistungserbringer erstattet erhalten könnte, ohne dass diesem seinerseits die Mehrwertsteuer von der Finanzverwaltung erstattet wird.
21      Zunächst ist festzustellen, dass der Gerichtshof den Grundsatz der Steuerneutralität bei der Feststellung, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung über Verjährungsfristen für Anträge auf Erstattung der Mehrwertsteuer entgegensteht, grundsätzlich nicht prüft (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 1998, SFI, C‑85/97, Slg. 1998, I‑7447, Randnrn. 22 bis 36, vom 11. Juli 2002, Marks & Spencer, C‑62/00, Slg. 2002, I‑6325, Randnrn. 22 bis 47, und vom 21. Januar 2010, Alstom Power Hydro, C‑472/08, Slg. 2010, I‑623, Randnrn. 14 bis 22).
22      Im Urteil vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken (C‑35/05, Slg. 2007, I‑2425, Randnr. 37), hat der Gerichtshof entschieden, dass es in Ermangelung einer Gemeinschaftsregelung über die Erstattung von zu Unrecht gezahlten Abgaben Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen zu regeln, unter denen eine solche Erstattung verlangt werden kann; diese Voraussetzungen müssen den Grundsätzen der Gleichwertigkeit und der Effektivität entsprechen, d. h., sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen.
23      In Randnr. 42 des Urteils Reemtsma Cigarettenfabriken hat der Gerichtshof entschieden, dass der Grundsatz der Effektivität nationalen Rechtsvorschriften, nach denen nur der Veräußerer/Dienstleistungserbringer einen Anspruch auf Erstattung von zu Unrecht als Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen gegen die Steuerbehörden hat und der Dienstleistungsempfänger eine zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung der Nichtschuld gegen diesen Veräußerer/Dienstleistungserbringer erheben kann, nicht entgegensteht.
24      Der Gerichtshof hat außerdem anerkannt, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit, die zugleich den Abgabepflichtigen und die Behörde schützt, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Solche Fristen sind nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. November 1998, Aprile, C‑228/96, Slg. 1998, I‑7141, Randnr. 19, und vom 30. Juni 2011, Meilicke u. a., C‑262/09, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 56).
25      Dies gilt auch bei einer Ausschlussfrist von zwei Jahren, da es diese Frist jedem durchschnittlich aufmerksamen Steuerpflichtigen grundsätzlich ermöglicht, die Rechte, die er aus der Unionsrechtsordnung ableitet, ordnungsgemäß geltend zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil Alstom Power Hydro, Randnrn. 20 und 21). Eine solche Feststellung gilt auch für eine Verjährungsfrist von zwei Jahren im Rahmen des Rechts auf Erstattung von zu Unrecht an die Finanzverwaltung gezahlter Mehrwertsteuer.
26      Der Gerichtshof hat außerdem festgestellt, dass der Grundsatz der Effektivität nicht verletzt ist, wenn für die Finanzverwaltung eine angeblich günstigere nationale Verjährungsfrist gilt als für den Einzelnen (Urteil vom 8. September 2011, Q‑Beef und Bosschaert, C‑89/10 und C‑96/10, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 42).
27      Folglich steht der Grundsatz der Effektivität einer besonderen Verjährungsfrist von zwei Jahren, innerhalb deren der Steuerpflichtige von der Finanzverwaltung die Erstattung der nicht geschuldeten Mehrwertsteuer verlangen kann, während die Verjährungsfrist für Klagen auf Rückerstattung einer objektiven Nichtschuld zwischen Einzelnen zehn Jahre beträgt, grundsätzlich nicht entgegen.
28      Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass, falls die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert wird, die Mitgliedstaaten zur Wahrung des Grundsatzes der Effektivität die erforderlichen Mittel vorsehen müssen, die es dem Dienstleistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen (Urteil Reemtsma Cigarettenfabriken, Randnr. 42).
29      Die gleichen Erwägungen müssen auch den Ausschlag geben, wenn die Unmöglichkeit oder übermäßige Schwierigkeit, die Erstattung der nicht geschuldeten Mehrwertsteuer zu erlangen, nicht den Dienstleistungsempfänger, sondern den Dienstleistungserbringer betrifft.
30      Aus der Rechtsprechung ergibt sich außerdem, dass der Grundsatz der Effektivität verletzt wäre, wenn der Steuerpflichtige weder einen Anspruch auf Erstattung der betreffenden Abgabe während seiner Klagefrist gegenüber der Finanzverwaltung noch nach einer von seinen Kunden nach Ablauf dieser Frist gegen ihn eingelegten Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld ein Rückgriffsrecht gegen die Finanzverwaltung gehabt hätte und als Steuerpflichtiger die Folgen der vom Staat zu verantwortenden rechtsgrundlosen Zahlung der Mehrwertsteuer allein hätte tragen müssen (vgl. entsprechend Urteil Q‑Beef und Bosschaert, Randnr. 43).
31      Auch ist bereits entschieden worden, dass sich eine nationale Behörde dann nicht auf den Ablauf einer angemessenen Verjährungsfrist berufen kann, wenn das Verhalten der nationalen Behörden in Verbindung mit einer Verjährungsfrist dem Betroffenen jede Möglichkeit nimmt, seine Rechte vor den nationalen Gerichten geltend zu machen (vgl. entsprechend Urteil Q‑Beef und Bosschaert, Randnr. 51).
32      Im Ausgangsverfahren ist zunächst festzustellen, dass es – wie die Europäische Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat – für BAPV insbesondere angesichts des Standpunkts der Finanzverwaltung, der nach den Angaben des vorlegenden Gerichts durch die nationale Rechtsprechung bestätigt wurde und wonach die von BAPV erbrachten Dienstleistungen vom Anwendungsbereich der in Art. 10 Abs. 5 des DPR Nr. 633/72 vorgesehenen Befreiung ausgeschlossen waren, unmöglich oder zumindest übermäßig erschwert gewesen wäre, mit einer innerhalb der Verjährungsfrist von zwei Jahren erhobenen Klage die Erstattung der in den Jahren 1984 bis 1994 gezahlten Mehrwertsteuer zu erwirken.
33      Sodann führt die vom vorlegenden Gericht und in der in Randnr. 16 des vorliegenden Urteils genannten gerichtlichen Entscheidung vorgenommene Auslegung, indem dem Rundschreiben vom 26. Februar 1999 Rückwirkung beigemessen wird, dazu, dass der Beginn des Fristenlaufs für Rückforderungsklagen auf den Zeitpunkt der Zahlung der Mehrwertsteuer zurückverlegt wird, was dem Dienstleistungserbringer angesichts der Verjährungsfrist von zwei Jahren für eine Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld, die ihm der Finanzverwaltung gegenüber offensteht, vollständig die Möglichkeit genommen hat, die zu Unrecht gezahlte Steuer zurückzuerhalten.
34      Schließlich ist unstreitig, dass die Verbände die Klage auf Rückerstattung der Nichtschuld nach Ablauf der besonderen Verjährungsfrist von zwei Jahren erhoben haben, über die BAPV nach der vorerwähnten gerichtlichen Auslegung ab der Zahlung der Mehrwertsteuer verfügte, um von der Finanzverwaltung Erstattung der zu Unrecht gezahlten Mehrwertsteuer zu verlangen.
35      Die Verbände haben die Klage auf Rückerstattung der Nichtschuld nämlich nach der Bekanntmachung des Rundschreibens vom 26. Februar 1999 erhoben, mit dem die Finanzverwaltung ihre Auslegung hinsichtlich der Art der im Ausgangsverfahren fraglichen Umsätze dahin geändert hat, dass sie sie seither als von der Mehrwertsteuer befreite Umsätze ansieht.
36      Daher ist festzustellen, dass BAPV in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren streitigen selbst die Zahlung der nicht geschuldeten Mehrwertsteuer trägt, ohne dass sie von der Finanzverwaltung wirksam deren Erstattung verlangen kann, weil die besondere Verjährungsfrist von zwei Jahren abgelaufen ist, und dies selbst wenn ihr eine solche Situation nicht angelastet werden kann, sondern diese darauf zurückzuführen ist, dass die Dienstleistungsempfänger aufgrund des Rundschreibens nach Ablauf dieser Verjährungsfrist Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld gegen BAPV erhoben haben.
37      In den vom vorlegenden Gericht übermittelten Unterlagen deutet nämlich nichts darauf hin, dass BAPV nicht wie ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer gehandelt hätte, indem sie die Einziehung der Verbandsbeiträge gegen Zahlung eines die Mehrwertsteuer umfassenden Preises vorgenommen und die Mehrwertsteuer an die Finanzverwaltung abgeliefert hat.
38      Dazu geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass BAPV die Einziehung der Verbandsbeiträge, die sie vorgenommen hat, nach der zum Zeitpunkt der Fakturierung dieser Umsätze gängigen Verwaltungspraxis zu Recht der Mehrwertsteuer unterzogen und diese Steuer ordnungsgemäß an die Finanzverwaltung abgeführt hat.
39      Die italienische Regierung hat jedoch vorgetragen, dass die Frage des rechtlichen Statuts dieser Umsätze in Bezug auf die Mehrwertsteuer seit einiger Zeit Gegenstand eines Meinungsstreits sei, so dass ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer auf die Beibehaltung der Mehrwertsteuerpflicht dieser Umsätze nicht habe vertrauen dürfen.
40      Es ist allerdings zu bemerken, dass erst mit dem Rundschreiben vom 26. Februar 1999 klar wurde, dass die Finanzverwaltung, die die mit der Anwendung des betreffenden Rechts betraute Verwaltungsbehörde ist, ausdrücklich bestätigt hat, dass die Verbandsbeiträge steuerlicher Natur seien und die von den Verbänden geschuldeten Vergütungen im Sinne von Art. 10 Abs. 5 des DPR Nr. 633/72 als von der Mehrwertsteuer befreit anzusehen seien. Demnach hat dieses Rundschreiben die Erhebung von Mehrwertsteuer auf die Einziehung dieser Beiträge rückwirkend in Frage gestellt.
41      In einer solchen Situation hat diese Verwaltung die besondere Situation der Wirtschaftsteilnehmer zu berücksichtigen und gegebenenfalls die Anwendung ihrer neuen rechtlichen Beurteilungen dieser Umsätze entsprechend anzupassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2009, Plantanol, C‑201/08, Slg. 2009, I‑8343, Randnr. 49).
42      Aus dem Vorstehenden ergibt sich daher, dass der Grundsatz der Effektivität einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer Nichtschuld, die eine längere Verjährungsfrist für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld, die der Dienstleistungsempfänger gegen den mehrwertsteuerpflichtigen Erbringer dieser Dienstleistungen erhebt, vorsieht als die spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage, die dieser Dienstleistungserbringer gegenüber der Finanzverwaltung erhebt, nicht entgegensteht, sofern dieser Steuerpflichtige die Erstattung der Steuer von der Finanzverwaltung tatsächlich verlangen kann. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn die Anwendung einer solchen Regelung zur Folge hat, dass dem Steuerpflichtigen das Recht, die nicht geschuldete Mehrwertsteuer, die er selbst dem Empfänger seiner Dienstleistungen erstatten musste, von der Finanzverwaltung zurückzuerhalten, vollständig genommen wird.
 Zur zweiten Frage
43      Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.
 Kosten
44      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Der Grundsatz der Effektivität steht einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer Nichtschuld, die eine längere Verjährungsfrist für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld, die der Dienstleistungsempfänger gegen den mehrwertsteuerpflichtigen Erbringer dieser Dienstleistungen erhebt, vorsieht als die spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage, die dieser Dienstleistungserbringer gegenüber der Finanzverwaltung erhebt, nicht entgegen, sofern dieser Steuerpflichtige die Erstattung der Steuer von der Finanzverwaltung tatsächlich verlangen kann. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn die Anwendung einer solchen Regelung zur Folge hat, dass dem Steuerpflichtigen das Recht, die nicht geschuldete Mehrwertsteuer, die er selbst dem Empfänger seiner Dienstleistungen erstatten musste, von der Finanzverwaltung zurückzuerhalten, vollständig genommen wird.
Unterschriften


URTEIL DES GERICHTSHOFES
9. Dezember 2003(1)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Gemeinschaftsrechtswidrige Auslegung eines nationalen Gesetzes durch die Rechtsprechung und die Verwaltungspraxis - Voraussetzungen für die Erstattung zu Unrecht gezahlter Beträge“
In der Rechtssache C-129/00
wegen Feststellung, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen hat, dass sie Artikel 29 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 428 vom 29. Dezember 1990 „Disposizioni per l'adempimento di obblighi derivanti dall'appartenenza dell'Italia alle Communità europee (legge comunitaria per il 1990)“ (Bestimmungen zur Erfüllung der Verpflichtungen infolge der Zugehörigkeit Italiens zu den Europäischen Gemeinschaften [Gemeinschaftsgesetz für 1990] - GURI Nr. 10 vom 12. Januar 1991, supplemento ordinario, S. 5) beibehalten hat, der nach der Auslegung und Anwendung durch die Verwaltung und die Gerichte eine Beweisregelung bezüglich der Abwälzung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben auf Dritte enthält, die die Ausübung des Rechts auf Erstattung solcher Abgaben für den Steuerpflichtigen praktisch unmöglich macht oder zumindest übermäßig erschwert, ........
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