Montag, 18. Juni 2018

EuGH-Urteil in der Rechtssache C-647/16, Hassan (Dublin-III-Verordnung)

Abschrift
Gerichtshof der Europäischen Union
PRESSEMITTEILUNG Nr. 76/18
Luxemburg, den 31. Mai 2018
Urteil in der Rechtssache C-647/16
Adil Hassan / Préfet du Pas-de-Calais
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Begibt sich eine Person in einen Mitgliedstaat, nachdem sie in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz beantragt hat, darf der erste Mitgliedstaat sie nicht in den zweiten Mitgliedstaat überstellen, bevor der zweite Mitgliedstaat dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben hat

Nachdem Herr Adil Hassan, ein irakischer Staatsangehöriger, in Deutschland internationalen Schutz beantragt hatte, begab er sich nach Frankreich, wo er vorläufig festgenommen wurde.
Daraufhin ersuchten die französischen Behörden die deutschen Behörden um Wiederaufnahme von Herrn Hassan und  beschlossen am selben Tag, ihn nach Deutschland zu überstellen. Die französischen Behörden waren nämlich der Ansicht, dass nach der Dublin-III-Verordnung1 Deutschland für die Bearbeitung des Antrags von Herrn Hassan auf internationalen Schutz zuständig sei,  da er dort einen solchen Antrag gestellt habe.  Herr Hassan hat die  Anordnung seiner Überstellung  nach Deutschland vor einem französischen Gericht angefochten.  Er macht insbesondere geltend, diese Entscheidung verstoße gegen die Dublin-III-Verordnung, da  sie erlassen und ihm zugestellt worden sei, bevor der ersuchte Mitgliedstaat (Deutschland) ausdrücklich  oder  stillschweigend auf das Gesuch der französischen Behörden um seine Wiederaufnahme geantwortet habe.

Das mit dieser Rechtssache befasste Tribunal administratif de Lille (Verwaltungsgericht Lille, Frankreich) möchte vom Gerichtshof wissen, ob  in diesem Kontext  die französischen Behörden eine Überstellungsentscheidung gegenüber Herrn Hassan erlassen und ihm zustellen  durften, bevor Deutschland diesem Wiederaufnahmegesuch ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt hat.

Mit seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass sich aus dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte und dem Ziel der Dublin-III-Verordnung  eindeutig ergibt, dass eine Überstellungsentscheidung  erst erlassen und  dem Betroffenen zugestellt werden  darf,  nachdem der ersuchte Mitgliedstaat seiner Wiederaufnahme stillschweigend oder ausdrücklich zugestimmt hat.

Der Gerichtshof weist insbesondere darauf hin, dass eine Person wie Herr Hassan gezwungen sein könnte, einen Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung einzulegen, noch bevor der ersuchte Mitgliedstaat auf das Wiederaufnahmegesuch geantwortet hat, obwohl ein solcher Rechtsbehelf  nur dann zum Tragen kommen kann, wenn der ersuchte Mitgliedstaat dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben hat.  Zudem könnte das Recht des Betroffenen auf einen wirksamen Rechtsbehelf  in seiner Tragweite  eingeschränkt sein,  da  die Überstellungsentscheidung nur auf die vom ersuchenden Mitgliedstaat  (hier:  Frankreich) gesammelten Beweise und Indizien gestützt wäre.  Dürften  der Erlass und die Zustellung einer Überstellungsentscheidung vor der Antwort des ersuchten Mitgliedstaats stattfinden, liefe dies in den Mitgliedstaaten, die keine Aussetzung  dieser  Entscheidung vor der Antwort des ersuchten Mitgliedstaats vorsehen, darauf hinaus, dass die betroffene Person dem Risiko ausgesetzt wäre, an den ersuchten Mitgliedstaat überstellt zu werden, bevor dieser der Überstellung grundsätzlich zugestimmt hat.

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1
 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31).

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HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
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Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Der Volltext des Urteils wird am Tag der Verkündung auf der Curia-Website veröffentlicht.
Pressekontakt: Hartmut Ost T (+352) 4303 3255

Quelle

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