Mittwoch, 8. Juni 2016

Als wahnsinnig abgestempelt - fragwürdige Gutachten in der Justiz?


Di, 7.6.2016 | 21:45 Uhr | Das Erste (ARD)
Do, 9.6.2016 | 05:30 Uhr | SWR Fernsehen

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Report Mainz


Wie unbequeme Kläger mit fragwürdigen Gutachten mundtot gemacht werden
Als wahnsinnig abgestempelt


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Kaum ein Gerichtsverfahren ohne Gutachter. Häufig geht es dabei auch um Fragen der Prozess- oder Schuldfähigkeit. Psychiater sollen klären, ob eine Geisteskrankheit oder Geistesstörung vorliegt. Für die Betroffenen kann so ein Gutachten das ganze Leben verändern.

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Lisa Hase ist sich sicher, Opfer zahnärztlicher Behandlungsfehler zu sein. Sie verklagt deshalb ihre Zahnärzte, fordert Schadenersatz. Im Prozess vor dem Landgericht Göttingen geht es dann plötzlich um ihren Geisteszustand. Die Richter benennen einen bestimmten psychiatrischen Gutachter. Der soll ihre Prozessfähigkeit überprüfen, also Feststellen, ob bei ihr eine Geistesstörung vorliegt.

Lisa Hase hat einen schweren Verdacht: Sie glaubt, dass man Sie so gezielt aus dem Prozess drängen wollte. Ist das möglich? Werden Gutachten gezielt eingesetzt, um den Ausgang eines Prozesses zu beeinflussen? Wir begeben uns auf eine Spurensuche.


Als wahnsinnig abgestempelt


Von Angst und Verunsicherung handelt auch unser nächstes Thema. Auch wenn wir im Allgemeinen mit großem Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat durchs Leben gehen, so kennt der Volksmund doch die Weisheit: Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.

Da schimmert der Zweifel durch, ob es in unseren Gerichten immer mit rechten Dingen zugeht. Der Justizskandal von Gustl Mollath, er scheint die Zweifler zu bestätigen.

REPORT MAINZ ist jetzt auf Fälle gestoßen, die zumindest den Verdacht nahelegen, dass so mancher Kläger vor Gericht mit dem Instrument "psychiatrische Begutachtung" mundtot gemacht wurde. Monika Anthes mit den Details.

Bericht:

In die Stadt gehen, den Alltag genießen, heute kann Lisa Hase das wieder. Lange Zeit war das nicht möglich. Eine Zahnbehandlung brachte ihr Leben aus den Fugen, erzählt sie uns:

O-Ton, Lisa Hase:

"In Folge einer kleinen prothetischen Versorgung, also es war eine Brücke, begannen Zahnschmerzen, die sich dann über das ganze Gebiss ausbreiteten. Und ich habe über viele Jahre unter starken Zahnmerzen gelitten, war mehrere Jahre berufsunfähig wegen Zahnschmerzen."

Sie ist sich sicher, Opfer von Behandlungsfehlern zu sein. Verklagt deshalb mehrere Zahnärzte. Sie verlangt Schadenersatz, Schmerzensgeld.

Das Verfahren am Landgericht in Göttingen zieht sich über Jahre. Eigentlich geht es um ihre Zähne. Doch 2009 interessiert sich das Gericht plötzlich für ihren Geisteszustand. Die Richter zweifeln an der "Prozessfähigkeit der Klägerin". Ein Gutachter soll prüfen, ob eine "Geistesstörung bzw. Geistesschwäche" vorliegt.

O-Ton, Lisa Hase:

"Da habe ich fürchterliche Angst gekriegt, also richtig fürchterliche Angst. Da bricht eine Welt zusammen. Sie hatten mich erlebt, die hatten überhaupt keinen Anhaltspunkt, dass ich da Unterstützung benötige. Ich hatte ganz klar den Eindruck, die wollten mich mundtot machen, die wollten, dass ich das Verfahren zurückziehe."

Wollte das Gericht die Klägerin tatsächlich unter Druck setzen, zur Aufgabe zwingen? Wir bitten um eine Stellungnahme, die lehnt das Gericht ab.

Universität Bielefeld, Juristische Fakultät. Hier lehrt Prof. Martin Schwab. Er beschäftigt sich in einem Forschungsprojekt mit krassen Fehlentscheidungen der Justiz. Im Rahmen dieses Projekts hat er auch den Fall von Lisa Hase intensiv studiert. Seine Einschätzung:
O-Ton, Prof. Martin Schwab, Jurist Universität Bielefeld:

"Der Beweisbeschluss, Frau Hase zu einer psychiatrischen Begutachtung zu schicken, hätte niemals ergehen dürfen. Die Richter haben sich den Akteninhalt fast schon zwanghaft so hingedreht, dass sie einen solchen Verdacht konstruieren. Ich kann es jedenfalls nicht ausschließen, dass Frau Hase hier mundtot gemacht werden sollte, es bleibt dieser schale Beigeschmack."

Zu diesem "schalen Beigeschmack" gehört auch eine Entdeckung, die Lisa Hase in ihrer Gerichtsakte macht. Zwischen Protokollen und Befunden stößt sie auf einen juristischen Fachartikel. Der Titel: "Die Prozessfähigkeit eines Querulanten im Verfahren."

Der Jurist kommt zum Fazit: "Es bleibt zu hoffen, das Rechtsanwälte häufiger versuchen, die Prozessunfähigkeit des Prozessgegners dazulegen. Dem Beklagten bliebe so viel Mühe erspart, das Gericht könnte einer harten Entscheidung aus dem Weg gehen."

Eine klare Empfehlung: Richter sollen psychiatrische Gutachter beauftragen. So können sie unliebsame Kläger loswerden, Verfahren verkürzen. Doch passiert das auch?

Das wollen wir von Frau Professor Ursula Gresser wissen. Die Medizinerin hat zur Beziehung zwischen Gerichten und Gutachtern geforscht. Im Rahmen einer Studie über 500 gerichtliche Gutachter befragt.

O-Ton, Prof. Ursula Gresser, Ludwig-Maximilians-Universität München:

"Die haben uns ganz klar geschrieben, die Richter holen sich den Gutachter, der ihnen eine klare Aussage macht, und sie nehmen halt immer wieder den gleichen, wenn sie merken, sie kriegen die Ergebnisse, die sie gerne haben."

Die Daten zeigen: Vor allem Psychologen sind sehr oft wirtschaftlich auf die Gutachteraufträge von Gerichten angewiesen. Und 45 Prozent der psychologischen Gutachter geben an, schon mal vom Gericht eine Tendenz erhalten zu haben, wie das Gutachten ausfallen sollte.

Zurück zu Lisa Hase. Das Gericht verlangt, dass die Göttingerin sich von einem Psychiater im über 200 Kilometer entfernten Winsen bei Lüneburg begutachten lässt.

Einer ihrer Richter war früher in Lüneburg tätig, das macht sie misstrauisch.

O-Ton, Lisa Hase:

"Ich hatte schon den Verdacht, dass er diesen Gutachter gezielt ausgesucht hatte und nicht zufällig."

Wer ist dieser Gutachter, Christian R.? Wir begeben uns auf eine Spurensuche. In der Nähe von Lüneburg sind wir mit Antje Trigo und Karin Wagner verabredet. Sie kennen den Gutachter, machen uns auf einen Betreuungsskandal aufmerksam.

Lokale Zeitungen und auch Report München haben darüber berichtet: Zahlreiche wohlhabende Senioren, wie Ursula Cordts, wurden mit Hilfe eines Gutachtens von Christian R. zwangsweise unter Betreuung gestellt, ihr ganzes Hab und Gut verkauft.

Nach der Fernsehsendung meldeten sich zahlreiche Betroffene bei den beiden Frauen.

O-Ton, Karin Wagner:

"Dann haben wir einfach gemerkt, dass das immer wieder der Herr R. ist. Das fiel uns auf, der Name."

O-Ton, Antje Trigo:

"Er war ein Gefälligkeitsgutachter, denn alle Richter, bin ich der Meinung, die jemanden brauchten, wo ein Gutachten für den Betreuer oder für das Gericht ist, wurde ja R. immer gerufen."

Die Rentner, die von den beiden Frauen betreut wurden, sind mittlerweile verstorben und auch der Psychiater lebt nicht mehr. Doch seine Gutachten wirken nach, bis heute.

Ein kleines Dorf in der Nähe von Lüneburg. Nur wenige alte Gehöfte und mitten drin das Haus der Familie Weißer. Uwe Weißer hatte immer wieder Ärger mit einigen Dorfbewohnern. Der Streit wird handgreiflich. Uwe Weißer wird angeklagt wegen Körperverletzung.

Das Amtsgericht Lüneburg beauftragt auch in diesem Fall den Gutachter Christian R. Er soll den Geisteszustand von Uwe Weißer, seine Schuldunfähigkeit, direkt im Gerichtssaal beurteilen.

O-Ton, Uwe Weißer:

"Daraufin kriegte Christian R. ein Signal, sprang auf und machte ein Spontangutachten. Das heißt, so fünf-sechs Sätze, ja der ist sowieso geisteskrank, kann man nicht helfen, ja, schuldunfähig."

Er zeigt uns das Gerichtsprotokoll. Das mündliche Gutachten umfasst darin nur wenige Sätze. Demnach erklärt der Gutachter:

Zitat:

"Ich stelle eine nazistische, paranoide und querulatorische Persönlichkeitsstörung fest."

Kurz darauf ergeht das Urteil. Er wird freigesprochen, doch seitdem gilt er als schuldunfähiger Querulant, bis heute. Uwe Weißer übergibt uns seine Akten. Sie zeigen, wie sehr er seit Jahren für seine Rehabilitierung kämpft.

Darin ein Attest der Charité. Die Ärzte dort können keine Persönlichkeitsstörung feststellen, erklären, dass das Gutachten von Christian R. mangelhaft sei. Doch all das hilft nichts.

Und Lisa Hase? Sie konnte die Begutachtung durch Christian R. verhindern. Eine andere Gutachterin bescheinigte ihr völlige geistige Gesundheit. Doch sie will die Sache nicht auf sich beruhen lassen, hat Dienstaufsichtsbeschwerde eingelegt, Petitionen im Landtag eingereicht.

Wir bitten die niedersächsische Justizministerin um ein Interview zu diesen Fällen. Doch das lehnt sie ab. Schriftlich erklärt sie, im Fall Lisa Hase sei eine rechtliche Bewertung nicht möglich, aufgrund der garantierten Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern.

Mit den Anliegen von Uwe Weißer habe man sich befasst. Anhaltspunkte für einen unsachgemäßen Umgang seien nicht erkennbar.

O-Ton, Prof. Martin Schwab, Jurist Universität Bielefeld:

"Wenn ich Justizminister von Niedersachsen wäre und mir dieser Fall mit sämtlichen, auch subjektiven Begleiterscheinungen vorgetragen würde, würde ich mich in der Pflicht sehen, hier dienstaufsichtlich tätig zu werden."
O-Ton, Lisa Hase:

"Wenn Richter sich nicht an Recht und Gesetz halten müssen, dann sind sie eine absolute Gefahr für die Menschen."

Abmoderation Fritz Frey:

Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich momentan mit dem sogenannten Sachverständigenrecht. Als Grund für diesen Gesetzesentwurf wird auch die mitunter mangelnde Qualität von medizinischen Gutachten beklagt, die auf – ich zitiere – "eine fehlerhafte Auswahl der Sachverständigen durch die Gerichte" zurückzuführen sei.

Das Problem also ist durchaus bekannt. Zu diesem Thema unter reportmainz.de auch ein Gespräch mit unserer Autorin.

Stand: 8.6.2016, 10.35 Uhr

Kommentare: .........
Gefälligkeitsgutachten eher Regel als Ausnahme (Dr. Hans Doepner) 08.06.2016, 00:53
Report Mainz hat seit Jahren immer wieder und absolut zu Recht auf übelst unseriöse "Gutachten" hingewiesen. Diese ruinieren leichtfertig und oft vorsätzlich Leben, lernen will Justizia aus Fällen wie Kachelmann, Mollath oder Wörtz wohl nicht. Danke an Report Mainz für die hartnäckige Recherche. Geändert hat sich bis dato nichts. Vom neuen Gesetzentwurf ist nicts zu erwarten, es schreiben die Gutachter die Regeln gerade mit. Es ist ein System der maximalen Bequemlichkeit entstanden, bei dem es anscheinend nicht mehr um Wahrheitsfindung, sondern nur noch um einfache Arbeit und Abfertigung geht. Zumindest im Bereich Familiengericht sind fast alle "Gutachten" derart desolat, in jeder Hinsicht, dass es ausnahmslos jeder Richter und jeder Jugendamtsmitarbeiter erkennnen kann und muss und alles sofort verwerfen müsste. Ich mache der (Familien)Justiz daher den Vorwurf, praktisch flächendeckend unseriöse Gutachten zu initiieren und zu dulden. Eine Gegenwehr ist de facto unmöglich. Weder der Rechtsweg noch die Befangenheitsablehnung noch die Dienstaufsichtsbeschwerde sind gangbare "Rechtsmittel". Nicht jeder Richter weiss das Geschenk der "richterlichen Unabhängigkeit" zu würdigen. Für Schlamperei, mangelndes Interesse und die Arbeit mit Pseudogutachten ist dieses Privileg sicher nicht gedacht gewesen. Im besten Fall genügt Justiz sich selbst, Manus manum lavat. Bisweilen habe ich aber eher den Eindruck, es ist ein Staat im Staat geworden, der nicht mehr auf dem Boden der Verfassung steht und die besten Möglichkeiten zum Betrug hat. Etwa im Betreuungsrecht. Zu Einzelheiten Familiengerichtlicher Verfahren und der Problematik flächendeckend unseriöser Gutachten siehe mehr unter www.gustav.es.

Quelle

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